Vor einigen Jahren wurden billige, kleine, digitale Kameras auf den Markt geworfen, die nicht mit einem eigenen Speichermedium ausgestattet waren und deren Aufnahmen deshalb direkt in den Computer eingespeist wurden. Eine junge Amerikanerin namens Jennifer Ringley machte im April 1996 damit Furore, daß sie eine solche Kamera in ihrer Wohnung installierte und die Bilder unzensiert ins Web stellte. Sie wollte allen Interessierten einen möglichst lückenlosen und kostenfreien Einblick in ihre Privatsphäre ermöglichen. Die JenniCam war geboren, die erste indoor girl cam der Netzgeschichte. Einige andere Frauen taten es Jennifer nach.
Doch auch für die Webcam gilt das seit Douglas Coupland geflügelte Wort: Seit sie bei einem Majorlabel ist, ist sie auch nicht mehr das, was sie mal war. Das Konzept "Webcam im privatesten Bereich" findet sich heute nur noch in professionalisierter und kommerzialisierter Form entweder auf pornographischen Seiten im Internet oder – im TV zu Erfolg gekommen – bei Big Brother wieder. Während die Pornoindustrie die erotischen Implikationen des Settings vermarktet, verkauft Big Brother das Vergnügen, 'ganz normalen Menschen' beim Spülen, Streiten und Nägelschneiden zuzuschauen. Vor aller Vermarktung aber scheint es einen kurzen Zeitraum gegeben zu haben, in dem sich mittels der private webcam auf Seiten der Frauen, die beschlossen, eine Kamera auf sich zu richten, ein Bedürfnis formulieren ließ: das Bedürfnis, sich rund um die Uhr von fremden Menschen/Männern bei all seinen privaten Verrichtungen beobachten zu lassen. Mit der aktiven Einlösung dieses Bedürfnisses stießen die Frauen freilich auf Unverständnis. Wohl weniger wegen der voyeuristischen Bedürfnisse, die sie damit befriedigten, schon eher wegen ihres eigenen exhibitionistischen Genießens, in der Hauptsache aber aufgrund der selbstgewählten, exzessiven Vermischung von privater und öffentlicher Sphäre. Ein zweifelhaftes Vergnügen, ein perverses Genießen! Hier ein Versuch dem nachzuspüren:
Zunächst einmal gilt es, folgenden Slogan ernst zu nehmen: "Du bist nicht allein!" Dieses Versprechen ist geradezu ein Urversprechen. Es wird uns von solchen Instanzen wie Vater und Mutter, dem lieben Gott oder dem panoptischen System gegeben: Sie alle lassen uns nicht allein. Wo sie sich auch befinden mögen, im Nebenzimmer, im Himmel oder in der gesellschaftlichen Struktur: Sie alle haben ein Auge auf uns. Das Auge aber ist immer schon beides, ein Instrument der liebevollen, aufmerksamen Sorge einerseits, der strengen, kontrollierenden Überwachung andererseits. Diese Dopplung ist in jeder der genannten 'Augen-Instanzen' enthalten und in dieser Dopplung werden sie von uns notwendig internalisiert. Wir selbst lassen uns nicht mehr aus den Augen, unserem wachsamen, inneren Blick entgeht nichts, streng und sorgenvoll zugleich betrachten wir uns selbst.
Im Dispositiv der Webcam, die den eigenen Privatbereich einer unsichtbaren, undefinierten, äußeren Masse sichtbar macht, kommt also ein grundlegendes, gesellschaftliches Motiv zur Gerinnung. Dieses bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Drohung und Unterdrückung einerseits, Zuwendung und Ermächtigung andererseits.1 Das Setting, das die private Webcam kreiert, befreit, zumindest imaginär und für den Moment, von der unglaublichen Anstrengung der Selbstüberwachung und ermöglicht vorübergehend den regressiven Genuß eines tröstlichen, behüteten Zustands, in dem andere noch über uns wachten, uns niemals allein, niemals ohne Aufsicht ließen. Jennifer antwortet auf die FAQ "Why did you start JenniCam?" wie folgt:
"It was intended to be a fun way my mom or friends could keep tabs on me."2
Die Webcam als Licht in der Steckdose, als visuelles Babyphon, als beruhigendes Zeichen eines guten, virtuell anwesenden Außen.
Auf der anderen Seite der Webcam sitzt (neben mom or friends) eine diffuse, eine abstrakte Menge, eine 'Öffentlichkeit', die Einblick nimmt in den privaten Raum. Solange diese Öffentlichkeit so undefinierbar bleibt, ist sie bestens geeignet für das Phantasma des wohlwollend blickenden Außen. Wenn der einzelne Zuschauer 'sichtbar' wird, der einzelne User sich über chats oder mails bemerkbar macht, dann also, wenn eine Beziehung entsteht, gerät das Konstrukt ins Wanken. Plötzlich weiß ich um den konkreten, realen Anderen, der mir zusieht, der seine eigenen Wünsche im Setting unterbringt. Wird nicht erst jetzt, da ich weiß, wer mich anschaut, die Grenze überschritten, wird nicht erst jetzt das Private wirklich privat? Vielleicht ist genau das der Moment, in dem die Exploitation ins Spiel kommt, die dann über den Kommunikationsmedium Geld bearbeitet wird, um die notwendige Distanz wiedererlangen zu können.3 Es ist also der Moment der Pornographisierung.
Wie schon bei den Phänomenen Masochismus und Sadismus würde man der je spezifischen, komplexen Struktur des Voyeurismus und Exhibitionismus nicht gerecht werden, würde man sie nur als Komplemente begreifen. Der Voyeurismus des (männlichen) Zuschauers, der in den Diskursen über den medial vermittelten Blick ins Private eine zentrale Rolle spielt, wird durch die Schlüssellochstruktur der Girl Cam nahe gelegt. Der exhibitionistische Genuß der Frauen vor der Kamera, scheint sich nicht allein aus der Erotik des Angeschautwerdens zu speisen. Im Gegenteil, die erotische Aufladung/Sexualisierung wird geradezu hartnäckig von außen an die Szenerie herangetragen, z.B. wenn auf seiten des Publikums eine Strip Show gefordert oder der Vorwurf der Pornographie erhoben wird. Für den Zuschauer ist die Versicherung, daß er ganz gezielt in ein erotisches Spiel eingebunden wird, offenbar eine unerläßliche Basis für sein voyeuristisches Schauen, möglicherweise aber auch eine Legitimation für die exhibitionistische Lust der Frau, der sie selbst eine Bühne geschaffen hat. Während also die Bilder von schlafenden, essenden, mit den Katzen spielenden, aufräumenden oder gar abwesenden jungen Frauen vom User erotisch belegt und 'bearbeitet' werden können, sind diese Situationen nicht unbedingt Teil einer erotischen Inszenierung seitens der Frau. Wenn sich Jenni bspw. von Zeit zu Zeit genüßlich auf die Erotik-Bühne begibt, sich also dieser Funktion der Webcam bedient, sieht das eher so aus:
"To add spice she occasionally wears high heels, garter belts and does live strip shows."4
Was aber ist das für ein Genießen, das sich die Frau vor der Kamera verschafft, wenn sie Bilder von sich auf tausende Bildschirme sendet, nicht erotisch gemeinte Bilder, auf denen sie beim Bügeln, Fernsehen oder Zähne putzen zu sehen ist? Genau diese Bilder sind es doch, die den allergrößten Teil der Aufnahmen ausmachen. Hierzu noch einmal Jenni:
"This site (damit meint sie ihre JenniCam-site) is not pornography. Yes, it contains nudity from time to time. Real life contains nudity. Yes, it contains sexual material from time to time. Real life contains sexual material. However, this is not a site about nudity and sexual material. It is a site about real life."5
Und das "wirkliche Leben" ist tatsächlich sensationell. All die Reproduktionstätigkeiten, die im Privaten geleistet werden, wie essen, schlafen, duschen, auf dem Sofa abhängen, haben eine stark leibliche Komponente; sie werden als körperliche Sensationen wahrgenommen. Sensationen aber waren schon immer dazu da, dokumentiert und einer Öffentlichkeit zugeführt zu werden. Genauso verhält es sich mit Ereignissen wie Wäsche waschen oder kochen: Solche Events sind es wert, publik gemacht zu werden, denn das Subjekt hat sich nie nur zum eigenen Vergnügen reproduziert, sondern immer auch für die Gesellschaft. Das "wirkliche Leben" wird einerseits radikal subjektiv empfunden, bringt aber andererseits das Allgemeinste auf den Begriff. Das subjektiv Sensationellste ist demnach immer gleichzeitig das Banalste, einfach weil es jeder kennt. Dieser Banalität versichert sich der Zuschauer gerne; die Angeschaute empfindet sich gerne als Teil von ihr, um sicher zu gehen (denn ganz sicher ist man sich nie), daß das eigene Empfinden kein Einsames, Pathologisches ist. Solange man banal ist, ist man am Leben. Nach Stanley Cavell bearbeitet man die Angst vor dem Tod, wenn man sich per (Fernseh)Monitor des "wirklichen Lebens" da draußen versichert, warum sollte das nicht auch umgekehrt gelten, daß die sich ihres Daseins versichern, die Bilder von sich auf Monitore senden.
Frauen haben ein spezielles Verhältnis zur Sichtbarkeit. Sie sind nicht sichtbar. Die Frau repräsentiert höchstens etwas, z.B. die Sphäre des Privaten. Sichtbar aber ist sie darin nicht. Sie ist ein ewiges Rätsel, auch sich selbst. Eine Kamera auf sich zu richten, kann als Akt der Sichtbarmachung des "wirklichen Lebens" der "wirklichen Frau" verstanden werden. Denn wer glaubt schon, daß Mädchen kacken, onanieren, häßliche Füße haben, und sich vor Menstruationsschmerzen krümmen? Über die letzten beiden Häßlichkeiten berichtet Charlotte Roche, eine weitere Frau vor der Kamera, allerdings als Moderatorin bei VIVA2, mit einer solchen Hingabe, daß man sich an Enthüllungsjournalismus erinnert fühlt. Die Frau, das unbekannte Wesen – damit ist nun Schluß, jetzt wird schonungslos aufgedeckt, aufgeklärt, jetzt wird alles verraten, alles gezeigt, bis nichts mehr übrig ist, vom Rätsel. Das Spiel wird verdorben.
Vielleicht hat in diesem Sinne Baudrillards These, daß der Mensch sich mittels solcher Techniken wie Kamera/Monitor immer nur an sich selbst anschließe, für die Frau eine besondere Bedeutung. Neben der Implikation eines beobachtenden Außen, zeichnet sich das Setting der private webcam tatsächlich durch eine eigentümliche Selbstbezüglichkeit aus. Zwischen der Person vor dem Objektiv und der Kamera/dem Monitor läßt sich eine zirkuläre Bewegung konstatieren; Person und Technik beziehen sich in einem gemeinsamen Raum wechselseitig aufeinander. Diese Struktur der Selbstkonnektion schließt das Eindringen äußerer Bilder aus, und ermöglicht stattdessen, sich im eigenen Bilduniversum aufzuhalten. Eine unendliche Vervielfachung des eigenen Bildes steht der Reproduktion des Bildes der Frau gegenüber. Die Kamera löst den Spiegel ab. Im Spiegel sieht sie sich einem narzißtischen Imaginären gegenüber, dem es gilt, hinterherzulaufen, in der Kamera reflektiert die Frau sich selbst tausendfach. "Das Videostadium hat das Spiegelstadium abgelöst", sagt Baudrillard. Er macht dabei nicht den Eindruck, als fände er das gut.
Anmerkung der Redaktion: Die Website jennicam.org ging 2003 offline.
http://www.startingpage.com/html/jennicam.html
http://www.techtv.com/internettonight/hotcams/story/0,23008,2105055,00.html
Baudrillard, Jean (1989) Videowelt und fraktales Subjekt. In: Ars Electronica (Hg.) Philosophien der neuen Technologie. Berlin.
Cavell, Stanley (1984) The Fact of Television. In: ders. Themes out of School. Chicago, S.235-268.
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