Mit TOUKI BOUKI denken und handeln
Im März 2018 veröffentlichte Beyoncé auf ihrem Instragram Account die Ankündigung ihrer gemeinsamen Tour mit Jay Z, On the Run II. Die Ankündigung der Carters besteht aus einem Videoclip, der von zwei Fotos gerahmt wird. Das erste Foto zeigt Jay Z und Beyoncé auf einem mit Zebuhörnern geschmückten Motorrad, Beyoncé steht hinter Jay Z, ihr nackter Körper wird von seinem in Schwarz gekleideten verdeckt. (Abb. 1). Dieses Motiv wird am Ende des 45 Sekunden dauernden Clips, der mit dem Reggae-Song I’m still in love with you, boy der jamaikanischen Sängerin Marcia Aitken aus dem Jahr 1977 unterlegt ist, wieder aufgegriffen (Clip 1). Das zweite Foto zeigt ein verlassen wirkendes Auto mit geöffneter Tür, dass das Motiv der Flucht aufruft (Abb. 2).
In kürzester Zeit hatte die Netzgemeinde herausgefunden, was hier erinnert wird: der als Klassiker des afrikanischen bzw. des Weltkinos rezipierte Film TOUKI BOUKI des senegalesischen Filmemachers Djibril Diop Mambéty aus dem Jahr 1973.1 Wie ist diese Remediation über ihre Funktion im Rahmen einer Werbekampagne hinaus zu verstehen? Was sagt das Aufgreifen TOUKI BOUKIS im Kontext gegenwärtiger digitaler Medienpraktiken aus? Welche Potentiale entfalten sich durch diese Bezugnahme?
Diesen Fragen werde ich ausgehend von der Remediation TOUKI BOUKIS in der Tourankündigung von The Carters folgen. Dabei soll gezeigt werden, dass das anti- bzw. postkoloniale Kino2 als Vorgeschichte aktueller digitale Medienpraktiken verstanden werden kann und zwar in doppelter Hinsicht: einerseits im Hinblick auf die im Rahmen der trikontinentalen Bewegung des Dritten Kinos etablierten Praktiken der Produktion und Distribution bzw. Zirkulation der Filme und andererseits im Hinblick auf die Poetiken der (Afro-)Fabulation (vgl. Deleuze 1991; Nyong’o 2014, 2019), die in TOUKI BOUKI von zentraler Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund rücken die Verschiebungen, die sich in den Aktualisierungen und Remediationen ereignen, in den Blick und es wird nach dem Verhältnis von digitalen Praktiken und (Afro)-Fabulationen gefragt.
Die Instagram-Ankündigung ebenso wie das Tourplakat (Abb. 3) zitieren nicht nur das Plakat des Films (Abb. 4), sondern vor allem die Szene, die den Beginn der Reise von Mory (Magaye Niang) und Anta (Mareme Niang), dem Liebespaar, dessen Geschichten der Film erzählt, zeigt. Sie hatten gerade Sex am Meer und im Anschluss hat Mory vorgeschlagen, gemeinsam das nächste Schiff nach Europa zu nehmen (Clip 2): Der Plan ist, als blinde Passagiere zu reisen und den Leuten auf dem Schiff etwas vorzuspielen: sie brauchen nur Geld und schicke Klamotten. Und wenn sie zurückkehren, werden sie angesehene Leute sein. TOUKI BOUKI heißt auf Wolof „die Reise der Hyäne“ und der Film erzählt von den verschiedenen kleinkriminellen Versuchen des Paars, an Geld und Kleider zu kommen. Am Ende tritt Anta die Reise allein an, während Mory sich kurzerhand umentscheidet und in Dakar bleibt.
Die Fluchtlinie des Films ist Paris, wie der sich im Film wiederholende Gesang von Josephine Baker unschwer erkennen lässt.3 Der Sound durchdringt aber auch den Raum und markiert diesen als einen postkolonialen, der eine besondere Beziehung zu Paris unterhält. Der Wunsch zu ‚fliehen’, deutet auf die politischen und ökonomischen Probleme Senegals ein Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit von Frankreich, die sich in den (Bild-)Bewegungen durch Dakar teils atmosphärisch und teils sehr konkret entfalten. Auch die Tour der Carters hat Paris als Fluchtlinie, wie das zu Beginn der Tour veröffentlichte Video zu ihrem Song Apeshit (Clip 3), das vollständig im Pariser Louvre spielt, unschwer erkennen lässt.
Der Verweis auf TOUKI BOUKI aktualisiert das bereits von The Carters etablierte Beziehungsnarrativ: On The Run, die erste gemeinsame Tour 2014, deren Name sich auf den 2013 veröffentlichten Song Part II (On the Run) von Jay Z bezog, griff auf dem Tourplakat das Motiv des Liebespaars auf der Flucht auf (Abb. 5). Jay Z und Beyoncé hatten dieses bereits 2002 mit ihrem ersten gemeinsamen Song 03 Bonnie & Clyde und folglich mit Zitat von Arthur Penns gleichnamigen New Hollywood-Film von 1967 eingeführt. Die Tour wurde wiederum mit einem Fake-Film-Trailer Run (Clip 4) angekündigt, in dem das Motiv des Paars auf der Flucht mit dem Motorrad auftaucht. Während zur Ankündigung von OTR noch ‚traditionelle’ Medienkanäle genutzt wurden, wurde OTR II ausschließlich über soziale Medien, genauer ausschließlich über Beyoncés Instagram-Account und YouTube-Kanal beworben, bevor die Ankündigungen auch von Jay Z geteilt wurden. Das Album erschien exklusiv auf Jay Z’s Streamingdienst ‚Tidal‘. Als „digital star“ (Harvey 2017: 116) beherrscht Beyoncé die Klaviatur des „Instafames“ (Marwick 2015) perfekt. Die parasozialen Beziehungen, die das Verhältnis zwischen Stars und Fans schon immer ausgemacht haben (Rehberg/Weingart 2017: 15), erfahren hier eine qualitative Verschiebung: Aufgrund der Möglichkeit der Interaktion sind sie potentiell „sozial“ und intensivieren die emotionale Bindung (Marwick 2015: 139). Während ‚Instagram‘ meist im Hinblick auf die Möglichkeit der Generierung von Celebrities analysiert wurde, haben wir es hier mit einer Umkehrung zu tun. Beyoncé nutzt die Möglichkeiten des Bilder-Teilens, um eine scheinbar unmittelbare Beziehung zu ihren Fans zu schaffen, die ihre geposteten Fotos und Clips, die gerade keine mit dem Smartphone geschossenen Selfies sind und direkt hochgeladen wurden, kommentieren und vor allem ‚liken‘ können. Auch die Tourankündigung ist vermutlich das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit einer professionellen Art Direktor_in, allerdings ohne, dass der Name der Person, die diese produziert hat, zu finden wäre. Die angebliche Intimität, die Instagram generiert, wird in der, wie es Maisha Auma genannt hat, „digital diaspora“ (Eggers 2014) noch intensiviert. Wie schon frühere „Intimate Publics“ sind auch die digitalen warenförmig und kommen dadurch zustande, dass sich ein Markt einer spezifischen Gruppe von Konsument_innen öffnet und suggeriert, ihre Wünsche und Interessen auszudrücken (Berlant 2008: 5) – eine ‚intime Öffentlichkeit‘ so fasst Lauren Berlant ihren Begriff zusammen, „(...) flourishes as a porous, affective scene of identification among strangers that promises a certain experience of belonging and provides a complex of consolation, confirmation, discipline, and discussion about to live as an x.“ (Berlant 2008: viii).
Die Geste nun, TOUKI BOUKI, der selbst mit BONNIE AND CLYDE (USA 1967) ebenso wie mit PIERROT LE FOU (F 1964) verglichen wurde, zu zitieren und sich damit unverkennbar in die in der Schwarzen Geschichte wichtige Bewegung nach Paris einzuschreiben – Paris als Exil afrodiasporischer wie afrikanischer Künstler_innen, Theoretiker_innen und Politiker_innen – steht, so meine ich, im Zusammenhang mit einer Verschiebung, die sich bereits seit der Veröffentlichung von Beyoncés visuellem Album LEMONADE (USA 2016) beobachten lässt: Mit LEMONADE verortete sich Beyoncé explizit als Schwarze Feministin, die in ihren Lyrics und Videos an das Nachwirken der Versklavung in heutigen „Black lives and Black love“ erinnert – u.a. durch Bezüge zu DAUGHTERS OF THE DUST (USA 1991) der zur L.A. Rebellion gehörenden Regisseurin July Dash (vgl. hooks 2016), der wiederum kurze Zeit nach LEMONADE im deutschen Angebot von ‚Netflix‘ zur Verfügung stand. Wie Eric Harvey nachgezeichnet hat, richtet sich ihre Kommunikation seitdem direkt an ihre Schwarzen Fans und Follower (Harvey 2017: 124). Besonders das Video Formation mit seinem Aufruf zur ‚Formierung’ zeigt, dass diese Politisierung auf die gegenwärtige Konjunktur des US-Rassismus reagiert. Gerade angesichts des systemischen Rassismus in den USA, vor allem der andauernden Tötungen Schwarzer Männer und Frauen durch Polizeibeamte und Sicherheitskräfte und die sich in Reaktion auf den Freispruch des Mörders von Trayvon Martin mit einem Hashtag ins Leben gerufene Black Lives Matter-Bewegung scheint die Betonung ‚Schwarzer Liebe’ in der Musik, den Alben, den gemeinsamen Touren mit Jay Z sowie in den diese begleitenden bzw. bewerbenden Veröffentlichungen der Carters nicht nur als öffentliche Inszenierung der Höhen und Tiefen ihrer Paarbeziehung, sondern als direkte Antwort auf die gegenwärtige Konstellation des anhaltenden anti-Schwarzen Rassismus. In Form eines affektiven Bandes stellt diese aber selbst auch eine äußerst ambivalente Intervention in die rassisierten Voreinstellungen der Musikindustrie und -öffentlichkeit – und damit auch der Plattformen – dar.
Paul Gilroy hat die Kommodifizierung Schwarzer Musik, insbesondere im Hip Hop, als Ausverkauf des Traums der Gegenkulturen des Black Atlantic beschrieben (vgl.: Gilroy 2019, s. auch Gilroy 2004); Trotz ihrer Funktion als Werbekampagne möchte ich die OTR II Ankündigung dennoch in diesen Zusammenhang stellen und zwar aufgrund der Referenz auf TOUKI BOUKI. Die Frage der Flucht, die im Verweis auf BONNIE UND CLYDE noch eine Einschreibung in den weißen Mainstream bedeutete, wird nun politisiert, auch wenn TOUKI-BOUKI u.a. davon handelt, dass die Flucht nicht unbedingt gelingt. Die Ankündigung soll hier als Remediation verstanden werden, nämlich insofern, als hier nicht nur ‚Instagram‘ das Kino zitiert, sondern ein spezifisches „audio-visuelles Archiv“ (Brunow 2015) remediatisiert und damit erinnert wird. Für Bolter und Grusin ist ein Medium „that which remediates“, wobei der Prozess der Remediation zugleich ein Prozess der Remodellierung anderer oder des gleichen Mediums ist (vgl. Seier 2007: 75). Medien operieren also nie isoliert, sondern stehen in Beziehung zu anderen Medien und wiederholen diese.
Remediation unterliegt überdies einer Doppellogik von Unmittelbarkeit und Hypermedialität, die im Fall der OTR II Ankündigung in der Gleichzeitigkeit der vermeintlichen Intimität von Instagram und dem Filmzitat besteht. Die Hypermedialität des Zitats wird dadurch unterstrichen, dass die Aufnahmen im Unterschied zu TOUKI BOUKI in Schwarz-weiß gehalten sind als Zeichen der vergangenen Zeit der Liebesbeziehung der Carters, was durch den Song I’m still in love with you, boy ergänzt wird. Das Zitieren der Szene aus TOUKI BOUKI stellt also eine Aktualisierung des Motivs des Liebespaars ‚on the run’ dar und zugleich wird konkret an TOUKI BOUKI und damit an ein spezifisches Archiv, das des politischen Schwarzen bzw. anti-/postkolonialen Kinos, erinnert. Angesichts der Fokussierung auf die Schwarze Netzcommunity verwundert dies nicht: Die Frage der Flucht, die im Fall des Zitats von BONNIE UND CLYDE als eine Einschreibung in den weißen Mainstream gedeutet werden kann, wird auf diese Weise politisiert und in den afrodiasporischen Kulturen des Black Atlantic (vgl. Gilroy 1993) verortet. Diese sind mit Gilroy als Gegenkulturen in einer geteilten Moderne zu verstehen, in denen sich „ästhetische und gegen-ästhetische Formen und eine spezifische Dramaturgie des Erinnerns“ artikulieren, „die auf charakteristische Weise Genealogie von Geografie und Lebensraum von Zugehörigkeit trennt“ (Gilroy 2004: 22) – auch wenn oder gerade weil TOUKI BOUKI davon handelt, dass die „Flucht“ anderswo hinführen kann und nicht unbedingt gelingt.
Aus Perspektive des Black Atlantic wird die Remediation von TOUKI BOUKI als Erinnerungspraxis erkennbar. Dagmar Brunow hat in ihrer Studie Remediating Transcultural Memory (2015) das Konzept von Bolter und Grusin dahingehend erweitert, dass sie es um die Betrachtung des industriellen Kontextes, der Fragen der Distribution und Zirkulation adressiert, und des diskursiven Kontextes ergänzt. Dies trage dazu bei, nicht nur eine historisierende und de-essentialisierende Forschungsperspektive einzunehmen, sondern auch das Archiv und die Remediationen des Archivs berücksichtigen zu können (vgl.: Brunow 2015: 199). Und gerade das Archiv des anti-/postkolonialen Kinos, des Kinos der Dekolonisation, wurde unter den Vorzeichen des digitalen Wandels im letzten Jahrzehnt „wiederentdeckt“. Filmwissenschaftlerin_innen und Kurator_innen, insbesondere aber auch Filmemacher_innen und Künstler_innen beschäftigen sich in ihren Arbeiten – u.a. PRÉFACE POUR DES FUSILS POUR BANTA (F 2011), CONCERNING VIOLENCE (SE/USA/DK 2014) oder SPELL REEL (D/PT/F/GNB 2017) – mit Fragen der Bergung, Restaurierung, Digitalisierung von teils verloren gegangenen Filmen und Archiven und adressieren die Dringlichkeiten, die sich aus dem unabgeschlossenen Projekt der Dekolonisation heute ergeben. Mati Diop, die Nichte Mambétys hat mit ihrem ersten Feature Film MILLE SOLEILS (F/SEN 2014) eine Auseinandersetzung mit TOUKI BOUKI geschaffen, an der ich die Frage der Remediation als Erinnerung und Bearbeitung weiterführen möchte. Ihr Film ist Ergebnis einer jahrelangen Auseinandersetzung mit ihrem Onkel, den sie nicht kennengelernt hat, sowie mit den Geschichten ihres Vaters, dem Musiker Wasis Diop, und steht der kommerziellen Aneignungs- und Verweislogik der Tourankündigung diametral gegenüber.4
Der Titel, MILLE SOLEILS, greift ein Zitat Mambétys auf:
When a story ends – or ‘falls into the ocean’, as we say – it creates dreams. It has energy and direction. I hope that all my stories finish by presenting a lesson for society, but there is also great freedom in my way of seeing and treating things. I do the audience justice: they have the freedom to enter or not to enter into my stories. They are free to take their own path, to enter or to leave. In one word, “liberty” is what characterizes what I am doing. (Mambéty, in: Ukadike 1999)
Dass Diop die Sonnen im Titel ebenfalls als Geschichten versteht, ist wiederum einem Interview zu entnehmen:
The project was born in 2008 […]. It was also the year that marked the tenth anniversary of the death of my uncle, Djibril Diop Mambéty. It was a period in which I was led to think about and measure this loss, which resulted in long conversations with my father about the life and death of Djibril, on his films, especially Touki Bouki. This is when I discovered the thousand stories hiding behind Touki Bouki—our family’s history, but also the history of the film’s stars Magaye Niang and Myriam Niang. (Diop in: Picard o.J., Herv. M.F.)
MILLE SOLEILS remediatisiert TOUKI BOUKI – wie ich im Folgenden zeigen möchte – auf vielfältige Weise und erzählt die Geschichte von Mory und Anta in der Gegenwart weiter, genauer 2012, dem Jahr des 40. Jahrestags der Premiere des Films, fort. Mambétys zweiter und letzter Langspielfilm, HYÈNES (SEN 1992), eine Verfilmung von Friedrich Dürrenmatts Stück Der Besuch der alten Dame, kann bereits als Fortsetzung von TOUKI BOUKI gelten. Dieser nimmt Antas Rückkehr nach Dakar in einer durch den Neoliberalismus vollständig veränderten Welt zum Ausgangspunkt.5 In Diops Film verschmelzen jedoch die Schauspieler_innen von Mory und Anta, Magaye Diang und Marème Niang, mit ihren Figuren, wobei der Film Magayes Perspektive erzählt. Er greift die zirkuläre Struktur von TOUKI BOUKI auf, der mit einer Sequenz beginnt und endet, die einen kleinen Jungen mit einer Herde Zebus zeigt, die dieser von einer Flötenmelodie begleitet in die Stadt treibt. Unterbrochen wird diese Sequenz von Szenen im Schlachthof, bevor wir schließlich den Erwachsenen Mory zu sehen bekommen, der auf seinem gehörnten Motorrad durch Dakar fährt. Die Schlachthofbilder tauchen auch kurz vor Ende des Films wieder auf; und zwar in dem Moment, in dem sich Mory bereits am Pier gegen die Abreise entscheidet: Während Güter auf das Schiff geladen werden und Menschen es besteigen, evozieren diese Bilder die tödliche und warenförmige Dimension der Flucht/Dimension, die auch die Geschichte der Versklavung evoziert. Bevor der Film aber mit dem Jungen und der Zebuherde endet, wird an der Wiederholung der Einstellung, die das Paar am Meer zeigt, wo sie nach dem Sex im Gespräch die Entscheidung zur Flucht fassen, eine zweite Rahmung ersichtlich und der Film als Fabulation in der Fabulation erkennbar.
TOUKI BOUKI war als Film auch deshalb so radikal, weil er dem filmischen Realismus des als Vater des senegalischen Kinos verehrten Ousmane Sembène eine Absage erteilte: Der Titel ist dabei Programm, es geht mit dem Verweis auf die Hyäne nicht nur um Figuren am Rand der Gesellschaft, sondern auch um eine Reise – nimmt man die doppelt zirkuläre Struktur des Films ernst – als Fluchtlinie: Sie führt nicht unbedingt ans Ziel, aber unterwegs durchquert sie die gesellschaftlichen Bedingungen, die zur Flucht auffordern, und problematisiert diese. Dabei ist das Erfinden alternativer Ausgänge von zentraler Bedeutung, die auch auf die Auffassung Mambétys vom Filmemacher als Griot zurückzuführen ist.6 Darin trifft er sich zwar mit Sembène aber in Erweiterung von dessen Idee der Abendschule, die eher auf die Vermittlung von Geschichte und Wissen abzielt, betont er die Dimension der Vision und Zukünftigkeit: „The word griot is the word for what I do and the role that the filmmaker has in society ... the griot is a messenger of one’s time, a visionary, a creator of the future.“ (Mambéty, in: Givanni 1995, 31) Diese Erfindung einer Zukunft resoniert mit der Erfindung eines (fehlenden) Volkes, die Gilles Deleuze in der Fabulation im modernen politischen Kino, das er insbesondere in der „Dritten Welt“ verortet, findet (vgl. Deleuze 1991: 287). Insbesondere seine Betonung der Grenzüberschreitung und der Durchdringung des Privaten und des Politischen im Fabulieren des Autors erinnert an die filmische Erzählweise der Geschichte der Reise von Mory und Anta:
Das Fabulieren ist kein unpersönlicher Mythos, aber auch keine persönliche Fiktion; es ist eine Rede in actu [parole en acte], ein Sprechakt [acte de parole], durch den die Figur fortwährend die Grenze überschreitet, die ihre Privatangelegenheiten von der Politik trennt und selbstständig kollektive Aussagen produziert. (Deleuze 1991: 286)
Bevor ich die poetologischen und politischen Implikationen der Fabulation weiter diskutiere, soll zunächst nachvollzogen werden, in welcher Hinsicht MILLE SOLEILS TOUKI BOUKIS doppelte Struktur der Fabulation aufgreift und remediatisiert: der Film eröffnet und endet mit einer in 35mm aufgenommenen Sequenz (der Rest des Films ist digital produziert), die – die Einstellung aufgreifend, die zu Beginn von TOUKI BOUKI Mory zum ersten Mal auf seinem Motorrad zeigt, - den gealterten Magaye/Mory dabei beobachtet, wie er zu Fuß eine Herde Zebus durch Dakar zum Schlachthof treibt. (Abb. 6/ 7) Dazu ist Do not forsake me, oh my Darling von Chris Ritter aus Fred Zinnemans Western-Klassiker HIGH NOON (USA 1952) zu hören, was an Mambétys Vorliebe für Western erinnert (Mambéty, in: Givanni 1995, 30). Nach dieser Exposition zeigt der Film, wie sich Magaye auf den Abend vorbereitet, er streitet mit seiner Frau, streitet mit dem Taxifahrer, streitet sich mit seinen Freunden in der Kneipe – Szenen, die als Umarbeitung der Konflikte, die Mory in TOUKI BOUKI zur Flucht motivieren, zu erkennen sind. Parallel montiert sind die Vorbereitungen der Open-Air-Aufführung von TOUKI BOUKI zu sehen (Abb. 8/9). Das Screening beginnt und MILLE SOLEILS zeigt nicht nur das Setting des Screenings, sondern integriert die Filmbilder aus TOUKI BOUKI in den Film, setzt sie durch die Montage in Dialog mit dem Publikum im Film, dessen Leben gleichermaßen von Flucht, Scheitern oder Rückkehr gekennzeichnet sind, wodurch die 40 Jahre alten Filmbilder eine gespenstische Aktualität entfalten.7 Auf der verdoppelten Leinwand läuft die Sequenz der Sexszene mit dem daran anschließenden Dialog, indem die beiden ihre Reise beschließen. (Abb. 10/11) Kurz vor Ende der Vorstellung kommt Magaye schließlich an und beobachtet, wie er selbst auf der Leinwand vom Schiff rennt; sein Blick verschränkt sich mit dem Antas, die von der Reling hinterher bzw. herunter schaut (Abb. 12/13). Nach dem Screening geht Magaye zusammen mit dem Regieassistenten von TOUKI BOUKI, Ben Bèye, dem Künstler und Freund Mabetys, Joe Ouakam und Wasis Diop spazieren. Er ist melancholisch und besteht darauf, dass TOUKI BOUKI ‚seine‘ Geschichte ist, da auch er dageblieben sei, während Anta gegangen ist.
Die Nacht endet mit einer langen Szene in einem Club: Aus dem Off hören wir Magaye von seiner Beziehung mit Anta erzählen. In seiner Schilderung überlagert sich die Filmfigur mit der Darstellerin Marème Niang. Wie im Umschnitt sichtbar wird, erzählt er die Geschichte zwei Frauen im Club, und als die eine der beiden plötzlich aufblickt und in die Kamera fragt, ob Anta noch am Leben sei, endet die Szene mit einem harten Schnitt (Abb. 14). Die nächste Szene zeigt eine Landschaft im Eismeer (Abb. 15), Musik setzt ein, Le Plaisir D’Amour, interpretiert von Mado Robin. In TOUKI BOUKI ist das Stück zu Beginn der Sequenz zu hören, in der Mory und Anta den reichen Schwulen Charlie aufsuchen, um bei ihm Geld für die Reise aufzutreiben.8 Über die Ansicht des Eismeers gelegt, kündigt es Magayes Wiederbegegnung mit Anta/Marème an.
Mit einem nächstem Schnitt kehrt die Handlung zurück nach Daker in einen Telefonshop: Magaye ruft Anta/Marème an und erfährt, dass sie in Alaska als ‚Security Guard‘ einer Ölraffinerie arbeitet. Während des Telefonats hat er eine Figur auf der Straße erblickt (Abb. 16), die einer seiner Verkleidungen in TOUKI BOUKI gleicht: mit rotem Turban, vermummt, fährt diese auf dem gehörnten Motorrad davon. Als er beginnt, dieser zu folgen, wird mit einem Schnitt eine erneute örtliche Verschiebung in Gang gesetzt. Magaye läuft nun nicht mehr durch Dakar, sondern stapft durch das ewige Eis. Die Ansicht, die sich auftut, ist eine Art Wasserfall im Eis, in dem ‚Anta’ nackt badet. Als sie wieder aus dem Bild verschwunden ist, wechselt das Bild zu einer undefinierten Schneelandschaft, während im Off ein weiteres Gespräch zwischen den beiden zu hören ist. Die akusmatischen Stimmen lassen diese Sequenz als Umarbeitung der Sequenz in TOUKI BOUKI erkennbar werden, in der Mory und Anta, nachdem sie am Meer miteinander geschlafen haben, die Entscheidung zur Flucht treffen. Der Dialog endet als Mory auf Antas/Marèmes Überlegungen, vielleicht doch irgendwann zurückzukommen, erwidert: „You don’t have a home, until you leave. And once you’ve gone, you can’t come back anymore“ – ein Zitat aus James Baldwins Roman Giovanni’s room (1956), dass die Bedingung des Exils, der Diaspora beschreibt. Dann wird extragdiegetisch erneut die Live-Version von Do not forsake me, oh my Darling eingeblendet, was Anta/Marème innerdiegetisch kommentiert: „I think, I’ve heard this song.“ Magaye erwidert, dass es immer irgendwo jemanden geben wird, der ihr das Lied singen wird. Schließlich ist Chris Ritter zu hören, der den Song einführend sagt, „we’re always happy to do it“ und damit Magayes Aussage und mit der Betonung der Wiederholung, die zirkuläre Struktur beider Filme unterstreicht. Gitarre und Applaus setzen ein, in einer Großaufnahme erscheint Magayes Gesicht. Die letzte Einstellung zeigt ihn, wie schon zu Beginn, mit der Zebuherde am Rand von Dakar.
Neben dem Wiederholen der zirkulären Struktur von TOUKI BOUKI entsteht der Effekt der Unmittelbarkeit in MILLE SOLEILS vor allem durch das Offenhalten der Frage des Dokumentarischen und Fiktiven, durch das Fabulieren möglicher Fluchtlinien. Zugleich betont die Sequenz des Screenings zum Jubiläum von TOUKI BOUKI, in der die alten und neuen, analogen und digitalen Filmaufnahmen offen in Beziehung zueinander gesetzt sind und miteinander interagieren, insbesondere wenn sich in der Montage die Blicke von Magaye vor der Leinwand und Anta an der Reeling verschränken, die Hypermedialität. Die Sequenz des Screenings macht MILLE SOLEILS als erinnernde Remediation von TOUKI BOUKI erkennbar. In den dokumentarisch anmutenden Aufnahmen von den Vorbereitungen und der Durchführung der Aufführung kommt diese auch als Auseinandersetzung mit dem audio-visuellen Archiv des Dritten Kinos und dessen kollektivierenden und mobil(isierend)en Aufführungspraktiken in den Blick.
Ich verstehe hier den Begriff des Dritten Kinos als ‚umbrella term‘, der die Praktiken des militanten und antikolonialen/postkolonialen Kinos der 1960er und 1970er Jahre umfasst, also neben der Produktion und der Ästhetik gerade auch seine Distribution und Aufführung. Das Dritte Kino mit seinen vielfältigen trikontinentalen Bewegungen und Begegnungen ist selbst nicht zu denken jenseits seiner Verbindungen, die Kodwo Eshun und Ros Gray mit dem Begriff der ‚ciné-geography‘ zu fassen versucht haben, die sein Nachleben als Dateien und Streams auf Plattformen miteinbezieht:
Ciné-geography designates situated cinecultural practices in an expanded sense, and the connections – individual, institutional, aesthetic and political – that link them transnationally to other situations of urgent struggle. It refers not just to individual films but also to the new modes of production, exhibition, distribution, pedagogy and training made possible by forms of political organisation and affiliation. A critical component is the invention of discursive platforms such as gatherings, meetings, festivals, screenings, classes and groups founded by a range of students, activists, workers, film-makers, artists, critics, editors, teachers and many others at decisive moments in order to mobilise collective strategies that may have been evolving for some time. It includes the speeches, statements, essays, poems, declarations, manifestos and anthologies in which the aspirations of this transnational network of affiliated movements were clarified and articulated. And it refers to the medial circuits of dissemination through which these texts and films travelled and were (mis)translated in order to multiply the ways and places in which cinema could be ‘instrumentalised’, to use Getino’s term, as a tool of radical social change in processes of decolonisation and revolution. Lastly, the term ciné-geography designates the afterlives of the militant image, the digital platforms, formats, applications, files, torrents and burns through which it continues to circulate as a fourth-, fifth- and sixth-generation travelling image; a fragmented sonimage that operates as a material index of social relations, capable, at unexpected moments and in tangential ways, of reanimating intense moments of upheaval. (Eshun / Gray 2011: 1)
Damit greifen Eshun und Gray die Überlegung von Hito Steyerl (2009) auf, die die Zirkulation schlechter Kopien, „poor images“, auf Plattformen ebenfalls in diesen Kontext stellt, wenn sie diese in die Nähe eines der zentralen Manifeste der Dritten Kinos, „Für ein imperfektes Kino“ (1969), des kubanischen Regisseurs Juan García Espinosa, rückt (vgl.: García Espinosa 2014). Für García Espinosa hat das künftige imperfekte Kino das Potential, nicht nur ökonomische Arbeitsteilungen, sondern auch die Trennung von Kunst, Leben und Wissenschaft, und damit die Unterscheidung in Konsument_in und Produzent_in, Publikum und Autor_in zu veruneindeutigen, wenn nicht aufzuheben. Diese Hoffnung ist an die Herausbildung neuer Technologien – Video – gebunden. Steyerl findet in dieser Beschreibung auch einige Eigenschaften der „poor images“ wieder, allerdings seien diese weitaus ambivalenter und affektiver als von García Espinosa angenommen. Sie verweist auf Hate Speech, Pornografie und die umfassende Marktförmigkeit digitaler Kommunikation auf sozialen Medien-Plattformen. Der Zugang zu und die Verbreitung von experimentellem, ästhetischen und vernachlässigtem Material seien hiervon nicht zu trennen; nichtsdestotrotz hält sie daran fest, dass „poor images“ von den Vielen nicht nur gesehen, sondern vor allem auch produziert, ge- und verteilt werden und diese so einen Kreislauf etablieren, der die Anliegen des Dritten Kinos realisiert. Die erneute Zirkulation dieser Bilder bringe global zerstreute Öffentlichkeiten zusammen: mit Verweis auf Dziga Vertov versteht Steyerl diese als „visuelle Verbindungen“, die trotz ihrer Ambivalenz möglicherweise auch eine neue Genealogie u.a. zu den Vernetzungen des Dritten Kinos etablieren und zugleich disruptive Bewegungen des Denkens und des Affektiven hervorbringen können. Bereits 2009 veröffentlicht, antizipiert der Aufsatz das mobilisierende Potential der „poor images“, zu denen Steyerl explizit auch Handy-Videos zählt, das sich seit Anfang der 2010er Jahre in den mobilen Medienpraktiken der arabischen Revolutionen und sozialer Bewegungen entfaltet hat.
Eine weitere Verbindung ergibt sich darüber hinaus aus einer Engführung des Postkolonialen mit dem Postfilmischen. Hierbei meint das Präfix ‚post‘ in beiden Begriffen nicht ein einfaches ‚danach‘ – ‚nach‘ dem Kinodispositiv oder ‚nach‘ dem Kolonialismus; vielmehr werden gegenwärtige Auseinandersetzungen mit dem Nachleben/Fortwirken des Kinematografischen ebenso wie des Kolonialen betont, die ich vor dem Hintergrund der biopolitischen Dimension des Kinos seit seinen Anfängen als miteinander verbunden betrachte. Damit ist sowohl das Problem der Erfassung (‚capture‘) in der fotografischen/filmischen Aufnahme gemeint als auch das in das filmische Material eingelassene Vorurteil, das die Behauptung von rassischer Differenz stetig wiederholt (und auch unter digitalen Bedingungen nicht aufgehoben ist). Rey Chow führt aus, dass die Erfahrung der Erfassung in der Aufnahme in den Theoriebildungen und Bewegungen seit den 1960er Jahren zu einer Politik der Repräsentation geführt hat, in der der Kampf um das Bild zunehmend an die Stelle des eigentlichen Kampfes getreten sei – allerdings stets begrenzt durch den Medienrahmen als kommodifizierte Machtform, die das Erscheinen und damit die Wahrnehmbarkeit reguliert (Chow 2013: 138f.).
Nichtsdestotrotz geht mit dem digitalen Wandel das Versprechen einher, dass das, was in den Filmpraktiken des Dritten Kinos antizipiert wurde, sich nun realisieren ließe. So versteht etwa John Akomfrah das Digitale im Verbund mit dem (Afro-)Diasporischen „as promise, as reinvention, as a dissident echo in a tale of postcolonial becoming“ (Akomfrah 2010: 24), in dem das Potential zur Überwindung der „tyranny of sensitometry“ (ebd.: 27), zur Etablierung alternativer Distributionsformen, zur Auseinandersetzung mit einer (Film-)Geschichtsschreibung, die anderen Genealogien folgt als den kanonisierten, sowie zur Aufgabe der Linearität der Erzählung zugunsten der „rhythms of diaspora“ (ebd.: 22) steckt (hier verweist Akomfrah neben den Filmen der L.A. Rebellion auch auf TOUKI BOUKI).
Aber noch einmal zurück zur Tourankündigung der Carters und der Frage, was das Aufgreifen TOUKI BOUKIS mit der gegenwärtigen Konjunktur des Rassismus in den USA zu tun hat: Der Hashtag und in der Folge die Bewegung Black Lives Matter entstand in Reaktion auf die Veröffentlichung von Handyvideos in sozialen Medien, die die tödliche Gewalt weißer Polizisten, deren Opfer zumeist Schwarze Männer sind, bezeugen. Ein zentraler Moment war die Veröffentlichung des Videos, das die gewaltsame Festnahme von Eric Garner zeigt: Am 17. Juli 2014 filmt der Augenzeuge Ramsey Orta in New York, wie Garner von sechs weißen Polizisten angegriffen und von einem Polizisten in den Würgegriff genommen wird. Garner ruft mehrfach „I can’t breathe“, bevor er bewusstlos wird und schließlich auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt. Im vergangenen Jahr hat die Veröffentlichung des Zeug_innenvideos der Ermordung von George Floyd durch einen weißen Polizisten in Minneapolis nicht nur zu anhaltenden (internationalen) Protesten geführt, sondern auch zur Forderung „defund the Police“. Auch George Floyd rief, so bezeugt es ein Handyvideo, vor seiner Ermordung mehrfach „I can’t breathe!“
Chris Tedjasukmana zeigt in seiner Analyse der Videos von Eric Garner und anderen, wie in der Dynamik aus Zeug_in, Zeug_innenvideo und Zuschauer_innen „affektive Evidenz“ entsteht, die sagt: „Es ist so, es berührt mich, und es geht uns alle an.“ (Tedjasukmana 2020) Das „es ist so“ deutet auf eine Verschiebung, die durch die technischen Möglichkeiten der Echtzeit-Dokumentation, des Upload und der Distribution, bedingt ist. Hatte das Dokumentarische unter analogen Bedingungen Beglaubigungscharakter – „es ist so gewesen“ – und damit eine Erinnerungsfunktion, so verkehrt sich, wie Rey Chow betont, in den Handyvideo-Praktiken das Verhältnis von Erinnerung und Erfassung: Erfassung werde zur „primären Aktion“, aktiviere die Realität und bringe die Gegenwart zur Existenz: „es ist so“. Zugleich lässt sich im Zuge der Zirkulation und Dissemination der Zeug_innenvideos auch eine Vervielfältigung der Formen beobachten. Dazu gehören nicht nur die Bearbeitungen des Ausgangsmaterials, etwa in bzw. für Reportagen, sondern auch Kompilationen oder Dokumentarfilme; es ließe sich sagen, dass der Videoaktivismus von Black Lives Matter eine soziale Bewegung mobilisiert hat, die von der Produktion und Dissemination verschiedenster Bewegtbilder nicht zu trennen ist. Der Verweis auf TOUKI BOUKI gehört dazu, wie ich nun abschließend, ausgehend vom Verständnis des Films als Fabulation, zeigen möchte.
In meiner Analyse der Remediation von TOUKI BOUKI in MILLE SOLEILS habe ich gezeigt, dass beide Filme die Mittel der Fabulation wählen, um die Geschichte zu erzählen. Während ich dieses Konzept zunächst an Mambétys Auffassung vom Filmemacher als Griot gebunden habe, möchte ich den Begriff nun theoretisch präzisieren: Gilles Deleuze entwickelt den Begriff der Fabulation in Das Zeit-Bild: Kino 2 (1991) anhand der dokumentarischen Filme von Jean Rouch und Pierre Pérrault, aber auch des Kinos von John Cassavetes und Shirley Clarke, und setzt diesen sowohl dem Realen als auch der Fiktion entgegen. Die Funktion des Fabulierens besteht demgegenüber im unentwegten Überwinden der Grenze zwischen Realem und Fiktivem, indem es das Vorher und Nachher zusammenführt. Im Fabulieren, das auch als ein Werden zu verstehen ist, wird ein (noch) fehlendes Volk erfunden. Diese Gedanken führt Deleuze im Abschnitt zum modernen politischen Kino fort; das Fehlen eines Volkes, das wird nun deutlich, ist durchaus in einem antikolonialen Sinn zu verstehen:
In dem Augenblick, in dem der Kolonialherr ausruft: ‘Hier hat es niemals ein Volk gegeben’, verkörpert das fehlende Volk eine Zukunft, es erfindet sich selbst in den Elendsquartieren und Lagern, in den Ghettos und unter den neuen Kampfbedingungen, zu denen eine notwendige politische Kunst beitragen muss. (Deleuze 1991: 280)
Deleuze betont, dass sowohl im modernen politischen Kino als auch in der „Dritten Welt“ bzw. bei den „Minoritäten“ (worunter er in diesem Abschnitt u.a. Afroamerikaner_innen fasst) die Trennung zwischen dem Politischen und dem Privaten aufgehoben sei. Zudem zeichne sich dieses Kino nicht durch eine „Entwicklung vom Alten zum Neuen“, sondern vielmehr durch eine „Durchdringung des Alten und des Neuen“ aus, „was (...) zur Verwirrung“ führe (281). Es sei also eher von „Unmöglichkeiten“ oder vom „Unerträglichen“ geprägt (282). Daher gelte es, „dem Unerträglichen einen Sprechakt zu entreißen, dem man nicht zum Schweigen bringen könnte, einen Akt des Fabulierens, der (...) eine Produktion kollektiver Aussagen wäre“ (286), bzw. die Erfindung eines künftigen Volkes. Nicht nur im Sinne der Verbindung des Archaischen mit dem Gegenwärtigen, dem Verwischen von Dokumentarischem und Fiktionalen, sondern auch verstanden als Grundlage einer in die Zukunft gerichteten Vision (vgl. Chow 2007: 25), verbindet sich Deleuzes Begriff der Fabulation mit Mambétys Verständnis des Griots und seiner Umsetzung in TOUKI BOUKI.
Der Kultur- und Performancetheoretiker Tavia Nyong’o hat Deleuze’s Begriff der Fabulation in seinem Aufsatz Unburdening Representation (2014) aufgegriffen, im Versuch mit dem Fokus auf die Poetiken der Fabulation dem rassisierten Repräsentationsparadigma zu entkommen, verstanden als Flucht aus der filmischen Auf- bzw. Gefangennahme – in der doppelten Bedeutung des englischen ‚capture‘. Für Nyong’o begründet sein Aufgreifen des Deleuze’schen Begriffs mit der historischen Beziehung zwischen dessen Denken und Schwarzer Kulturtheorie und schlägt in Weiterführung den Begriff der „Afro-Fabulation“ (Nyong’o 2014: 70) vor, worunter er die kritische Praxis einer Unterbrechung der feindseligen und begrenzenden oder auch einsperrenden Bedingungen der Repräsentation versteht, die stattdessen Verbindungen und Beziehungen entstehen lässt – im Sinne der Erfindung eines fehlenden Volkes.
In seiner Ehrung von TOUKI BOUKI im Rahmen des Work Cinema Projects zitiert Martin Scorsese Mambéty mit den Worten „I wanted to make a lot of things explode“, und nach seinem Empfinden explodiert TOUKI BOUKI Bild für Bild (Scorsese 2013). Das Auslösen filmischer Explosionen rückt TOUKI BOUKI in einen direkten Zusammenhang mit dem Dritten Kino mit seinen vielfältigen Bezugnahmen zu Frantz Fanon. Kara Keeling hat in ihrer Lektüre von Schwarze Haut, Weiße Masken (Fanon 1985), darauf hingewiesen, dass die Explosion – verstanden als die Gewalt der Dekolonisation – die einzige Möglichkeit sei, sich aus dem zeitlosen Warteraum, dem zeitlosen Intervall des Kolonialen, des Rassismus zu befreien (Keeling 2007). Die Explosion als Metapher taucht aber auch in den Filmpraktiken des Dritten Kinos auf, wenn etwa Fernando Solanas über LA HORA DE LOS HORNOS (ARG 1968) sagt, der Film sei „Sprengkapsel einer Debatte“ gewesen (Solanas zit. in: Djahnine/Metschl 2019: 84). TOUKI BOUKI scheint seine anhaltende Faszination genau aus seinen fabelhaften Bild-Explosionen zu beziehen, die das Aufsprengen filmischer wie politischer Konventionen versprachen. Aber, wie Nyong’o wiederum mit Bezug zu Fanon betont, umfasst Afro-Fabulation auch die Notwendigkeit des Reparierens oder auch Wiederherstellens:
And yet, even the impulse to recover or repair is not, I think, to be entirely divorced from Afro-Fabulation. In its very spur toward the inauthentic, the not yet, the people who are missing, fabulation is always seeking to cobble something together, to produce connections and relations however much the resultant seams show. Such a connection between Afro-fabulation and ‚recovery’ by another name is suggested in the oft-cited opening sentences of Chapter 5 of Frantz Fanon's Black Skins, White Masks. (Nyong’o, 2014: 77)
Gemeint ist hier eben die Stelle, in der Fanon beschreibt, dass ihm angesichts der Fixierung als Objekt durch den Blick des Anderen nichts anderes bleibt als zu explodieren.9 Damit kommt Afro-Fabulation als kritische Praxis in den Blick, in der eine Welt, die, wie Nyong’o mit Audre Lorde formuliert, „was never meant to survive”, und die, wie er ergänzt, „was never meant to appear” trotz allem (wieder-)erscheint (Nyong’o 2019: 3). In seiner Monografie Afro-Fabulations. The Queer Drama of Black Life (2019) untersucht er Schwarze und queere künstlerische Praktiken, Filme und Performances, die aus der andauernden Geschichte des anti-Schwarzen Rassismus andere Geschichten und fabelhafte Ereignisse bergen. Die Verbindung zwischen TOUKI BOUKI, MILLE SOLEILS und On the Run II liegt nun in der Erzählung der Notwendigkeit bzw. (Un-)Möglichkeit des Fliehens, verkörpert in der Figur des Paares auf der Flucht, die in immer wieder neuen Variationen entworfen wird.10 Nyong’o erinnert daran, dass die_der Flüchtende seit den frühen Maroon-Gesellschaften eine anhaltende Figur in der Schwarzen Geschichte und Kultur ist:
The fugitive might even be the foundational figure of black resistance – resistance in particular to being “mastered by the clock” in the colonial-modern. Given the immense and romantic genealogy of the fugitive, it remains worth asking whether the fugitive remains contemporary, and, if so, in what way. (Nyong’o 2019: 92)
Er bindet die Figur des_der Flüchtigen an den Begriff der Flüchtigkeit, der mit Fred Moten verstanden werden kann als politischer Imperativ, “that infuses the unfinished project of emancipation as well as any number of other transitions or crossings in progress.” (Moten 2004: 960, zit. n. Nyong’o 2019: 233f. Anm. 22) Bezogen auf Afro-Fabulationen ist die Flüchtigkeit der Gegenwart damit mehr als ihr instantanes Vergehen; Nyong’o begreift sie vielmehr als eine Flucht in ein Anderswo und Anderswann, die stets auch an die Frage nach dem Außen der repräsentationalen Aufnahme (capture) geknüpft ist: „What exists outside the apparatus of representational capture?, but rather: What critical moves operating within that apparatus can render it, even momentarily, inoperative? (Ebd.: 93)
Die Bezugnahme auf TOUKI BOUKI in der Tourankündigung der Carters war nur ein Moment in dieser Bewegung des Immer-Wieder-Anders-Aufgreifens der Figur des fliehenden Paars11, als Versuch des Ausbruchs aus den rassifizierten und mediatisierten Lebensbedingungen. Die Fluchtlinie führt weiter zu QUEEN & SLIM (USA 2019) (Clip 5). Der erste Langfilm von Melina Matsoukas, die auch bei dem Video zu Beyoncés Song Formation Regie geführt hat, greift diese Figur wiederum auf und fabuliert darüber, was passieren könnte oder würde, wenn eine gewaltsame Festnahme eines Schwarzen Mannes durch einen weißen Polizisten nicht mit dessen Ermordung enden würde, sondern mit der Tötung des Polizisten aus Notwehr und der erfolgreichen Flucht des Schwarzen Mannes und seiner Schwarzen Begleiterin, mit der er gerade sein erstes, wenig erfolgreiches Date hatte... Auch wenn die beiden am Ende nicht entkommen, adaptiert und aktualisiert der Film nicht nur das Fluchtmotiv, sondern setzt damit auch dem Videoaktivismus der Black Lives Matter-Bewegung ein Denkmal, denn hier ist es das sich viral verbreitende Dashboard-Video aus dem Polizeiauto,12 das bezeugt, dass der Polizist zuerst geschossen hat, was eine landesweite Welle der Solidarität auslöst, die die beiden auf der Flucht trägt. Dass auch dieser Film wiederum selbst neue Bewegungen anstiftet, lässt sich auf YouTube beobachten, wo sich von Fans produzierte „alternative endings“ des Films finden lassen, die einen anderen Ausgang der Geschichte und damit eine andere Zukunft fabulieren (Clip 6).
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