What it took Cinema to FREE WILLY
Information, like humanity, cannot exist apart from the embodiment that brings it into being as a material entity in the world; and embodiment is always instantiated, local, and specific. Embodiment can be destroyed but it cannot be replicated. Once the specific form constituting it is gone, no amount of massaging data will bring it back. (N. Katherine Hayles 1993: Virtual Bodies and Flickering Signifiers, 91)
Digitale Ästhetik ist eine Glaubensfrage. Glauben wir computergenerierten Bildern oder glauben wir ihnen nicht und warum? Verbindet sich mit der Digitalisierung das Ende jener ‚Errettung äußerer Wirklichkeit‘, die Kracauer dem Medium Film zutraute, weil ‚digitale Bilder‘ zwangsläufig vergesellschaftet sind und kein Außen, kein Anderes, eben keine ,äußere Wirklichkeit‘ kennen? Die Fragen bleiben, während die binäre Gegenüberstellung von analog und digital längst am Zerfallen ist. Sei es, weil Bilder im Sinne Bernard Stieglers immer schon „diskret“ waren, also in einzelne Elemente zerleg- und einzeln ansteuerbar, etwa als trennbare Einstellungsgrößen (vgl. Stiegler 2002), oder weil sich die Bereitschaft, das Misstrauen gegen Filmbilder zugunsten einer Annahme ihrer Realität aufzugeben, ohnehin nicht an Indexikalität knüpft, also an jene physische Kontaktkette von Gegenstand zu Licht zu Material, sondern vielmehr an Bewegung, die als Bildbewegung auch in der Computeranimation real ist (vgl. Gunning 2007: 47). Abgesehen davon, dass diese Grundsatzfragen nicht ohne Weiteres zu klären sind, stellt sich wirkungsästhetisch das Problem der Verifizierbarkeit von Bildevidenz. Woran wird ablesbar, ob einem Film Glauben geschenkt wird oder nicht und was nutzt es, das zu wissen? Stiegler diagnostizierte Mitte der 1990er Jahre eine Veränderung des Bilderglaubens, die er am technologischen Wandel hin zum analog-digitalen Bild festmachte.
[T]he conditions in which our beliefs are constituted have entered into a phase of intense evolution. Analogico-digital technology is a decisive moment in this evolution. […] the current phase of suspension in the form of digital photography – engenders an anxiety and a doubt which are particularly interesting, but also particularly threatening. (Stiegler 2002: 149 [O 1995]; Herv. im Original)
Stiegler zeichnete 1995 eine dystopische Entwicklung vor, die von der Erschütterung des Vertrauens in Bilder hin zum postfaktischen Zeitalter und zum Zerfall der Gesellschaft führen könne, „a phantasmagoria that in recent years has given rise to a dangerous doubt which affects democracy, a doubt which is not very far from panic, and which is decomposing the social bond“. (ebd.: 151) Die hypothetische Annahme, dass es Mitte der 1990er Jahre zu einer solchen Erschütterung gekommen sei, möchte ich anhand eines Beispiels untersuchen. Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Film FREE WILLY (USA 1993), der von der Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Wal erzählt und in den 1990er Jahren eine starke paratextuelle Aktivität entwickelt hat. Der Einsatz von CGI am Schauplatz des Wals soll dabei als Modell für den technologischen Umbruch an der Schwelle zum analog-digitalen Bild dienen, wobei der Meeressäuger (sowohl der fiktionale Wal Willy als auch der Darstellerwal Keiko) als kybernetische Metapher verstanden werden kann. Dass 1993 ausgerechnet eines der schwersten Säugetiere der Welt ins Visier der sich von der materiellen Welt zunehmend verabschiedenden Digital-Technik und ihren Steuerungsmöglichkeiten gerät, ist vor diesem Hintergrund symptomatisch.1
Wenn das Kino etwas freisetzt – zumal etwas Großes wie einen dreieinhalb Tonnen schweren Wal – sind die dafür mobilisierten Kräfte nicht leicht wieder einzufangen. So war es mit Willy, der über zehn Jahre das Publikum fesselte. 1996 hatte es seine Geschichte auf die Titelseite des Life Magazine geschafft.2 Der Artikel The happiest Whale in the World. The true – and often harrowing – story of what it took to FREE WILLY erzählte vom Auswilderungsversuch eines 16 Jahre in künstlicher Umgebung gehaltenen Orcamännchens namens Keiko. Das Vorhaben begann mit der Verlegung des 3500 Kilogramm schweren Wals mit einem umgerüsteten Frachtflugzeug der US Air-Force von Mexikostadt nach Newport, Oregon. Ziel dieser aeronautischen Hochleistung war die Freilassung des Wals in natürliche Gewässer, die zum Zeitpunkt des Artikels ausstand – später temporär realisiert wurde.3 Der Artikel nahm Rekurs auf die mediale Begründungsfigur dieser Mission, den Warner Brother Film FREE WILLY, der das Verhältnis von Wal und Mensch im Spannungsfeld unterhaltungsökonomischer Ausbeutung des Wildtiers und aufblühender Ökologiebewegung in einer unterhaltungsökonomisch hocherfolgreichen Befreiungsgeschichte durchspielte, die am Ende im Sprung des Wals über die Hafenmauer ins freie Gewässer mündete.
Der ikonische Sprung über die Mauer, zugleich diegetischer und technischer Höhepunkt des Films, wirkte 1993 auf ein Publikum, das noch keinen grafikfähigen Browser kannte, während das Kino bereits die Plausibilität computergenerierter Bilder auszuloten begann.4 In der Rückschau besitzt die Willy-/Keiko-Story vor diesem Hintergrund einige Erkenntniskraft in Bezug auf die Frage nach dem Verständnis von CGI-Bildern in den 1990er Jahren und ihrem ontologischen Status. Da sich der Übergang von Hardware zu Software in WILLY sprunghaft vollzog – die Integration der Computeranimationen erfolgte hier keineswegs nahtlos – und der Film wenig Anstrengungen unternahm, die dabei freigesetzte Fantasie narrativ einzufangen, erzeugten die Bilder, so die These, einen Überschuss, der postfilmisch eingelöst werden sollte. WILLY markierte damit nicht allein einen mediengeschichtlichen Umschwung, der 1993 auch theoretisch beobachtbar wurde – etwa in den Aufsätzen von Lev Manovich zu Computergrafiken (Manovich 1993) – sondern verlieh einer neuen Unsicherheit Ausdruck, die den Status von CGI-Bildern betraf.
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den inner- und außerfilmischen Folgen des Walsprungs über die Mauer. These ist, dass die in den 1990er Jahren noch nicht integrierbaren Effekte der Animation und das Sichtbarwerden der Kompositionsbilder auch einen epistemischen Sprung anzeigten. Während im selben Jahr Steven Spielbergs JURASSIC PARK (USA 1993) und andere technological thrill films die Frage nach der Auflösung der Realitätsbindung anhand ihrer animierten Bilder reflektierten, traten sie bei WILLY durch das real existierende Tier Keiko in Konflikt mit einem außerfilmischen Realitätsgefüge: Die Hybridfigur Willy – Darstellerwal, Stand-In, Roboter, Modell, Animation – sollte daraufhin außerfilmisch zu einem Walsubjekt Keiko vereindeutigt werden. Im Anschluss an Herbert Schwaabs Überlegung, dass die neuen Optionen der digitalen Bildgebung durchaus zu widersprüchlichen Reaktionen führten, möchte ich argumentieren, dass die Bemühungen der Walbefreiung unter anderem von jenem Unbehagen getragen waren, das durch die „Übersteigerungen der Möglichkeiten digitaler Bildgebungsverfahren“ ausgelöst wurde. (Schwaab 2012: 116) Im Zentrum der Willy-/Keiko-Story stand, so meine ich, weniger die Frage, ob ein Wal in Freiheit gelangen sollte oder nicht, als vielmehr ein übergeordneter Konflikt, der die technologische Entwicklung der Digitalisierung betraf. Der Gegensatz von Freiheit (Übersteigerte Möglichkeit) und Unfreiheit (Unüberwindbarkeit physischer Gesetze) trat dabei im Versuch, ein Tier, das digital bereits befreit werden konnte, auch physisch zu befreien, in Erscheinung.
Im fünf Grad zu warmen Wasser wurde der Wal sichtlich porös, die Haut rissig, die Dorsalflosse beugte sich zur Seite. Der Diegese des Films arbeiteten die Körperreaktionen des gestressten Darstellerwals zunächst zu. Dann jedoch schossen die Unterscheidungsmerkmale über Ziel und Filmhandlung hinaus. Der Walkörper drängte in seinen Krankheitserscheinungen außerfilmisch zur Handlung, die aber narrativ und motivisch durch den Film eingehegt blieb. Die Transformationen, die profilmisch zunächst am technischen Orcamodell in der Animatronik und zuletzt in CGI-Animation vollzogen worden waren, wurden schließlich am Darstellerwalkörper wiederholt: Der Wal wurde aus dem Wasser gehoben, auf Eis gelegt, und mit der Beschriftung ‚This side up’ im Flugzeugbauch verstaut. Das Filmversprechen FREE WILLY schien außerfilmisch einholbar, bis 2003 die Finanzkrise die Projektgelder abfließen ließ und der Wal Keiko (20 Millionen US-Dollar Spendengelder schwerer) unter der Anstrengung kapitulierte. Er verstarb kurz nach seiner Freisetzung vor der norwegischen Küste an einer Lungenentzündung. Wie der Film den Imperativ FREE WILLY ausbuchstabiert und die Differenz zwischen Kino-Wal und Darstellerwal, mithin zwischen Freiheit und Unfreiheit, selbst permanent auftauchen lässt, sollen fünf kurze Sequenzanalysen zeigen.
1. Die Eröffnungssequenz des Films, ein vom Kalenderfotografen Bob Talbot vor der amerikanischen Pazifikküste aufgenommenes Orca-Ballett, nutzt die Wasseroberfläche als glitzernden rosa-blass-blauen Grund, der dem Auf- und Abtauchen der massigen Körper eine Effektbühne bietet.5 Im Klangkolorismus der 1990er Jahre – Willy ist einer der wenigen im damals neuen digitalen Tonsystem L.C. Concept veröffentlichten Filme6 – der mit keybordiger Flöteneinspielung die Zuschauer*innen zwischen Kuschelrock- und Ethnokitsch einpegelt, präsentieren die Orcas ihre Physiognomie: glänzende Schwarz-Weiß-Arrangements, die farblich und geometrisch eine Art Ying und Yang formieren. Sie steigen und sinken abwechselnd. Montage und Kamerabewegungen helfen der trägen Eleganz der Tiere auf die Sprünge, zeigen jedoch, unterstrichen durch Atmo-Sounds, zuallererst ihre Schwere: die vermeintlichen Sprünge müssen als Hinsacken gelten, als ungesteuertes Zurückfallen in die grenzenlose Wassermasse, die diese Masse aufzufangen in der Lage ist. Hier zeigt der Film, mit der Naturfilmen eigenen Emphase auf die freie Wildbahn, das Richtige, bevor er, angezeigt durch das akustische Signal der Warn-Glocke, mit Einsatz der fiktionalen Handlung ins vermeintlich Falsche übergleitet: die optische Apparatur eines Fernglases in der Hand eines Walfängers begrenzt jetzt das vormals weite Blickfeld. Akustisch und motivisch wird angekündigt, dass die Begegnung zwischen dem Protagonisten Jesse und dem Orca Willy unter den Bedingungen der Gefangenschaft stattfinden wird. Das Freundschaftsbändchen zwischen Mensch und Wal wird unter den medialen Gegebenheiten und Einschränkungen des Aquariums geknüpft.
2. Wenn in der Folgesequenz Jesse und ein namenloser Freund von der Polizei verfolgt werden, setzt sich das Thema der Jagd fort. Die Airbrush-Farben der Eröffnungssequenz finden dabei ihr Echo in den Graffiti-Spraydosen, mit denen die beiden randalierenden Kinder die Hinterbühne eines Vergnügungsparks verwüsten. Sie taggen die Wände und beschmieren die Scheiben. Der Raum, den sich die verwahrlosten Jungs vorgenommen haben, entpuppt sich im Verlauf der Einstellung als Rückseite eines Wasserbeckens. Im Einstellungswechsel wird sichtbar, dass es sich um Willys Aquarium handelt: Raumdunkel, Surround-Sound, Aufblitzen des Projektionsstrahls und blitzartig gebündelte Konzentration nach vorne auf die Sichtfenster spielen ein Kinodispositiv durch, in dem der lebensgroße Wal plötzlich als lebendes Bild erscheint. Der blassblaue Screen, bzw. die Scheibe bringt ein aufgesperrtes Tiermaul zum Erscheinen. Im Gegenschuss reißt auch das Kind zum Schrei den Mund auf. Der Blickwechsel zwischen Jesse und Willy ist den medialen Bedingungen dieser Schauordnung geschuldet.7 In einer quasi naturkundlichen Exposition wird die Herausbildung des Bildes vom Tier in der Rahmung einer dreifach durch Sichtfenster zergliederten Halbtotale geleistet. Jesses Frage: „What is that?“, scheint sich auf die ganze Anordnung zu beziehen: That ist offensichtlich nicht eindeutig zu fassen, ist vielmehr Wow, eine mediale Attraktion. Das Wal-Hybrid, eine technische Verschmelzung von Orca und robotischem Stand-In, geht dabei in der Anlage des Delphinariums nur zur Hälfte auf. Dass etwas nicht stimmt mit seinem Willy, erfährt Jesse im Filmverlauf im Gespräch mit einer Meeresbiologin.
3. Die Biologin tritt als Expertin für Meeressäuger und Beziehungsfragen auf. Während das Gespräch um Girl- und Boyfriends kreist (ab jetzt ruft Jesse seinen Wal mit Boy an), offenbart sich die geschlechtliche Konnotation des Orcas. Im Hintergrund ist der Wal wieder in eine Kadrage geraten und Jesse erkennt an der auf einem Plakat abgebildeten Dorsalflosse sogleich den Unterschied zu seinem Willy: „This is not him!“ Mit der Flosse steht und fällt alles. Sie ist als Differenzkriterium markiert, denn die Flosse eines Wals in Freiheit steht aufrecht, in Gefangenschaft knickt sie ein. Die gebeugte Haltung der Flosse wird zum Zeichen kapitalistischer Ausbeutung, die sogleich mit einem „Großen Wort“ für den großen Wal bedacht wird, nämlich der Ware. Jesse begreift in seinen orkafarbenen Nikes, die in Großaufnahme durchs Bild hüpfen, dass ein Wal keine Ware ist. Sogleich macht er sich bereit, als Kinderstar selbst in die Verwertungslogik einzutauchen. Für Willy, der zu wenig Platz hat, um really zu schwimmen, soll ein größeres Becken rausspringen und nicht umgekehrt. Noch richtet sich also die Hoffnung auf eine Lösung innerhalb der bestehenden Ordnung: der Körper des Gefängnisses soll sich dem Gefangenenkörper anpassen. Die Vektoren der Macht sind aber anders gerichtet, sodass diese Dressur scheitern muss – um am Ende einer Meisterdressur, der eigentlichen medialen Attraktion, Platz zu machen. In Vorbereitung auf den finalen Sprung lässt der Film zunächst den bisher gehaltenen Rahmen des Bassins aufspringen.
4. Anstatt die erwarteten Tricks vorzuführen, greift Willy die Schauordnung direkt an. In der ersten Einstellung wird einer kleinen handzahmen Delphinpuppe die Sprengkraft der großen Killerwalattrappe gegenübergestellt. Der Wal, hinter dem auf der Seite der Produktion eine robotische Puppe steckt, rammt das Guckfenster. Diese schockhafte Übertretung signalisiert der Film durch einen kleinen Sprung in der Textur: eine Großaufnahme zeigt, dass die Glasfaserfläche des Delphinariums (außerdem Metapher für Linse und Leinwand) eingerissen ist. Zugleich ist der Sprung in die Faktur des Films verlagert, da der Aufprall doppelt einmontiert ist und als Bildsprung oder Sprungschnitt sichtbar wird. Diese Erschütterung der Materie wirkt nach innen wie nach außen: Wenn der Wal mit dem Kopf die Glaswand durchschlägt, ist zugleich die Trennlinie zwischen visuellem Objekt und Zuschauer*in angegriffen. Der Wal beginnt jetzt sein Milieu aufzulösen, das Wasser fließt aus dem Bassin ab. Zugleich setzt sich eine Auflösung seines filmischen Milieus in Gang. Willy muss raus aus dem angeknacksten Becken, und bald wird das (this side up) auch Keiko müssen. Über das Popcorn in der letzten Einstellung der Sequenz mit dem Profiteur synchronisiert, ist der/die Kinobesucher*in vor den absaufenden Wal gestellt bzw. vor die Wahl zwischen passiver Schaulust und Intervention. Diesen Körper von Gewicht, der über Land kaum bewegt werden kann, in eine Schwerelosigkeit zu versetzen, ist in der Folge nicht nur dem Film Anstoß für neue Möglichkeiten.
5. Während die Dressur- und Nahaufnahmen mit Keiko, dem Darstellerwal, im Reino Aventura Erlebnispark in Mexiko City entstanden und über 50 Prozent mit einer aqua-animatronischen Roboterpuppe aufgenommen wurden, handelt es sich bei dem finalen Sprung um Kompositionsbilder aus Live-Action-Shots, die am Hammond Mooring Basin in Astoria, Oregon entstanden und computergenerierten Bildern. Merkwürdig an dieser finalen Sequenz ist, dass die animierten Bilder in WILLY kaum Einfluss auf die Bildästhetik der gefilmten Bildanteile haben, so dass keine wirkliche „Integration von Animation und Live Action“ (Richter 2008: 69) entsteht. Während die mechanisch operierende Aqua-Animatronik mit Walt Conti einen erfahrenen Special-Effect-Designer am Set hatte, über den es an anderer Stelle hieß „Walt Conti is freeing filmmakers!“8 und die Integration der Roboter in einen Bildraum mit dem Darsteller-Wal gelingt, überrascht, wie wenig technische Anstrengung in der letzten Sequenz unternommen wurde, die unterschiedlichen Bildmaterialien einander anzugleichen.
Der Freiheits-Sprung am Ende wird sogar diegetisch in Zweifel gezogen: „Did you ever see him jump that high?“, fragt die bis zum Bauch in der Bucht stehende Meeresbiologin. Der müde Anlauf der massigen Film-Figur lässt die Zuschauer*innen still verneinen. Allein der ebenfalls im Wasser stehende Indianer weiß es besser: „Things can happen“ – im Kino. Auf der Tonspur wird eine magische Beschwörungsformel aufgegriffen, die als neoprimitivistisches Glaubensbekenntnis in die Vielstimmigkeit eines Chors gesteigert wird: Alles ist an dieser Stelle möglich oder wird möglich gemacht. Indianermythos, Magie und Animation steigern den Sprung ins Ereignishafte. Blieben die mechanischen Animationen des Films bisher im Hintergrund, dürfen die computergenerierten Bilder nun (und das ist die eigentliche Attraktion) einen ganzen Bewegungsablauf herstellen. Mit optisch fragwürdiger Anmutungsqualität wird der Wal im letzten Akt der Spielfilmhandlung in einen Flug versetzt. Die digitalen Mittel sind hier nicht verborgen, sondern treten explizit in Erscheinung. Es wird weniger der Versuch unternommen, den Sprung fotorealistisch abzuwickeln, als ihn zur Schau zu stellen (vgl. Von Kapp-herr 2018). Nicht nur dem Wal gelingt mithin der Durchbruch, sondern auch einer jungen Technologie – noch heute heißt eine CGI-Firma Willy Jump. Die „Effekte de[s] Special Effects“ (Wedel 2017) zeigen sich in den epitextuellen Wellen, die dieser Sprung auslöst.
Folgt man der These von Johannes Binotto, dass sich das „Unbewusste der Filmtechnik“ immer wieder Ausdruck verschafft, indem sich in der Darstellung ein Riss zeigt, und zwar nicht unbedingt kalkuliert, sondern als Durchbruch der Fantasie (vgl. Binotto 2017), ist es auffällig, dass der Film am Ende keinen Beweis dafür erbringt, dass Willy sicher gelandet ist. Bis auf eine Einstellung enthält er dem/der Zuschauer*in eine zum Abschied winkende Fluke oder ein Widerauftauchen des Wals als Versicherung der erzählten Welt vor und zeigt zunächst nur eine bewegte Wasserfläche. Es ist diese leere Fläche, die den Realitätsstatus der Befreiung stärker in Zweifel zieht, als die CGI. Denn die auf das Spektakel folgende Leere verstärkt den Eindruck, dass es im Grunde der Junge Jesse ist, der hier eine kindliche Allmachtfantasie verabschieden muss und mit einem tränen-erstickten „Gonna miss you, Boy – hope to see you one day“ in der Realität ankommt. Diese Realität des Abschieds von der Illusion „Things can happen“ trifft in den 1990er auf das Versprechen „Anything goes“, das sich gerade an die Möglichkeiten des Digitalen bindet.
Während also die computergenerierten Bilder das Tier quasi-magisch über die Mauer tragen – betrauert die letzte Einstellung zugleich die Unmöglichkeit dieser Illusion in der physischen Welt. Damit aber hängt der Status des Wals erklärtermaßen in der Luft. In den 1990er Jahren erzeugt die vom Film erklärte visuelle Gewissheit darüber, dass der Sprung am Ende völlig aus der Luft gegriffen ist, dem Publikum ein Desiderat, das vom Life Magazine als ‚Paradoxon’ aufgegriffen wird: während der Kino-Wal, so heißt es, in die Freiheit springt, bliebe der Darstellerwal paradoxerweise gefangen. Der Sprung durchzieht nun also auch die Kino-Ordnung und öffnet sie in Richtung Realraum bzw. umgekehrt: Die Free-Willy-Foundation ruft sich ins Leben und schreibt ihr Spendenkonto in die Paratexte des Films hinein. 600.000 Grundschulen sammeln Gelder, Telekommunikationsunternehmer Craig McCaw, der zu diesem Zeitpunkt über ein Vermögen von 11.5 Billionen Dollar verfügt, spendet nach der Lektüre des Life Magazine Artikels den noch fehlenden Rest. Dass das Anliegen dieser Befreiung durch die Kino-Narration in Kraft gesetzt bleibt, wäre vielleicht paradox zu nennen. Das technisch-imaginäre Bild des fliegenden Wals jedenfalls wird von der US Air-Force eingelöst, wenn sie per air-lift den Wal in die Freiheit verfrachtet.
„The Plight of an Orca Known As Willie Inspired a Flood of Support. After a Two-Year Struggle, the Gentle Giant Is Almost Home,” versprach noch Ende der 1990er Jahre das Life Magazine. Es ließe sich bei den Reaktionen, die dem Film folgten, unter Umständen von einer kollektiven Bildkritik sprechen, die den fiktionalen Charakter der Filmhandlung vor Augen stellt, wenn nicht die kindliche Protestbewegung sich im Gegenteil dazu verschrieben hätte, die Filmhandlung ‚wahr‘ zu machen. Die Dringlichkeit der Unternehmung Free Willy/Keiko lässt sich vor dem Hintergrund einer Digitalen Ästhetik zumindest in zwei Richtungen interpretieren: Zum einen scheint darin der Druck auf, die Simulation zu realisieren und den Widerstand der physischen Welt zu überwinden. In dieser Perspektive wäre Willy ein früher Ausläufer jener Trugbilder des Silicon Valley, die in den 10er Jahren zu teils fantastischen Unternehmensgründungen führten.9
Zum anderen lässt sich der Auswilderungsversuch im Gegenteil auch als Experiment auslegen, mit der materiellen Welt in Kontakt zu treten und ihre Unhintergehbarkeit unter Beweis zu stellen. Fragen wie: Lässt sich ein gezähmtes Tier auswildern? Übergeordnet: Lässt sich der menschliche Eingriff rückgängig machen? richteten das Begehren auf eine Welt jenseits der Simulation. In der Willy-/Keiko-Story treffen in dieser Lesart vom Film weitgehend unabhängige Forschungsinteressen auf durch das filmische Starsystem eingeräumte finanzielle Möglichkeiten. Nach dem Scheitern des Keiko-Experiments sollte die Formel eigentlich klar sein: Man kann zwar digital einen ‚Wal‘ programmieren, aber einen physischen Wal eben nicht. Doch diese Rechnung wäre ohne das Kino und seine Mischformen gemacht. Denn hier bleiben die physischen Wal-Anteile (Wassertemperatur, Hautprobleme, Verhaltensauffälligkeiten, Verstörung, Lungenentzündung) mit den Wunschanteilen „anything goes“ verbunden. Daher wird es kaum gelingen, den ungeklärten Status dieser errechneten und gerenderten ‚Bilder‘ des fliegenden Wals in eine Richtung aufzulösen. Laut Herbert Schwaab gibt es bisweilen einen Moment im digitalen Film,
der auf das Digitale als Möglichkeit oder Gefahr einer narzisstischen Konstruktion von Welt verweist, nämlich darauf, dass wir in dieser Bildkultur auf unsere Imagination beschränkt bleiben und nicht mehr mit der äußeren Welt in Kontakt treten. Zugleich gibt er dem Gefühl Raum, dass wir raus wollen aus dieser Konstruktion, dass wir eine Welt jenseits unserer Vorstellung ersehenen, ein Versprechen, dass immer mit Film verbunden gewesen ist. (Schwaab 2012: 130)
Der über der Mauer schwebende WILLY lässt sich im Lichte dieser Überlegung als Kippfigur auffassen, die jener von Schwaab konturierten Ambivalenz von „potentielle[r] Auflösung der Welt“ in der Animation und „Rückbindung des Digitalen an die Realität“ Gestalt gibt.
Der Auftrag an Willy, den finalen Sprung zu machen, „you can be free“ kann Mitte der 1990er Jahre auch auf die Bilder des Films bezogen werden: CGI löst hier eine Hyperflexibilität aus, die sich von jener eingeschränkten Bewegungsmöglichkeit in Tricktechnik animierter Modelle unterscheidet bzw. befreit. Die Frage nach der schwindenden Realitätsbindung dieser flexiblen Bilder mag grundsätzlich falsch gestellt sein, weil Filmbilder (ob CGI oder nicht) per se in erster Linie auf sich selbst und ihre eigene Realität verweisen. Wenn etwa im selben Jahr Steven Spielbergs JURASSIC PARK, wie André Wendler gezeigt hat, „,realistische‘ Dinosaurierbilder als the real thing zelebriert“ und der Film damit als fester Container erscheint, „in dem sich [...] Bild und Abgebildetes gegenseitig stabilisieren und hervorbringen,“ (Wendler: 2012) erübrigt sich das Problem.
Die Willy-/Keiko-Story erscheint gerade vor dieser Kontrastfolie als ein merkwürdig instabiler und prekärer Zusammenschluss filmischer und nicht-filmischer Welten, in dem die Steuerbarkeit virtueller und materieller Akteure verhandelt wurde. Dabei setzte der Film Kräfte frei, die zehn Jahre lang (bis zur Finanzkrise 2003) nicht wieder einzufangen waren. Genauso wenig einzulösen war das Versprechen der Walfreiheit. Bis zum Tod des Orcas vor der norwegischen Küste blieb die Aufforderung: You can be free! stets mit einem gehorsamen Nicken unbeantwortet. FREE WILLY – ein Diminutiv des freien Willens verkörpert von einem zahmen Riesen – blieb eine riesen Dressurübung: der menschliche Versuch, einem Wal beizubringen, ein wildes Tier zu sein. Das Scheitern, finanziell verknüpft mit dem Ende der New Economy, fiel im Umweltdiskurs, noch bevor die Rede vom Anthropozän war, mit dem Ende von Wiederherstellbarkeitsfantasien zusammen. Dass Willy einfach dahin zurückkehrt, wo er herkam, sich eben nicht umdreht, sondern in der spiegelnden Wasserfläche abtaucht und verschwindet, ist, so ließe sich die finale Einstellung verstehen, eine traurig-menschliche Vorstellung der Selbsttilgung aus diesem Bild längst verschobener Ordnungen. „Will you be there?“ befragt Michael Jackson im Credit Song das imaginäre Gegenüber. Will you? Darin ist das Wort Willy fest verstrickt in eine menschliche Frage, auf die Jackson eine treffende Antwort findet: „I’m only human.“
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