Das Beispiel BLACK MIRROR: BANDERSNATCH
Das lineare Fernsehen gerät zunehmend in Konkurrenz zu nicht-linearen, digitalen Distributionsplattformen wie Netflix, Amazon Prime, Maxdome etc. Dieser Prozess hat auch strukturelle und inhaltliche Konsequenzen für die bei Video-on-Demand-Anbietern zur Verfügung stehenden Programminhalte. Denn es handelt sich dabei nur auf den ersten Blick um eine reine Veränderung von Distributionswegen, vielmehr führt dieser Medienwandel auch zu Transformationen dramaturgischer und erzählerischer Strategien in ihrem dispositiven Zusammenhang.1
Besonders signifikant in dieser Hinsicht ist das Angebot des Video-on-Demand-Anbieters Netflix, das seit dem Jahr 2017 interaktive Formate integriert. Die Struktur des interaktiven Films wurde im Nischensegment bzw. der Peripherie des Kinderfilms auf der Plattform eingeführt, etwa in der auf den populären SHREK-Filmen (USA 2001–2010) basierenden Produktion DER GESTIEFELTE KATER UND DAS MAGISCHE BUCH/PUSS IN BOOK: TRAPPED IN AN EPIC TALE (USA 2017) oder innerhalb der Stop-Motion-Animationsserie BUDDY THUNDERSTRUCK (USA 2017). Während diese Erzählexperimente auf einer für Kinderformate üblichen kürzeren Laufzeit basieren, rückte der interaktive Film 2018 ins Zentrum der Angebote der Plattform, als zwischen Staffel vier und fünf eine filmische, interaktive Auskopplung der seit Staffel 3 Netflix-exklusiven und sehr populären Serie BLACK MIRROR (GB seit 2011) mit dem Titel BLACK MIRROR: BANDERSNATCH (GB 2018) veröffentlicht wurde. Wie alle interaktiven Formate auf Netflix lässt sich auch BANDERSNATCH tatsächlich nur auf kompatiblen Geräten nutzen2 und steht damit in einem eigenen und von linearen filmischen Formaten unterscheidbaren dispositiven Zusammenhang.3
Der vorliegende Beitrag möchte diese Veröffentlichung nun im größeren Kontext des digitalen Medienwandels in Bezug auf filmische Formate verorten: Erstens wird dargelegt, inwiefern sich BANDERSNATCH in die übergeordnete inhaltliche Struktur der Serie BLACK MIRROR und deren narratives Programm der Technikdystopie einfügt und in welcher Hinsicht sich Verschiebungen durch das interaktive Format ergeben. Zweitens wird die Interface-Ästhetik von BANDERSNATCH sowie die Entscheidungsstruktur insgesamt in der Mediengeschichte des interaktiven Films verortet und diskutiert, welche Darstellungs- und Erzählstrategien bereits aus anderen medialen Formen wie dem Video- und Computerspiel bekannt sind und inwiefern sich demgegenüber Modifikationen aus dem vorliegenden Wechselspiel zwischen Film und Interaktion ergeben. Drittens wird der Frage nachgegangen, welche generellen Diskurse und Strukturen interaktiver Medien sich in diesem Kontext manifestieren und inwiefern in BANDERSNATCH Wissensmengen zu digitalen und analogen Medien produziert werden.
Vorweg ein kurzer Hinweis zur Definition des ‚interaktiven Films‘. Dieser ist begrifflich problematisch, weil Interaktivität an sich bereits ein unscharfer Begriff ist, der auf unterschiedliche Dimensionen abzielen und qualitativ Unterschiedliches konnotieren kann (vgl. zum Begriff ausführlich Hennig 2017). Robert Pfaller macht demgegenüber explizit auf die ideologische Dimension des Begriffs aufmerksam: „Der Begriff der Interaktivität ist kein theoretischer. Vielmehr haben wir es mit einem ideologischen Begriff zu tun, der seinen Ursprung nicht in einem Bestreben nach Erkenntnis, sondern in bestimmten Wünschen, Hoffnungen und Illusionen hat.“ (Pfaller 2011: 17) Pfaller beschreibt den Ruf nach Interaktivität vornehmlich als Ausdruck neoliberaler Ideologien, die in der aktiven Rezeption einen genuinen Mehrwert identifizieren, womit gleichzeitig jedoch spezifische Rezeptionsqualitäten unterbunden würden. Auf die hiermit angesprochene Ebene der kulturellen Funktionen und ideologischen Dimensionen der Inszenierung von Interaktivität gilt es daher im Folgenden ein besonderes Augenmerk zu legen.
Umgekehrt ist im Kontext von digitalen Spielen, in deren Umfeld der Begriff konventionell Verwendung findet, wiederum uneindeutig, wann einem interaktiven Format ein ‚filmischer‘ Charakter bescheinigt werden kann. Diese Probleme stellen sich im Kontext von Netflix allerdings weniger, da sich hier umgekehrt sämtliche interaktiven Formate – egal wie die Qualität und Reichweite der Interaktion bewertet wird – von dem medialen Umfeld der im Schwerpunkt linearen Angebote der Streaming-Plattform unterscheiden. Als heuristische Definition, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, sollen interaktive Filme als Formate verstanden werden, die aus einem virtuellen Pool an Filmsequenzen bestehen, von denen stets nur ein Teil im filmischen Syntagma aktualisiert wird.4 Die Nutzer*innen treffen dabei wiederkehrend über eine Interfacestruktur, die eine Auswahl aus zwei textuell oder bildlich repräsentierten Handlungsalternativen ermöglicht, Entscheidungen, auf deren Grundlage paradigmatisch unterschiedliche Sequenzfolgen realisiert werden.
Hans Krah kategorisiert serielle Formen, anders als ein Großteil der Serienforschung, nicht nur über unterschiedliche Modelle des Erzählens (Discours), sondern im Anschluss an die Raumtopologie des Kultursemiotikers Jurij Lotman (vgl. Lotman 1993) auch über semantische Aspekte des Erzählten (Histoire) und die Frage, inwieweit die Weltmodelle und Ereignisse der einzelnen Episoden zusammenhängen (vgl. Krah 2010). Nach dieser Typologie wäre BLACK MIRROR als Reihe (wie zum Beispiel der TATORT) einzuordnen.5 Die Reihe bezeichnet Einzeltexte „die allerdings durch spezifische Discours-Merkmale gebunden sind [etwa den Serienvorspann, M.H.], die das Textkorpus als serielles Format kennzeichnen.“ (Krah 2010: 95). Die einzelnen Elemente der Reihe sind dabei in sich ereignishaft und narrativ abgeschlossen (vgl. Krah 2010: 95f), wobei das narrative Programm der Reihe in der Regel zwar konsistent bleibe, jede Episode aber jeweils unterschiedlichen Leitdifferenzen folge:
So geht es in der JAMES BOND-Reihe zwar letztlich immer um das narrative Programm ‚Weltrettung‘, die Struktur dieser geretteten Welt ist aber immer eine andere (und insofern ist auch keine Sukzession gegeben und spielt eine solche keine Rolle; die Folgen A und B sind in beliebiger Reihenfolge kombinierbar und konsumierbar). (Krah 2010: 96)6
Das rahmengebende narrative Programm von BLACK MIRROR (wie auch das von ähnlich gelagerten Reihen wie PHILIP K. DICK’S ELECTRIC DREAMS, GB seit 2017) ist nun das der Technikdystopie: Jede Episode schildert eine technische Innovation, die in der Regel bestehende Tendenzen der Digitalisierung weiterdenkt und als Katalysationsinstanz sozialer oder kultureller Probleme wirkt – der Serientitel verweist in dieser Hinsicht auf die Oberflächen digitaler Medien, die der Gesellschaft den Spiegel vorhalten (vgl. zur Serie insgesamt Rudner 2014). Im Angesicht unterstellter Zäsuren durch die Digitalisierung werden dabei Menschenbilder sowie Modelle von Welt und Wirklichkeit neu verhandelt, wobei die Serie einen für (Techno-)Dystopien üblichen, kritisch-didaktischen Grundton trägt, der „wiederum moralisch eindeutig werten will“ (Preußer 2013: 160).
Im interaktiven Film BLACK MIRROR: BANDERSNATCH wird nun die Geschichte des jugendlichen Computerspielprogrammierers Stefan erzählt, der im Jahr 1984 (!) bei der Arbeit an der Software-Umsetzung des interaktiven Abenteuer-Spielbuches ‚Bandersnatch‘7 mit seinen vielfältigen möglichen Handlungspfaden und Entscheidungssituationen einen sukzessiven Selbstverlust erleidet, da er selbst das Gefühl gewinnt, in seinen Entscheidungen von einer übernatürlichen Macht gesteuert zu werden.
Die Handlung erfordert dabei ca. alle 90 Sekunden eine Entscheidung der Zuschauer*innen, bei der sie stellvertretend für Stefan eine von zwei Handlungsoptionen in einem eingeblendeten Interface wählen müssen – bleiben sie tatenlos, wird automatisch eine Alternative ausgewählt. Die Entscheidungen subsumieren sich schließlich in bis zu 15 unterschiedlichen Endsequenzen. Die Zählungen variieren, je nachdem, was tatsächlich als Ende bewertet wird, denn zum Beispiel führen einige Entscheidungen in Sackgassen, welche ein vorzeitiges Ende der Geschichte bedeuten und die Nutzer*innen zwingen, die zuletzt getätigte Entscheidung zu wiederholen. Tatsächlich endgültigen Charakter besitzen weit weniger Handlungsverläufe (insofern nur einzelne Endvarianten durch entsprechende paratextuelle Marker wie eine Abspannsequenz überhaupt als solche ausgewiesen werden). Dennoch ergibt sich insgesamt eine relativ komplexe Verzweigungsstruktur. Im Internet haben Rezipient*innen von BANDERSNATCH deshalb diverse Pfaddiagramme des Handlungsverlaufs erstellt.
Auf paradigmatischer Ebene lassen sich nun allerdings über alle Varianten hinweg einige grundlegende Feststellungen treffen:
1. Ein thematisches Leitmotiv des Films bildet ein recht traditionelles Künstlerbild. Einige Handlungsvarianten enden mit einer Sequenz, die eine TV-Kritik des von Stefan diegetisch entwickelten Computerspiels ‚Bandersnatch‘ darstellt. Nur wenn sich Stefan vorher für eine exzessive Lebensweise und den Konsum von bewusstseinserweiternden Drogen entschieden hat, umgekehrt keine Erhöhung seiner psychiatrisch verordneten Medikamentendosis vollzieht und sein Lebensweg im Selbstverlust endet, bekommt das Spiel die Bestwertung und wird als Kunstwerk gepriesen. Entschließen sich Stefan respektive die Nutzer*innen auf der anderen Seite dafür, seine Spielidee statt in einsamer Heimarbeit im Kontext der finanziellen Sicherheit eines großen Spielekonzerns zu entwickeln, wird dies als ein Verrat an Stefans künstlerischen Idealen bewertet und Stefans Spiel erhält 0 von 5 Punkten.8 Hinzu kommen die verhandelte psychische Disposition (Angstzustände, Paranoia) und die soziale Isolation des Protagonisten, die kulturelles Wissen zum Stereotyp des Künstler-Genies bedienen.
2. Mit diesem Bild verkoppelt fixiert BANDERSNATCH Stefan in allen Varianten der Erzählung in einer fremdbestimmten Handlungsposition. Insgesamt gibt es auf keinem der Handlungspfade ein Happy End: Stefan stirbt in mehreren Erzählverläufen oder landet für seine Taten im Gefängnis, da er sich aufgrund des zunehmenden Gefühls der Fremdsteuerung nicht länger verantwortlich für seine Handlungen fühlt. Deshalb können er bzw. die Zuschauer*innen an einem Punkt gar Stefans Vater zerstückeln, was dann im Folgenden entdeckt und bestraft wird.
3. Das Motiv der Fremdsteuerung wird in einigen Handlungspfaden intradiegetisch festgemacht, insofern Stefan sich als Opfer einer Verschwörung entpuppt, die ihn ein Leben lang manipuliert hat. In einem anderen Erzählstrang versucht Stefan den frühen Unfalltod seiner Mutter im Rahmen einer Zeitreise zu verhindern, scheitert jedoch und stirbt gemeinsam mit ihr. In einigen Pfaden wird die Fremdsteuerung allerdings auch extradiegetisch verortet: Stefan durchbricht dort in narrativen Metalepsen die vierte Wand zu den Zuschauer*innen und adressiert diese unmittelbar: „Who’s doing this to me?“.
4. Passend zum interaktiven Kontext und zum thematisch explizit gemachten Sujet der Fremdsteuerung, in dessen Rahmen Stefan im Grunde als Avatar der Spieler*innen inszeniert ist, sind in BANDERSNATCH auf mehreren Ebenen Computerspieldiskurse integriert. Dies betrifft zum einen natürlich die Handlung um die Entwicklung eines Computerspiels selbst. Zum anderen werden rezeptionsästhetische Spezifika interaktiver Handlungsszenarien verhandelt. So zweifelt Stefans Psychologin die von ihm wahrgenommene (Spiel-)Situation der Fremdsteuerung an: „So why aren’t you in a more entertaining scenario? I mean, wouldn’t you want a little more action if you were watching this on telly?“. Daraufhin erzwingt der auf die Dialogzeile folgende Auswahlbildschirm eine Veränderung des Szenarios und offeriert lediglich eine Auswahl zwischen „Yes“ und „Fuck Yeah“. Egal welche Möglichkeit man wählt, es beginnt eine hyperbolische Kampfsequenz mit der Psychologin (inkl. Schlagstöcken), die weniger handlungslogisch, denn diskursiv als Referenz auf gängige, hyperbolische Computerspieltopoi motiviert ist. So ähnlich folgt die bereits erwähnte Pfadvariante, in der es möglich wird, Stefans Vater umzubringen, ebenfalls auf eine Erkenntnis der Fremdsteuerung, bei der sich die Nutzer*innen über eine Nachricht als steuernde Instanzen für Stefan zu erkennen geben. In beiden Fällen werden nach Verweisen auf die tatsächliche Nutzungssituation moralische oder gattungsästhetische Normen der Diegese außer Kraft gesetzt, was wiederum gängige Vorurteile und Annahmen gegenüber einer sowohl medial9 als auch normativ grenzüberschreitenden Computerspielkultur (vgl. die Debatten zu Gewalt in Computerspielen, zur Computerspielsucht etc.) aufruft. Die Beziehung zwischen Nutzer*innen und Stefan transformiert damit zu einer Avatar-Spieler*innen-Relation, womit der Film für die Rezipient*innen insgesamt den Charakter eines spielerischen Selbsterprobungsszenarios gewinnt.
5. Nicht alle möglichen Enden der Geschichte sind unmittelbar erreichbar, es existieren eine Reihe von Easter Eggs und versteckte Pfade, die abhängig von den Entscheidungen in früheren Durchgängen aktiviert werden. So wird nach mehrmaligem Durchlauf eine zusätzliche Sequenz freigeschaltet, in der ein QR-Code versteckt ist, der nach der Entschlüsselung auf die Webseite10 des fiktiven Computerspielherstellers Tuckersoft verweist, auf der man wiederum eines der im Film besprochenen Spiele herunterladen und auf einem Emulator der entsprechenden Hardware aus dem Jahr 1984 auch spielen kann.
Von dieser grundlegenden Struktur ausgehend fallen in Bezug auf das Verhältnis der Serie BLACK MIRROR zu BANDERSNATCH vier Aspekte gesondert ins Auge:
(i) Die Struktur von BANDERSNATCH geht einher mit einer hohen Dichte an intertextuellen Referenzen auf die rahmengebende Serie. So weist die Folge intraserielle Hinweise auf fast alle vorhergehenden BLACK MIRROR-Episoden auf. Zum Beispiel tragen die in der Spieleproduktionsfirma entwickelten Werke die Titel vorheriger BLACK MIRROR-Folgen oder es sind in einem filmischen Insert, welches eine Zeitungsseite einblendet, auf der Stefans weiteres Schicksal geschildert wird, drei weitere Artikel untergebracht, die jeweils auf eine vorhergehende Episode verweisen. In BANDERSNATCH wird über diese Intertextualität eine diegetische Kohärenz der Serie akzentuiert. Derartige Verweisstrategien finden sich zwar in der Serie generell (eben auch um Kohärenz im Reihenzusammenhang zu stiften), werden in der hier vorliegenden Dichte jedoch erst im Kontext des Quasi-Medienwechsels auf ein interaktives Format realisiert. Damit erhält BANDERSNATCH einen Meta-Charakter in Bezug auf die Serie insgesamt, insofern als dem Film eine Verknüpfungsfunktion zukommt.
(ii) Der Film schildert dabei auf thematischer Ebene – im Gegensatz zum narrativen Programm der Serie – keine Technikdystopie im engeren Sinne, sondern die Geschichte einer spezifischen psychischen Disposition bzw. des mentalen Selbstverlusts des Protagonisten.11 Der dystopische Charakter von BANDERSNATCH ergibt sich erst aus der interaktiven Nutzungssituation, liegt also ebenfalls auf einer Metaebene. In deren Rahmen wandern Diskurse um Macht und Autonomie innerhalb interaktiver medialer Dispositive – zu denen BANDERSNATCH selbst gehört – auf die Inhaltsebene der Episode. Genauer bildet sich die konkrete mediale Nutzungssituation von BANDERSNATCH in der erzählten Geschichte selbst ab. Auf dieser Grundlage inszeniert der Film eine vierfache Homologie: Genau wie die Leser*innen des fiktiven Abenteuer-Spielbuches ‚Bandersnatch‘ sich der vom Autor konstruierten interaktiven Struktur zu fügen haben, müssen es die Spieler*innen der von Stefan entwickelten Computerspieladaption; gleichzeitig untersteht Stefan der Entscheidungsmacht der Zuschauer*innen, die wiederum von der Struktur der Episode BANDERSNATCH abhängig sind. Im Rahmen dieser Homologie unterwirft die Autor*inneninstanz und wird jeweils auf der nächsthöher gelegenen Ebene dieses Schemas unterworfen, was wiederum auf das Episodenthema der Ambivalenz von Selbst- und Fremdsteuerung verweist.
(iii) Ausgehend von der poetischen Funktion nach Jakobson (1979) ist es das generelle Prinzip von poetischer Sprache, das Prinzip der Äquivalenz vom Paradigma (die Ebene der Auswahl von Textelementen; etwa von Wortklassen im sprachlichen oder von Einstellungen im filmischen Text) auf das Syntagma (die Ebene der Kombination von Textelementen in einem konkreten Text) zu projizieren. Über das Metrum, Metaphern, formale Auffälligkeiten etc. wird der Text in seiner linearen, syntagmatischen Entfaltung mit zusätzlichen Bedeutungsebenen aufgeladen, die gerade auch auf Wiederholungsstrukturen basieren (Reime, wiederkehrende Motive, wiederholtes Aufrufen einer spezifischen Referenz- oder Konnotationsebene, Selbstreferenzen etc.). In seriellen Formaten wird dieses Wiederholungsverhältnis noch potenziert, produziert aber zwangsläufig auch ein erhöhtes Maß an Redundanz – das ist die allgemeine Relation, die in der Serienforschung als Komplementärverhältnis zwischen Schema und Variation geläufig ist (vgl. hierzu näher Eco 1989). Reihen wie BLACK MIRROR zeichnen sich nun insbesondere dadurch aus, dass sie diesen Prozess der Paradigmatisierung ästhetisch gezielt ausstellen. Grundsätzlich stiften sie „eine serielle Ordnung […], die nicht so sehr daran interessiert ist, die Gemeinsamkeiten der einzelnen Installments ästhetisch auszustellen, sondern vielmehr deren Diversität“ (Sudmann 2017: 152). So integriert die Serie BLACK MIRROR ganz unterschiedliche Erzählgenres: Entführungsthriller, Psychothriller, Horror, Science-Fiction, Charakter- und Gesellschaftsdramen, Komödien oder romantische Erzählungen. Die serielle Verkettung der einzelnen Episoden wird dann überhaupt nur noch – neben Gemeinsamkeiten im Discours (Vorspann etc.) – über gemeinsame Paradigmen und Leitdifferenzen hergestellt, die sich in BLACK MIRROR aus dem narrativen Format der Technikfiktion speisen (etwa Kultur vs. Natur; ethische vs. unethische Forschung usw.). BLACK MIRROR: BANDERSNATCH potenziert im Sinne ‚serieller Überbietung‘12 nun wiederum genau dieses Prinzip auf nicht-linearer, vertikaler Ebene: Es reproduziert in sich noch einmal das Format der Reihe und stellt über die unterschiedlichen parallelen Erzählpfade Varianz innerhalb eines Formats heraus. Die Erzählpfade entbehren dafür im Verhältnis zueinander zum Teil massiv diegetischer Kohärenz – so steht die Episode über den Mord am Vater auf Ebene der vermittelten Werte und Normen prinzipiell in Opposition zu dem Pfadverlauf, in dem es umgekehrt gilt, Stefans Mutter vor dem Tod zu bewahren – und werden nur noch lose über die Verhandlung der Grundopposition ‚Autonomie vs. Heteronomie‘ und damit den Verweis auf die gleichbleibende Nutzungssituation bzw. die mediale Oberfläche zusammengehalten. Diese Strategie ist wiederum funktional für das Format des interaktiven Films.
In der Geschichte von Film und Fernsehen hat es etliche Versuche gegeben, Interaktionen mit den heimischen Zuschauer*innen zu integrieren. Dies reicht von Publikumseinbindungen bei Spielshows über Telefonanrufe13 bis hin zu Entscheidungen über den weiteren Verlauf einer erzählten Geschichte, die je nach Dispositiv unterschiedlich realisiert wurden: Im Kino etwa über nur simulierte Abstimmungen des Schicksals des titelgebenden Antagonisten (vgl. MR. SARDONICUS (USA 1961)), wo tatsächlich aber nur ein Bestrafungsende existierte, was stets unabhängig von der per Handkarte realisierten Abstimmung im Kinosaal gezeigt wurde), im Fernsehen als Publikumsabstimmung per Telefon oder über das Internet (vgl. TERROR: IHR URTEIL, D 2016) oder auf DVD über ein erweitertes Menü-Interface (vgl. FINAL DESTINATION 3, USA 2006).
Gegenüber diesen Beispielen, die stets eine Zäsur zwischen Film und Interaktion bedingen, ist in BANDERSNATCH medienästhetisch auffällig, dass der Wechsel zwischen Film, Interface und Interaktion hier annähernd bruchlos14 verläuft, insofern die Auswahlmöglichkeiten im Interface stets während laufender Filmsequenzen eingeblendet werden, die den Protagonisten beim Sinnieren über seine Handlungsmöglichkeiten zeigen.
Diese rahmenden Filmsequenzen sind wiederum einige Sekunden länger bemessen als die Einblendedauer des Interfaces, sodass die von den Zuschauer*innen ausgewählte Handlungsvariante währenddessen bereits laden und unmerklich die Filmsequenz des sinnierenden Protagonisten substituieren kann (d. h. sie wird framegenau auf diese übergeblendet), sodass jegliche strukturelle Zäsur zwischen Entscheidung und Konsequenzwiedergabe unterbunden wird.
Dies ist auch im Kontext der sonstigen interaktiven Netflix-Produktionen nicht selbstverständlich. So werden etwa die Entscheidungssituationen in DER GESTIEFELTE KATER UND DAS MAGISCHE BUCH als Referenz auf die literarische Märchenvorlage über einen simulierten Medienwechsel integriert: Zu sehen ist jeweils eine Auswahlsituation aus verschiedenen Seiten eines Märchenbuchs.
In diesem Fall ist folglich ein deutlicher Bruch zwischen Entscheidungsinterface und Filmsequenzen vorhanden und wird ästhetisch funktionalisiert, denn thematisch geht es dezidiert um eine mediale Grenzüberschreitung, insofern der gestiefelte Kater in die literarische Welt eines Märchenbuches versetzt wird. Interessanterweise steht allerdings auch hier ein Autonomiekonflikt im Mittelpunkt, nämlich zwischen dem gestiefelten Kater und einer sehr präsenten Erzählinstanz, die den Protagonisten in das titelgebende magische Buch befördert. Dort entfaltet der Erzähler als klassisch-literarischer, machtvoller und auf die Autonomieansprüche des Katers sarkastisch reagierender Autor seine Handlungsmacht über den Protagonisten. Die interaktive Handlungssituation der Zuschauer*innen wird für den Protagonisten also hier ebenfalls als ‚Gefängnis‘ inszeniert, das mit der spezifischen Medialität des Buches verknüpft ist. Die Situation kann in diesem Fall jedoch überwunden werden, da der ‚Autor‘ schlussendlich auf die intradiegetische Ebene wandert, sich dort als einer der üblichen Antagonisten des gestiefelten Katers offenbart und besiegt wird.
Allerdings wird durch den im Interface aufgerufenen medialen Kontext des Märchenbuchs das für DER GESTIEFELTE KATER UND DAS MAGISCHE BUCH letztlich nach wie vor vorgängige Prinzip der Linearität ausgestellt. Das Format kann nur sehr eingeschränkt als interaktive Erzählung gelten, da es als Produktion für Kinder eine weit weniger komplexe Verzweigungsstruktur aufweist: Strukturell wird jeweils lediglich eine Auswahl zwischen zwei Geschichten offeriert, wobei abhängig von der Entscheidung im Regelfall nur deren Reihenfolge im Discours invertiert wird, diese jedoch trotzdem beide erzählt werden.
Bei BANDERSNATCH transformiert dagegen in der Auswahlsituation lediglich der Bildrahmen, wenn die Auswahlmöglichkeiten aus dem hors-champ in den cache eingeblendet werden, wodurch sich das Format kontinuierlich als filmisches Medium ausweist und genau jenes dem interaktiven Film seit jeher inhärente Versprechen einer kohärenten Einflussnahme auf eine erzählte Welt (und in diesem Fall bereits kanonisiertes Franchise) einzulösen scheint.
Nun muss aber natürlich auch BANDERSNATCH Einschränkungen der Konsequenzhaftigkeit von Entscheidungen beinhalten. Dies ist ableitbar aus einem generellen Problem narrativer interaktiver Produktionen, bei denen sich die Entscheidungsfreiheit der Nutzer*innen auch auf die Konstitution der erzählten Geschichte selbst erstrecken soll. Je stärker sie in dieser Hinsicht einwirken können, desto schwieriger gestaltet sich die Erzeugung eines kohärenten, sequenzübergreifenden Bedeutungszusammenhangs. Denn nach Martinez und Scheffel konstituiert sich die Einheit einer Geschichte darüber, dass sie nicht nur einem chronologischen, sondern auch einem kausalen Zusammenhang folgt (vgl. Martinez/Scheffel 2009: 25). Aus dieser Perspektive produzieren alternative Handlungsverläufe stets ein erhöhtes Maß an Kontingenz, insofern keine Ereignisfolge damit als zwangsläufig zu verstehen ist. Auch müssen mindestens zwei unterschiedliche Handlungsabläufe produziert werden, wenn die Entscheidungen der Nutzer*innen gleich zu Beginn signifikanten Einfluss auf den Verlauf der erzählten Geschichte nehmen. Mit jeder weiteren Entscheidung potenziert sich dieser Aufwand. Entsprechend führen einige Entscheidungen von BANDERSNATCH wie erwähnt in Sackgassen, bei denen Nutzende nach dem vorzeitigen Ende des Films vom Programm zum Punkt der letzten Entscheidung zurückgeführt werden. Genauso tragen etliche Entscheidungen im Film nur eingeschränkte oder gar keine Konsequenzen.
Auf dieser Grundlage findet sich in BANDERSNATCH jedoch eine im Kontext digitaler Spiele bereits etablierte Erzählstrategie zur Vermittlung zwischen den Ansprüchen von Erzählung und Interaktion. Schon bei interaktiven Entscheidungssituationen im Video- und Computerspiel, welche in der Regel auf textuell kodierten Antwortmöglichkeiten basieren, ist es aus den kurzen auf dem Bildschirm angezeigten Texten in der Regel kaum ersichtlich, mit welcher konkreten Reaktion der gespielte Charakter die gewählte Option diegetisch umsetzen wird (vgl. Schell 2015: 367). Entsprechende Situationen sind häufig mit dichotomen Antwortmöglichkeiten verknüpft, die eher allgemeine Paradigmen aufrufen (zum Beispiel kann man sich in der MASS EFFECT-Reihe für ein ‚vorbildliches vs. abtrünniges‘ Verhalten entscheiden). Damit wird einerseits eine Orientierung für die Nutzer*innen geboten, andererseits sind die Optionen jedoch auch breit genug gehalten, um innerhalb eines von den Spieler*innen auf diese Weise nur grob skizzierten Handlungsrahmens figürliche und erzählerische Kohärenz zu wahren.
Auch in BANDERSNATCH wird nun wie oben ausgeführt auf die Strategie der Paradigmatisierung zurückgegriffen, bei der eine allgemeine Ordnung durch den Verweis auf ihre Bestandteile konstituiert wird. In diesem Rahmen gewährleisten die unterschiedlichen Enden und Pfadverläufe eine starke Varianz auf der Textoberfläche, gleichzeitig konstruieren die Zuschauer*innen über ihre autonomen Entscheidungen – unabhängig vom jeweilig konkreten Erzählverlauf – in jedem Fall die dargestellte Ordnung der Heteronomie für den Protagonisten, was die Handlungsverläufe wiederum aufeinander beziehbar werden lässt.
Insgesamt werden in BANDERSNATCH also mittels der auf dem Weltmodell der Serie BLACK MIRROR basierenden Paradigmatisierung jene für den interaktiven Film charakteristischen Beschneidungen von Handlungsfreiheit kaschiert. Dabei wird das relativ starre narrative Programm der Serie funktional, um Kohärenz in der Tiefenstruktur von BANDERSNATCH zu erzeugen. Denn im Zuge der übergreifenden und stabilen Weltordnung wird es für den interaktiven Film jederzeit möglich, die Handlungsfreiheiten der Zuschauer*innen zu beschneiden (etwa den Umstand betreffend, dass es unmöglich ist, ein Happy End für Stefan zu erzeugen). Diese Einschränkungen werden dann als Grenzen der Handlungsfreiheit des Protagonisten und Serienreferenzen erlebt und verweisen nicht primär auf die strukturelle Beschaffenheit des interaktiven Formats, in dem Handlungseinschränkungen notwendig sind, um eine kohärente Geschichte zu erzählen. Stattdessen werden sie als gezielte thematische Setzung lesbar, die sich wiederum im Einklang mit dem generellen Weltmodell der Serie befindet.
Und unabhängig von den tatsächlichen Konsequenzen, welche den Entscheidungen in BANDERSNATCH letztlich innewohnen, ist für die konkrete Nutzungserfahrung die simulierte Konsequenz und Potentialität der Auswahlsituationen entscheidend. Schon im Kontext digitaler Spielkulturen finden sich regelmäßig Diskussionen über das Ausmaß, in dem exponierte Entscheidungssituationen tatsächlich Änderungen im Spiel- und Erzählverlauf bewirken. In einem Beitrag zum so genannten Decision Turn15 im Video- und Computerspiel halten Schellong und Unterhuber der Kritik, dass Entscheidungen dort häufig nur marginale Auswirkungen nach sich zögen, entgegen, es sei
nicht so wichtig, ob die Entscheidungen Auswirkungen haben, sondern dass die Spieler*innen annehmen, sie hätten welche. Die Inszenierung der Entscheidung macht die Momente der Entscheidung aus. Wir nehmen sie anders war. Wenn wir den Entscheidungsmomenten im heiligen Ernst des Spiels entgegentreten, werden sie erlebbar als Simulationen von realer Erfahrung. (Schellong/Unterhuber 2016: 26)
Doch was für eine Art der ‚Simulation von realer Erfahrung‘ offeriert BANDERSNATCH insgesamt?
Auch das Rahmen gebende Dispositiv des Streaming-Anbieters Netflix wird in BANDERSNATCH thematisch. So bittet Stefan in einem Monolog nach einem Zeichen der ihn scheinbar fremdbestimmenden höheren Macht, woraufhin es möglich ist, ihm das Netflix-Logo auf seinem Computerbildschirm einzublenden. Dem kann man noch einige weitere selbstreferentielle Informationen folgen lassen („I Am Watching You On Netflix. I Make Decisions For You“). Gefolgt wird dies in einem der Erzählpfade von dem bereits erwähnten Gespräch mit der Psychologin, wobei man in dem folgenden Kampf eine Flucht aus dem Fenster wählen kann. In diesem Fall wird in einer inszenierten Metalepse erneut auf eine spezifische, diesmal jedoch ‚falsche‘ Medialität verwiesen: In der Totale entpuppt sich das Büro der Psychologin nun als Teil eines Filmsets und die Regisseurin ist verärgert, da ein Sprung aus dem Fenster in dem Filmskript nicht vorgesehen sei.16 Damit erscheint die tatsächliche, nicht-lineare Nutzungssituation als positive Abweichung von der über das Filmset ausgestellten, narrativ einsträngigen (Film-)Logik.
Zwar läuft die inszenierte Homologie zwischen dem Inhalt der Erzählung und der interaktiven Form des Mediendispositivs BANDERSNATCH immer wieder darauf hinaus, dass über Stefans Fremdbestimmung implizit auch die begrenzten Wahlmöglichkeiten des interaktiven Films selbst thematisch werden – „Choice is an illusion“ ist ein wiederkehrendes Zitat im Filmverlauf. Gleichzeitig schafft BANDERSNATCH mit der Figur von Stefan allerdings eine Projektionsfläche für die Entscheidungsmacht der Nutzer*innen. BANDERSNATCH lässt eine Heteronomie des Protagonisten thematisch werden, die sich handlungslogisch und über die inszenierten Metalepsen wiederum vollständig durch die Autonomie der Zuschauer*innen in Bezug auf die Entwicklung des Handlungsverlaufs begründet. Somit macht BANDERSNATCH zwar deutlich, dass keine Einflussnahme der Zuschauer*innen auf Ebene der Weltordnung möglich ist, innerhalb dieser Ordnung können sie sich jedoch durchaus als überaus selbstwirksam erleben, indem sie autonom ein Weltmodell der vollständigen Fremdbestimmung konstruieren.
Somit werden die Nutzer*innen von BANDERSNATCH produktiv im Rahmen jener der Serie BLACK MIRROR zu Grunde liegenden Technikdystopie und nehmen in Bezug auf die Hauptfigur eine letzten Endes sadistische Position ein, insofern sie gezwungen sind, diese mit immer neuen Extremsituationen zu konfrontieren und sich durch ihre Entscheidungen dafür verantwortlich zeichnen, Stefan in genau dem heteronomen Rollenschema zu fixieren, das durch das narrative Programm der Reihe vorgegeben wird. Dabei gibt die inszenierte Handlungsposition der Zuschauer*innen jenes reduzierte Maß an Empathie vor17, das in kritischen Computerspieldiskursen regelmäßig als Unterschied zwischen Filmen und interaktiven Medien angeführt wird:
[…] denn um sich mit einer Spielfigur eines Computerspiels zu identifizieren, muss diese nicht viel mehr sein als eine leere Hülle, in die man ungehindert hineinschlüpfen kann. Identifikation mit Figuren aus fiktiven Welten […] hingegen setzt ein hinreichend substanzielles Spiegelbild voraus, das Empathie ermöglicht. (Bogdal/Kauffmann/Mein 2008: 246)
Gleichzeitig wird hier im Kontext eines digitalen Mediums eine zumindest in Teilen autonome Handlungsposition der Zuschauer*innen konstruiert, die im Rahmen der Digitalisierungskritik der Serie regelmäßig verworfen wird. Und wie sich hier schon andeutet, verhält sich das interaktive Dispositiv BANDERSNATCH in seiner Ideologieproduktion in vielen weiteren Fällen konträr bzw. komplementär zum allgemeinen Weltmodell von BLACK MIRROR.
So gilt es für eine positive Bewertung des intradiegetisch von Stefan entwickelten Spiels auch das negativ konnotierte Bild von exzessiver Jugendkultur zu reproduzieren, das die Serie vorgibt. Weiter bedient sich BANDERSNATCH genau jener medialer Strategien, die in der Serie wiederholt kritisiert werden: Während das zentrale Anliegen von BLACK MIRROR gerade in der Warnung vor einer vollständigen medialen Immersion zu liegen scheint, offerieren die geschilderten Easter Eggs, geheimen Pfadverläufe und die massive intertextuelle Zeichendichte eine Spurensuche, die immer tiefer ins mediale Labyrinth führt und die in Opposition zum in der Serie geschilderten Selbstverlust im Medium steht. Darüber hinaus begünstigt BANDERSNATCH die exzessive medienkonsumierende Praxis des ‚Binge Watchings‘ (vgl. Zündel 2017), die eigentlich Streaming-Serien vorbehalten ist, insofern der nicht-lineare Pfadverlauf des Formats auch das Medium Film serialisiert und aufgrund der Sackgassenstruktur in der Regel mehrere ‚Durchläufe‘ voraussetzt, um an irgendeine Art von ‚Ende‘ zu gelangen.
Schließlich steht der Verdacht im Raum, dass der Anbieter Netflix sein mediales Format in einer Weise funktionalisiert, welche die Nutzer*innen auch über die konkrete Rezeption hinaus in einer fremdbestimmten Position fixiert und sie entgegen der sonstigen aufklärerischen Erzählhaltung der Serie über diese Ebene vollständig im Unklaren lässt. Denn einige Entscheidungen gerade zu Beginn der Handlung haben kaum Konsequenzen für den weiteren Verlauf und dienen als eine Art Einführung in das Format. Da es sich bei diesen Entscheidungen allerdings mehrheitlich um eine Auswahl zwischen unterschiedlichen Konsumprodukten – etwa: soll Stefan zum Frühstück ,Kellogg’s Frosties‘ oder ,Sugar Puffs‘ verzehren – oder ästhetischen Vorlieben – etwa in Form der Wahl eines Musikstückes auf Stefans Walkman – handelt, wurde von mehrerlei Seite vermutet, dass diese vor allem der Datengewinnung des Anbieters dienen bzw. BANDERSNATCH als eine Art Testballon für derartig versteckte Datensammlungen und Demonstration für potentielle Investoren fungiert (vgl. Scherrer 2019). Die dabei gewonnenen Informationen sind natürlich zum einen für Netflix selbst funktional, wirbt der Dienst doch gerade mit der datenbasierten Personalisierung seines Interfaces und entsprechenden Filmempfehlungen, zum anderen geht es Anbietern im Kontext von Datenerhebungen zur Angebotsindividualisierung immer auch um die Besetzung marktstrategisch zentraler Positionen im heimischen Wohnzimmer, über die interagiert und konsumiert wird und mittels derer weitere Informationen über die Rezipient*innen gewonnen und ökonomisch verwertet werden können (vgl. Müller 2006).
Seit BANDERSNATCH wurden bereits weitere interaktive Angebote auf Netflix veröffentlicht, prominent beworben ist vor allem die Serie YOU VS. WILD (GB seit 2019), durch die der Survival-Experte Bear Grylls mittels Entscheidungen zu steuern ist; werden zu viele ‚falsche‘ Entscheidungen getroffen, muss Grylls aus der Wildnis evakuiert werden. YOU VS. WILD nähert sich in ihrer Ästhetik nun noch stärker einem digitalen Spiel an, insofern die Topografie der Wildnis hier lediglich noch einen geografisch nicht näher definierten und ausnahmslos antagonistischen Hintergrund für die rudimentäre Handlung bildet. Entsprechend beginnen die einzelnen Episoden analog zu medialen Traditionen des digitalen Spiels mit einer kurzen Zusammenfassung des jeweiligen Missionsauftrags, der stets nur eine knappe Zielvorgabe bildet (z.B. müssen Medikamente für ein Dorf beschafft werden), die durch eine referenzfreie Karte der Umgebung sowie einer Visualisierung der notwendigen Wegstrecke ergänzt wird.
Damit funktionalisiert YOU VS. WILD sein interaktives Format nicht wie noch bei BANDERSNATCH auf Ebene der erzählten Geschichte (und bewirbt es entsprechend), sondern inszeniert eine direkte Interaktion zwischen Zuschauer*innen und Protagonist, die weit offensiver jene sadistische Handlungsposition inkorporiert, die oben schon in Bezug auf BANDERSNATCH beschrieben wurde (so müssen verschiedene Tiere verzehrt werden, die Grylls zum Teil zum Übergeben bringen). Matthieu Praun von der Welt subsumiert diese Tendenz wie folgt:
Wilde Tiere und tödliches Klima sind dem alternden Survival-Experten anscheinend nicht mehr genug, weshalb er das größte Risiko überhaupt eingeht und sein Schicksal in die Hände seines Publikums legt. Vielleicht hat Bear Grylls zu viel Zeit in der Wildnis verbracht, um zu wissen, dass das gefährlichste Tier der Mensch ist. Und dass niemand so grausam ist wie Kinder, die etwas Macht bekommen, weiß jeder, der selbst schon mal Die Sims gespielt hat. Ich kann Bear Grylls nicht in einen Pool sperren und ertrinken lassen, aber vielleicht wird er ja gefressen. Es ist völlig klar, das hier wird eine Bear-Grylls-Vernichtungsshow. (Praun 2019)
Bear Grylls erscheint hier nunmehr als Spielfigur und Werkzeug, als Projektionsfläche spielerischer Ermächtigungsfantasien und taucht entsprechend gar nicht mehr im Titel des Formats YOU VS. WILD auf, der allein auf Welt und Nutzungsinstanz abzielt. Und wenn Jan Distelmeyer im Kontext digitaler Interfaces von einer „Ästhetik der Verfügung“ (Distelmeyer 2012: 225) spricht, was bedeutet, dass diese auf paradigmatischer Ebene die Möglichkeit der Auswahl18 und der Verfügbarkeit der Inhalte durch die Nutzer*innen betonen, dann ist für die besprochenen Formate zu konstatieren, dass dieses Oberflächenprinzip digitaler Medien hier auf die Inhaltsebene gewandert ist und die handelnden Figuren ohne Umwege der Verfügungsmacht der Nutzer*innen unterstellt werden. Die erzählten Welten hingegen sind nur noch eingeschränkt narrativ, insofern sie in allen erzeugbaren Varianten immer wieder dieselbe Struktur vorführen. Dabei wird im Fall von BANDERSNATCH – als ideologische Konsequenz des Medienwechsels – in einer Art archivarischen Logik laufend die Ordnung der zu Grunde liegenden Serie reproduziert, während der Konstruktionsvorgang selbst völlig anderen Bedingtheiten unterliegt: Die für Stefan interaktiv erzeugte Dystopie transportiert im digitalen Film gleichzeitig eine technische Utopie der Verfügung. Dieses Emanzipationsversprechen wiederum steht im Dienst einer Subjektivierungsform, die einer Affirmation digitaler Medienlogiken (Selbstermächtigung, Immersion, Datenproduktion etc.) gleichkommt – was im Kontext einer prinzipiell technikkritischen Serie eine recht zynische Entwicklung darstellt. In eine ähnliche Richtung stößt auch Hartmut Winkler, der aktive Teilhabe in einen genuinen Zusammenhang mit Loyalität gegenüber den herrschenden Verhältnissen bringt (vgl. Winkler 2006). Und was hier anhand eines spezifischen Formats dargelegt wurde, lässt erstens in Bezug auf die weitere Entwicklung des interaktiven Films, zweitens hinsichtlich transmedialer Erzählverbünde und drittens auch im Kontext der allgemeinen Digitalisierung des TV-Marktes genauer nach den erzählerischen, rezeptionsseitigen und ideologischen Konsequenzen des Medienwandels fragen.
Bark, Joachim/Pforte, Dietger (1970) Die deutschsprachige Anthologie. Band 1. Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbiographie des Zeitraums 1800–1950, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.
Bogdal, Klaus-Michael/Kauffmann, Kai/Mein, Georg (2008) BA-Studium Germanistik. Ein Lehrbuch, Hamburg: Rowohlt.
Distelmeyer, Jan (2012) Machtfragen. Home Entertainment und die Ästhetik der Verfügung, in: Segeberg, Harro (Hg.) Film im Zeitalter Neuer Medien II. Digitalität und Kino, München: Fink, S. 225–251.
Eco, Umberto (1989) Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien, in: Eco, Umberto (Hg.) Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, 3. Auflage, Leipzig: Reclam, S. 301–324.
Eisele, Sabrina (2016) Produktive Verbindungen – Zur wiedergewonnenen Ko-Präsenz in theatralen Computerspielsituationen, in: Hennig, Martin/Krah, Hans (Hg.) Spielzeichen: Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Werner Hülsbusch, S. 285–306.
Foucault, Michel (1978) Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve.
Goffman, Erving (1980) Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hallmann, Dawid (2018) Alle Enden vom neuen Netflix-Film Black Mirror: Bandersnatch, Mein MMO, 30.12.2018, https://mein-mmo.de/enden-black-mirror-bandersnatch/ (letzter Zugriff: 16.09.2019).
Hennig, Martin (2017) Interaktive Medien, in: Krah, Hans/Titzmann, Michael (Hg.) Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Schuster, S. 331–349.
Jakobson, Roman (1979) Linguistik und Poetik, in: Holenstein, Elmar/Schelbert, Tarcisius (Hg.) Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 83–121.
Krah, Hans (2010) Erzählen in Folge. Eine Systematisierung narrativer Fortsetzungszusammenhänge, in: Schaudig, Michael (Hg.) Strategien der Filmanalyse – reloaded. Festschrift für Klaus Kanzog, München: diskurs film, S. 85–114.
Lotman, Jurij M. (1993) Die Struktur literarischer Texte, München: Fink.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael (2009) Einführung in die Erzähltheorie, 8. Auflage, München: Beck.
Müller, Eggo (2006) Interaktivität: Polemische Ontologie und gesellschaftliche Form, in: Neitzel, Britta/Nohr, Rolf (Hg.) Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion: Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel, Marburg: Schüren, S. 66–79.
Pfaller, Robert (2011) Figuren der Erleichterung. Interpassivität heute, in: Feustel, Robert/Koppo, Nico/Schölzel, Hagen (Hg.) Wir sind nie aktiv gewesen. Interpassivität zwischen Kunst- und Gesellschaftskritik, Berlin: Kadmos, S. 17–26.
Praun, Matthieu (2019) Es ist einfach toll, Bear Grylls beim Kotzen zuzuschauen, in: WELT, 16.05.2019, https://www.welt.de/kultur/medien/article193604067/You-vs-Wild-Es-ist-einfach-toll-Bear-Grylls-beim-Kotzen-zuzuschauen.html (letzter Zugriff: 16.09.2019).
Preußer, Heinz Peter (2013) Technik und Technikkritik im dystopischen Film, in: Chilese, Viviana/Preußer, Heinz-Peter (Hg.) Technik in Dystopien, Heidelberg: Winter, S. 149–174.
Rudner, Fabian (2014) Black Mirror: Charlie Brookers Mediensatire, in: Nachreiner, Thomas/Podrez, Peter (Hg.) Fest|Stellungen. Dokumentation des 25. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg: Schüren, S. 215–225.
Schell, Jesse (2015) Die Zukunft des Erzählens. Wie das Medium Geschichten formt, in: Beil, Benjamin/Freyermuth, Gundolf S./Gotto, Lisa (Hg.) New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres – Künste – Diskurse, Bielefeld: transcript, S. 357–374.
Schellong, Marcel/Unterhuber, Tobias (2016) Wovon wir sprechen, wenn wir vom Decision Turn sprechen, in: Redaktion PAIDIA (Hg.) »I’ll remember this…«. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel, Glückstadt: Werner Hülsbusch, S. 15–31.
Scherrer, Pascal (2019) Bandersnatch – ein Film mit gravierenden Folgen für die Filmindustrie, Watson, 23.02.2019, https://www.watson.de/leben/analyse/457197668-bandersnatch-ein-film-mit-gravierenden-folgen-fuer-die-filmindustrie (letzter Zugriff: 16.09.2019).
Schmieder, Jürgen (2018) Aus dieser Realität gibt es keinen Ausweg, Süddeutsche Zeitung, 28.12.2018, https://www.sueddeutsche.de/medien/black-mirror-bandersnatch-auf-netflix-aus-dieser-realitaet-gibt-es-keinen-ausweg-1.4266830 (letzter Zugriff: 16.09.2019).
Sudmann, Andreas (2017) Serielle Überbietung. Zur televisuellen Ästhetik und Philosophie exponierter Steigerungen, Stuttgart: Metzler.
Wenz, Karin (2003) Computerspiele: Hybride Formen zwischen Spiel und Erzählung, Netzliteratur, http://www.netzliteratur.net/wenz/wenz_computerspiele.htm (letzter Zugriff: 16.09.2019).
Winkler, Hartmut (2006) Nicht handeln. Versuch einer Wiederaufwertung des couch potato angesichts der Provokation des interaktiv Digitalen, in: Fahle, Oliver/Engell, Lorenz (Hg.) Philosophie des Fernsehens, München: Fink.
Zündel, Jana (2017) Netflix und die Remediatisierung des Fernsehens auf Streaming-Plattformen, in: montage AV, Vol. 26, Nr. 01.