Vor ungefähr zehn Jahren befasste ich mich mit einer Gruppe von ziemlich bekannten Filmen aus dem vorhergehenden Jahrzehnt, viele von ihnen heute als klassische Kultfilme anerkannt – wie MEMENTO (USA 2000), THE SIXTH SENSE (USA 1999), FIGHT CLUB (USA 1999), BEING JOHN MALKOVICH (USA 1999), DONNIE DARKO (USA 2001), SOURCE CODE (USA/CAN/F 2011), ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004), MULHOLLAND DRIVE (USA/F 2001), INCEPTION (USA/UK 2010) – und gab ihnen einen neuen Namen: Mind-Game-Filme. Ich wollte verstehen, wodurch sie sich sowohl von klassischen und postklassischen Hollywoodfilmen unterscheiden und warum sie zu diesem Zeitpunkt entstanden sind. Mein Essay erschien als das erste Kapitel eines Buches mit dem Titel Puzzle Films (Elsaesser 2009). Seither sind die Filme unter diesem Namen bekannt und wurden immer wieder auch mit dem Übergang von analoger zu digitaler Filmproduktion in Verbindung gebracht. Ebenso spiegeln sie Veränderungen im Publikumsverhalten wider, einschließlich der demografisch relevanten Gruppe, die sich durch eine intuitive Vertrautheit mit Videospielen auszeichnet.
Trotz der unterschiedlichen Bezeichnungen gab es eine überraschende Einigkeit und einen Konsens darüber, welche Filme zu dieser Kategorie gehören. Inzwischen wurden die typischen Eigenschaften von Mind-Game-Filmen bei mehreren Gelegenheiten aufgelistet:1
Zusammengefasst scheint es, dass diese Eigenschaften eine große Herausforderung für den psychologischen Realismus, die vertrauenswürdige Erzählweise und die erzählerische Transparenz der ,klassischen‘ Hollywoodnarration darstellen, wo Chronologie, perspektivischer Raum, narrative Redundanz, ein kohärenter Standpunkt und zielorientierte Protagonist*innen allgemeine Identifizierung, Bedeutungsumfang, Auflösung und generelle Verständlichkeit sicherstellen. Wenn David Bordwell das klassische Hollywood einprägsam „ein exzessiv öffentliches Kino“ (Bordwell/Staiger/Thompson 1987) nennt, weichen dann Mind-Game-Filme nur graduell davon ab und bestätigen somit die Norm? Oder brechen sie aus den vorgefertigten Formen aus, indem sie komplexere und verwirrendere Erzählstrukturen (Narrative) und Erzählarten (Narrationen) entwickeln? Wenn ein (kleiner) Teil von Hollywood exzessiv schräge Filme produziert, warum gerade jetzt und mit welcher Absicht?
Ich möchte die industriell-institutionellen Herausforderungen und Einschränkungen untersuchen, mit denen sich Hollywood konfrontiert sieht, und den weiter gefassten epistemischen Horizont erörtern, in dem der amerikanische Film im 21. Jahrhundert überlebt und in der Tat regelrecht aufblüht: das kreative und kapitalistische Umfeld, für das der Mind-Game-Film sowohl Prototyp als auch Symptom zu sein scheint.
Als Prototyp und gleichzeitig Symptom dienen Mind-Game-Filme auch als ein indirekter, versteckter Zugangspunkt, um zu verstehen, wie wir ausgehend von einer aufgeklärten Epistemologie von Wahrheit, Fakt und Beweis in einer Situation gelandet sind, wo das offenkundig Falsche in der realen Welt Macht ausüben kann, wo Lügen attraktiver als die Wahrheit erscheinen, wo Fakten von Gefühlen übertrumpft werden, wo mehr Informationen genauso wahrscheinlich zu Unwissen wie zur Wissensproduktion führen können. Während ein Teil der Antwort auf die Frage „Warum Mind-Game-Filme gerade jetzt?“ in der Neuausrichtung von Kräften in der vielfältigeren und konkurrenzbetonteren Umgebung des Mainstream-Kinos (die sogenannte Migration oder Verlagerung des Kinos im digitalen Zeitalter) zu finden ist, ist die Funktion der Mind-Game-Filme insofern mehrdeutiger, als sie sowohl mimetisch diese epistemologische Neuausrichtung verdoppeln als auch sie allegorisch widerspiegeln. Ein symptomatischer Wert der Mind-Game-Filme wäre dann, dass sie – als Meta-Kino – offenbaren, wie weit das Kino im 21. Jahrhundert den Seismograf unserer Kultur für tektonische epistemische Verschiebungen darstellt, aber möglicherweise auch dessen Pharmakon: sowohl Toxin als auch Impfstoff, gleichzeitig Gift und Heilmittel in unserer Erfahrung von Welt und unseren Begegnungen mit ihr am Kipppunkt von Wissenssystemen: ob nun mit 500 Jahren gemessen (die Renaissanceperspektive), 350 Jahren (der cartesianische ontologische Dualismus), 150 Jahren (die westliche Moderne) oder auch nur 50 Jahren (der Computer und die digitale Revolution). Andere Zeitachsen oder Zeitskalen würden das Kino in den Verwerfungslinien des Menschlichen und Postmenschlichen, des Lebendigen und des Automatisierten, des Holozäns und des Anthropozäns lokalisieren. (Elsaesser 2019)
Trotz der Nähe zu Hollywood und der Prominenz von Autor*innenregisseur*innen halte ich Mind-Game-Filme nicht für eine autonome Gattung. Auch stellen sie meines Erachtens kein neues ,Kunst- und Autorenkino‘ dar, auch wenn mehrere der charakteristischen Eigenschaften mit denjenigen zusammenfallen oder überlappen, die als Kunstfilmmodus identifiziert werden.2 Tatsächlich ist mein Argument, dass sie aus Bedingungen heraus entstehen und auf Einschränkungen reagieren, mit denen sich Hollywood als eine globale Filmindustrie konfrontiert sieht, die sich wieder einmal umrüsten und neu erfinden muss, um letztlich wieder gleich – und überhaupt im Spiel – zu bleiben. Puzzle Films und Mind-Game-Filme sind Teil von Hollywoods Widerstand gegen und Anpassung an die großen Veränderungen in der technologischen Infrastruktur des Kinos (digitale Bildgebung und Postproduktion) und eine Antwort auf ein erweitertes Unterhaltungsumfeld (wo Spielfilme mit Computerspielen sowie mit Kabelfernsehen und Serien konkurrieren, die im Netz gestreamt werden). Die Erfindung der DVD und die spätere Verfügbarkeit von schnellem Videostreaming führte zur aktuellen Publikumsökologie, wo Kinos nur eine von mehreren Möglichkeiten sind, um Filme anzusehen und Filme nur eine Möglichkeit sind, um sich mit visuellen Narrativen, Transmediageschichten und bewegten Bildern auseinanderzusetzen.
Mind-Game-Filme sind nicht die einzige geschweige denn wichtigste Reaktion der Filmindustrie auf die allgemeine Migration, Mutation und Verlagerung des Films zwischen 1995 und 2015. Sie spielen eine eher kleine Rolle im Vergleich zur Einführung von digitalem 3D, dem Wiederaufleben von Blockbuster- und Franchise-Filmen, dem Neustart von Marvel-Comics und DC-Superhelden und dem allgemeinen Revival von Animationsfilmen in Spielfilmlänge von Disney und Pixar, wie auch dem Aufstieg von hochwertigen Streaming-Serien in allen Gattungen bei Netflix:3 all dies sind Entwicklungen, die viel symptomatischer für die Anpassungsfähigkeit von Hollywood als Unterhaltungsindustrie sind als Mind-Game-Filme und entscheidender dafür, neue Filmformen zu generieren und traditionelle umzurüsten. Diese Formen haben von den computergenerierten Bildern und digitalen Techniken der Bewegungserfassung, von Bluescreen-Technik und anderen Techniken und Technologien profitiert, die fotorealistische Darstellungen von Livehandlungen und Spektakeln ermöglichen.
Im Gegensatz dazu neigen Mind-Game-Filme dazu, spektakuläre digitale Effekte zu meiden. Sie lassen sich besser als Prüfstand oder Forschungs- und Entwicklungsabteilung einer Industrie verstehen, die sich schon immer der Notwendigkeit bewusst war, sich an die sich verändernden externen Zwänge und Forderungen anzupassen, etwa indem der Hacker integriert, der Indie vereinnahmt oder die Avantgarde ins Boot geholt werden. Wie deutlich werden wird, beabsichtige ich, eine weitere These aufzustellen, nämlich dass Mind-Game-Filme sich von Puzzle Films unterscheiden, weil sie idealerweise eine unauflösbare Unbestimmtheit etablieren und einen permanenten Zustand der Unterdetermination verwalten: Statt zu versuchen, das Rätsel ihrer formalen oder generischen Identität zu lösen, versuchen sie, diverse und sogar scheinbar inkompatible Interpretationen zu ermöglichen und aufrecht zu erhalten. Insbesondere wollen sie sich am Scheitelpunkt zweier Modi von Narrativ und der Narration positionieren, von denen es üblicherweise heißt, sie schlössen sich gegenseitig aus: die des klassischen Hollywood und die der Videospiellogik.
Die am häufigsten angegebenen Gründe dafür, warum diese einigermaßen ungewöhnlichen Filme just in dieser Zeit auftauchten, sind technologischer, ökonomischer und demografischer Natur: Die Erfindung von DVDs und mp4-Files als kompakte und bezahlbare Alternativen zur Vorführung im Kino, die ein mehrfaches Betrachten ermöglichen, und auch (im Gegensatz zur Videokassette) einen direkten Zugriff erlauben; das Auftreten von Computerspielen als kulturelle Form, die es mit Filmen und dem Kino hinsichtlich Popularität, Profitabilität und konzeptueller Gewandtheit aufnehmen kann; die Multiplikation von Bildschirmen als hochdefinierte Plattformen zum Betrachten von Filmen, in Form von Beamern, Monitoren, Laptops und Touchscreens auf Smartphones, was das ,Kino‘ sowohl mobil und transportabel macht und potentiell die Publikumsbasis erweitert, da einem Publikum jeden Alters, aus allen Ländern und Demografien zielgerichtet Unterhaltung angeboten werden kann.
Die wissenschaftliche Literatur reflektiert diese Arten von pragmatisch-materialistischer Analyse, und es lassen sich drei wichtige interpretative Schritte identifizieren: erstens gibt es die Debatte darüber, ob solche Filme überhaupt eine eigene Bezeichnung verdienen oder einen Paradigmenwechsel verlangen. Wenn nicht, dann besteht die Aufgabe lediglich darin, ihre scheinbar von der Norm abweichenden Eigenschaften in ,Business as usual‘ zu ,übersetzen‘. Andere Stimmen argumentieren dagegen, dass ihre typischen Merkmale so sehr den Regeln von Videospielen ähneln, dass es sinnvoll ist, sie als Hybride zu behandeln und ihre Verwandtschaft mit interaktiven Spielen aufzuzeigen. Ein dritter Ansatz konzentriert sich auf den Modus der Narration dieser Filme und den Grad an Zuverlässigkeit, Unzuverlässigkeit oder direkter Irreführung in der Art, wie sie Information vermitteln beziehungsweise zurückhalten, und untersucht, welche Arten von kognitivem Nutzen und affektivem Genuss ein solches Spiel mit der Narration die Zuschauer*innen daraus ziehen können.
Übernimmt man die Videospiel-Analogie als das bevorzugte Modell für die Interpretation von Puzzle Films, geht man implizit davon aus, dass das (Hollywood-)Filmemachen auf Druck von außen antwortet und reagiert. Die Belege für eine Videospiellogik in Spielfilmen, einschließlich solcher Blockbuster wie INCEPTION, sind folglich indikativ für diesen Druck – was möglicherweise nicht viel mehr aussagt, als dass Hollywood sich seiner bekanntesten Zielgruppe außerordentlich bewusst ist, nämlich männliche Jugendliche und Männer im Alter zwischen 15 und 35 Jahren. Sie sind mit Videospielen aufgewachsen und ihnen sind daher nicht nur die Regeln des Videospielens bekannt, sondern sie sind mit ihnen vertraut und gehen gern damit um: Einen Film als DVD zu kaufen oder als eine mp4-Datei herunterzuladen, mit der ausdrücklichen Absicht des häufigen und nicht-linearen Anschauens, ist ihnen selbstverständlich.
Dies mag auch eine Erklärung für ein weiteres mit Mind-Game-Filmen assoziiertes Phänomen sein: Die Verbreitung von YouTube-Videos, die die Lücken im Narrativ eines Mind-Game-Films füllen wollen, die nicht-lineare Chronologien aufklären und hilfreiche Analysen von mehrdeutigen Enden anbieten, während sie gleichzeitig viel Mühe dafür aufwenden, die obskure Physik von Zeitreisen und Wurmlöchern oder paradoxe retroaktive Kausalitäten und Vorherbestimmungen zu erläutern. Es ist die außergewöhnliche hermeneutische Aktivität, die Mind-Game-Filme hervorrufen, die nicht nur den einfachen Spieltrieb (bekannt aus der deutschen idealistischen Philosophie) bedient, sondern auch mit Freude Rätsel löst (daher nenne ich sie gern Puzzle Films) und dieses Vergnügen mit anderen teilt.
In einem gewissen Sinne sind diese leidenschaftlichen Interpret*innen von scheinbar obskuren Filmen eine unbezahlte Armee von Studio-PR-Leuten, die den Wert und das Prestige von solchen Nischenprodukten wie den Filmen FIGHT CLUB oder BEING JOHN MALKOVICH steigern. In einer anderen Hinsicht bestätigen ihre Bemühungen, dass Puzzle Films selten (wenn überhaupt) gänzlich mit den Konventionen des klassischen Geschichtenerzählens brechen und es dem Publikum entweder erlauben, sich auf die Seite mit der erkennbar zugrundeliegenden Konstruktion der Erzählung zu schlagen oder aber die reizvollen, frustrierenden und irreführenden Rätsel (im Englischen auch als ,mind-jobs’, ,mind-f*cks’ or ,mind-bending films’ bekannt)4 zu genießen.
Es gibt einen breiten Konsens, dass Puzzle Films eben deshalb auf diese Weise gestaltet sind, um ein unbeständiges, durch Videospiele sozialisiertes und mit einer großen Auswahl an Unterhaltungsmöglichkeiten verwöhntes Publikum an das Hollywoodprodukt zu binden. Sie tun dies zwar auf eine andere Art und Weise, aber mit demselben Ziel, das auch Franchise-Filme und Superhelden-Blockbuster anstreben: zur Wiederholung und zur Rückkehr ermutigen. Wenn man dann noch zusätzlich anfängt, wie Netflix und andere Plattformen Serien für Binge-Watching zu streamen, kann man auch einen stärkeren Begriff verwenden: Mainstream-Medien fördern Sucht, eine der wichtigsten Ressourcen und Entdeckungen über die menschliche Subjektivität des 21. Jahrhunderts, die der digitale Kapitalismus gemacht hat, nachdem der Kapitalismus sich ursprünglich auf der Grundlage von Bedürfnissen (im 19. Jahrhundert) etabliert und sich dann (im 20. Jahrhundert) erfolgreich dem Bedienen von Begehren verschrieben hat.
Es ist daher nicht vollkommen abwegig, sich zu fragen, ob nicht einige der eher formalen Analysen von Puzzle Films nicht auch so etwas wie eine ideologisch neutrale Deckung für suchterzeugendes Verhalten bereitstellen, indem sie behaupten, die kognitiven Belohnungen und affektiven Freuden auszuloten, die solche hybriden Filme bieten und gewähren. Ein typisches Beispiel wäre die dritte Art des Herangehens an Puzzle Films, die ihre typischen Eigenschaften vor allem aus narratologischer Perspektive betrachtet. Hier kann man aus der Literaturwissenschaft abgeleitete Terminologien anwenden, die sich auf zuverlässige oder unzuverlässige Erzähler*innen und auf die Narration konzentrieren, sei diese nun verkörpert oder unpersönlich. Diese Literaturtheorien wurden teilweise von Methodologien ersetzt, die stärker an Kognitivismus, evolutionärer Biologie und den Neurowissenschaften ausgerichtet sind, zu Themen wie Belohnung und Bestrafung sowie der Verstärkung von oder des Widerstands gegen Vergnügungen.
Wenn man sich also mit der Narration in Filmen wie MEMENTO, ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND oder FIGHT CLUB und DONNIE DARKO auseinandersetzt, liegt die Herausforderung darin, dass einige der wichtigsten Parameter der Zuschauer*innen-Orientierung wie die Perspektivenstruktur sich als schwer anwendbar erweisen, weil es häufig unmöglich ist, zwischen ,subjektiven‘ und ,objektiven‘ Einstellungen zu unterscheiden. Wenn solche grundsätzlichen Kategorien von Suture, Auflösung und Publikumsidentifikation wie die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Einstellungen nicht mehr von Bestand sind, greifen Kritiker*innen auf erzählende Instanzen und Fokussierung zurück, beschwören ,kommunikative‘ oder ,begrenzte‘ Narrationen und unterscheiden zwischen ,zuverlässiger‘, ,unzuverlässiger‘ und ,täuschender‘ Narration. Es hat sich – vielleicht wenig überraschend – ein Konsens herausgebildet, dass Mind-Game-Filme oder Puzzle Films dazu neigen, unzuverlässige Erzähler*innen zu nutzen, aber dass deren Unzuverlässigkeit entweder erst ganz am Ende deutlich wird (wie in THE USUAL SUSPECTS, THE SIXTH SENSE und FIGHT CLUB), oder dass dies den Zuschauer*innen erst nach und nach klar wird, dies aber nie ganz aufgelöst wird, wie in ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND oder DONNIE DARKO. Mit anderen Worten, wenn fabula und syuzhet nicht miteinander in Einklang zu sein scheinen (wie dies in Filmen mit einer überraschenden Wendung der Fall ist), dann wird unzuverlässige oder gar trügerische Narration zur neuen Normalität, was eine andere Art von ,Vertrauen‘ verlangt, das nun auf einer neuen Übereinstimmung mit den Zuschauer*innen basiert, die die Regeln des Spiels ,gelernt‘ haben und sicher zwischen unzuverlässiger und trügerischer Narration navigieren können.5
Wenn wir also annehmen, dass sich die Standardwerte, die in der Wendung des Narrativs von Filmen wie THE SIXTH SENSE, SHUTTER ISLAND, MEMENTO oder FIGHT CLUB eingebettet sind, geändert haben, dann haben wir von Anfang an die Unzuverlässigkeit im Sinn. Kein Vertrauen in die Geschichte zu haben, ist eine sinnvolle Einstellung zur Mehrdeutigkeit zwischen objektiven, subjektiven und ,unmöglichen‘ Sichtweisen in ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND, SHUTTER ISLAND und BEING JOHN MALKOVIVH. Dies legt zudem nahe, dass in Mind-Game-Filmen die Fabula (Geschichte) nicht nur vom Syuzhet (Handlung) abhängig ist, sondern von diesem vollkommen übernommen wird, so dass die Narration tatsächlich die einzige ,Realität‘ darstellt, zu der die Zuschauer*innen Zugang haben: Es gibt kein entsprechendes ,Außen‘, in dem alles, was wir sehen, stattfinden kann. Oder vielmehr etabliert die Narration eine eigene Realität (oder einen Realitätsstatus), statt die angenommene Geschichtenwelt auf die spannendste oder verständlichste Art zu präsentieren. Unzuverlässige Narration wird dann der Standardwert des Mind Games, allerdings wäre ,unzuverlässig‘ nicht mehr der angemessene Begriff, da dies nun die anerkannte Grundlage des Vertrags zwischen Film und Zuschauer*innen ist, die die Spielregeln entweder kennen oder sie gelernt haben: Man geht davon aus, dass die Narration falsche Fährten legt, uns hereinlegt und uns veräppelt: nicht so sehr, ,bis das Gegenteil bewiesen ist‘ (zum Beispiel durch die Wendung am Ende), sondern um uns gleich von Anfang an dazu zu verlocken, den Film ein zweites (oder drittes) Mal anzusehen.
In dieser Hinsicht sind die Filme von David Lynch exemplarisch, weil ,unzuverlässig‘ hier eindeutig ein Understatement ist und die Meinungen stattdessen von ,absichtlich inkohärent‘ bis hin zu ,verwirrend irreführend‘ und ,frustrierend trügerisch‘ gehen. Aber wenn man das gerade dargelegte Argument akzeptiert und das Spektrum narrativer Praktiken von Nolan und Fincher bis Shyamalan und Lynch als die neue Normalität betrachtet (ihr etablierter Status als Autorenfilmer hilft dabei, eine solche Annahme zu validieren), dann kann man sagen, dass in Mind-Game-Filmen die Narration beziehungsweise die Erzähler*innen grundsätzlich als unzuverlässig gelten sollten, es sei denn, man kann ihnen nachweisen, trügerisch zu sein. Dies verweist auf den vorherigen Punkt und enthält insofern einen weiteren Austausch von Standardwerten, als es die Narration (das Syuzhet oder die Handlung, d. h., die Art, wie wir Informationen erhalten) ist, die etabliert, worum es in einem Mind-Game-Film geht, während das Erzählte (die Fabula oder Geschichte, d.h., die Logik der Handlung, die diegetische Welt, das Zeit-Raum-Kontinuum, die Identität der Figuren) verformbar, fließend und absichtlich unbestimmt wird, was nicht nur der Realität von digital generierten Bildern entspricht, sondern auch an Zygmunt Baumans Konzept der „flüssigen Moderne“ (Bauman 2003)6 erinnert.
Was die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zu Puzzle Films trotz all ihrer Unterschiede gemeinsam haben, ist, dass sie alle die Bedeutung – und den Reiz – betonen, sich mit den ,Regeln‘ auseinanderzusetzen und zu lernen, sie zu befolgen: neugierig über die tiefere Struktur zu werden, die die Narrative generieren, und ihre Art, die Zuschauer*innen anzusprechen und zu aktivieren. Warren Buckland verweist darauf, Miklós Kiss und Steven Willemsen tun dies ebenso, und selbst Bordwells ,alternde Hipster‘ sind schlaue Zuschauer*innen, die das Spiel verstehen. Wie ich es vor zehn Jahren formuliert habe: Mit dem Publikum wird gespielt, es weiß, dass mit ihm gespielt wird und scheint sich auch nicht daran zu stören, dass mit ihm gespielt wird. Dieser ,Ich-weiß-dass-du-weißt-dass-ich-weiß‘-Aspekt des Spieltriebs in Mind-Game-Filmen scheint in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem Argument zu stehen, dass ,unmögliche Puzzle Films‘ die Tendenz hätten, Sucht, Paranoia und zwanghaftes Verhalten zu fördern. Aber es ist genau diese Spannung, die ich unterstreichen und – für den Moment – nicht auflösen möchte.
Stattdessen möchte ich die Perspektive verändern und den Mind-Game-Film nicht vom Standpunkt der Rezeption oder der Zuschauer*innen betrachten, sei dies mimetisch, affektiv oder kognitiv, sondern vom Standpunkt der Institution aus, also als Teil der reflexiven Selbstallegorisierung, mit der ich meine letzte Studie des klassischen und postklassischen Films The Persistence of Hollywood abgeschlossen habe. Ich hatte bereits Gelegenheit, J.D. Connors breiter gefächerte, aber ähnlich produzentenfokussierte Schriften über das zeitgenössische Kino zu zitieren, das er ,neoklassisch‘ nennt, und werde mich später wieder auf seine Beispiele beziehen, aber hier stelle ich die scheinbar klassischere modernistische These auf, nämlich, dass Mind-Game-Filme Hollywoods zeitgenössisches Meta-Kino sind: ein Kino, das a) Hollywoods eigene Überlebensstrategien aufführt und b) nicht nur mimetisch die partizipatorische Betrachtungssituation seines Publikums verdoppelt, sondern auch seine komplexen institutionellen und kreativen Feedback-Loops allegorisiert, während es c) reflexiv in das kognitive Ökosystem des zeitgenössischen neoliberalen Amerikas eingebettet ist, wo die Begriffe ‚Mind Game‘, ‚Wahrnehmungsmanagement‘ und die Bedingungen des ‚Postfaktischen‘ eine entscheidende strategische und auch immer stärker politisierte Rolle spielen.
Symptomatisch für Hollywoods Möglichkeiten im digitalen Zeitalter sind Mind-Game-Filme immer selbstreferentiell, reflexiv und aktiv in ein dynamisches Feedback zu ihrer realen (ökonomischen, geschäftlichen und demografischen) Umgebung eingebunden.7 Somit ist die Suche nach einer angemessenen Reaktion auf die Veränderungen in der allgemeinen Medienlandschaft – die veränderte Ökologie von Streaming-Plattformen, Quality-TV-Serien, Computerspielen und Online-Videos, die den immer noch entscheidend wichtigen Filmstart im Kino einerseits hinterfragen, andererseits aber auch komplementieren – eindeutig ein Faktor bei der Entstehung komplexer Formen des Geschichtenerzählens und der rätselhaften, scheinbar unbestimmten Handlungen. Aber man kann diese Schritte und Maßnahmen auch als eine aktualisierte Version dessen verstehen, worauf Hollywood schon immer abzielt: Neue Techniken in seine Praktiken einzubeziehen, experimentelle Formen aufzunehmen, avantgardistische Praktiken zu naturalisieren, ,Talent‘ zu vereinnahmen, wo immer es sich zeigt, und vor allem: sich durch alle möglichen Formen der internen Selbstregulierung jeglicher Einmischung von außen zu erwehren.
Reflexivität und Selbstbezüglichkeit in Hollywood sind keine Distanzierungsmechanismen oder eine selbstkritische Haltung; sie existieren und werden angewandt, um den Selbsterhalt (das ,Überleben‘) und die Selbstpräsentation (das Logo, die Marke) der Industrie (und, wenn wir Connor folgen, der einzelnen Studios) zu sichern (vgl. Connor 2015). Wie ich im Falle von James Cameron und AVATAR (USA 2009) argumentiert habe, kann diese Strategie auch dazu führen, dass eine scheinbar widersprüchliche Vorschrift erfüllt wird, nämlich „Zugang für alle“ sicherzustellen, während man „die Kontrolle behält“ (Elsaesser 2011a; Elsaesser 2011b). Entsprechend lassen sich Mind-Game-Filme (aber nicht nur diese)8 als Allegorien einer solchen Selbsterhaltung unter widrigen oder widersprüchlichen Bedingungen lesen: Da jeder eigenständige Film nicht nur eine bedeutende finanzielle Investition darstellt, sondern unterschiedliche Akteur*innen involviert sind, die unterschiedliche Agenden (Skripte) (ver-)folgen, kann seine Entstehung auch selbst zu einem Mind-Game-Narrativ werden, und wie wir sehen werden, ist INCEPTION ein herausragendes Beispiel eines solchen selbstallegorisierenden Meta-Kinos. Ein globales Publikum in einem Medium bedienen zu müssen, dessen leichte Reproduzierbarkeit zur Produktion von Raubkopien geradezu ermutigt, war eine weitere Herausforderung für Hollywood, auf die es mit unterschiedlichen Strategien reagierte. Angesichts der Verbreitung kritischer Meinungen, die innerhalb des Wochenendes vom Kinostart über Erfolg oder Misserfolg eines Films entscheiden, ist ein Film, den man mehrere Male anschauen muss, eine Art Versicherungspolice.
Andererseits verdienen enigmatische oder desorientierende Filme zwar vielleicht kein Geld an der Kinokasse, aber sie schaffen kulturelles Kapital dank der Online-Debatten und der Kommentare, die sie generieren, was wieder an die Studios und die Produzenten als ,wertvolle Daten‘ rückgekoppelt wird, die verarbeitet, beobachtet und analysiert werden, für den Zweck genauerer Vorhersagen und potentieller Risikominderung bei zukünftigen Projekten. Ganz ähnlich wie die Daten, die von Social-Media-Formen, von Online-Händlern und Suchmaschinen gesammelt werden, bedient sich die Filmindustrie immer mehr der KI, um Daten zu interpretieren, die nicht nur an der Kinokasse oder online gesammelt werden (vgl. Vincent 2019, Lash/Zhao 2016). In diesem Sinne könnten Mind-Game-Filme Kanarienvögel im Minenschacht oder eben die Testläufe neuer Prototypen gewesen sein: eine Funktion, die seit Mitte der 2010er Jahre die Eigenserienproduktionen von Netflix und die von der Plattform beauftragen Filme sehr clever zu übernehmen und zu erweitern versucht haben.
Was die zweite Meta-Kino-Dimension angeht, das mimetische Vorspielen von Publikumserwartungen und -verhalten: auch hier kommen Feedbackschleifen ins Spiel. Was Filme mit nicht-linearen Handlungslinien, Zeitreiseinstrumenten, desorientierenden Räumen, veränderbaren Figurenidentitäten und heimlichen Doppelgängern umsetzen, ist das Übersetzen der körperlichen Auseinandersetzung und des sensomotorischen Verhaltens einer neuen Art von Zuschauer*in in eine Geschichte, die man – dank der DVD oder des Downloads – stoppen, zurückspulen, erneut abspielen und so generell den Flow eines Filmes beeinflussen kann. Dieser Flow – die geschmeidige Synchronisation und subtile Angleichung von Leinwand- bzw. Bildschirmzeit und gelebter Zeit – war zuvor (und ist im Kino immer noch) unumkehrbar (vgl. Ramirez Berg 2006). Die neue Zuschauer*in allerdings, aufgewachsen mit Videospielen, ist an alternative Erzählwelten, unterschiedliche Spiellevel, Avatare, Wiederholungen und Neustarts gewöhnt und erwartet diese womöglich sogar. Es ist, als ob Mind-Game-Filme die technischen Bedingungen, die sie visuell ermöglicht haben, selbst aufführten: Die Filmemacher*innen können in der Postproduktion fast alle Parameter der physischen Realität und Körperbewegung steuern und manipulieren. Aber die Filme antizipieren diese andere mimetische Beziehung (und fordern sogar zu ihr auf), und zwar diejenige, die sie online vereinnahmt, sampelt und umfunktioniert, in Mash-ups, Supercuts oder Videoessays (vgl. Mittel 2016, Piotrowska 2017). Insgesamt legen sie die Messlatte für Hollywood-Regisseur*innen und -Autor*innen ziemlich hoch: Ihre Filme müssen auf der Leinwand gut aussehen, aber auch beiläufige Zuschauer*innen ‚anfixen’, wenn sie auf einem Laptop gespielt werden; sie müssen als kohärente Geschichten und autonome, abgeschlossene Erzählungen funktionieren, aber auch verständlich bleiben, wenn sie in einzelne Szenen auseinandergeschnitten oder für spektakuläre Versatzstücke geplündert werden; sie müssen Hinweise verstecken und besondere Informationen einschleusen (‚Easter eggs’), um so das wiederholte Betrachten, das mittlerweile einen erheblichen Anteil an den von einem Film generierten Gesamteinnahmen hat, sowohl nötig zu machen als auch zu belohnen.
Dieser hohe Anspruch wird von Mind-Game-Filmen erfüllt: nicht nur oder nicht unbedingt auf inhaltlicher Ebene, sondern vielmehr auf der Ebene von Struktur und Gestaltung. Wenn dies symptomatisch für die Herausforderungen ist, mit denen sich die Filmindustrie durch die digitalen Medien und den damit einhergehenden Veränderungen in Technologie und im Verhalten eines an Direktzugriff und Videospiele gewöhnten Publikums konfrontiert sieht, dann bewältigen Mind-Game-Filme diese Herausforderungen auf der Metaebene. Was Wissenschaftler*innen als gegensätzliche Tendenzen identifiziert haben (z.B. klassisches Geschichtenerzählen gegen nicht-lineares Geschichtenerzählen, narrative Logik gegen Videospiellogik) sind keine Entweder-/oder-Alternativen, sondern in die Struktur der Filme eingebaute, gleichermaßen mögliche Identitäten (wie im Fall von GROUNDHOG DAY und SOURCE CODE), performative Widersprüche (in Filmen wie PRIMER (USA 2004), PREDESTINATION oder LOOPER) oder (wenn Zeitreisen, Teleportation, Körpertausch involviert sind) gleichermaßen plausible Unmöglichkeiten.
In dieser Interpretation ist ‚komplexe Narrative‘ der neue Name für das, was ich andernorts Hollywoods ‚strukturierte Unentscheidbarkeit‘ genannt habe. Damit ist es aber auch eine Frage der Perspektive oder Position: Nicht jede*r Zuschauer*in hat die „Fähigkeit, zwei gegensätzliche Ideen gleichzeitig zu verfolgen, und weiterhin zu funktionieren“,9 und nicht jeder Mind-Game-Film kann die notwendige „parallaxe Sicht“10 umsetzen oder sie durchgehend halten, die gegensätzlichen oder nicht-konvergierenden Reaktionen Platz bietet, während sie ein Publikum dazu auffordert, die Regeln hinter den Regeln ausfindig zu machen. Als Konsequenz haben beispielsweise Kiss und Willemsen unterschiedliche Grade an ,Verrätselung‘ vorgeschlagen (lösbar, unter bestimmten Bedingungen lösbar, unlösbar),11 um das Thema besser zu fassen. Aber wenn man versucht, die sorgfältig gefertigte Offenheit des Mind-Game-Films zu rechtfertigen (wofür die scheinbare Kompatibilität von ‚klassischem Narrativ‘ und ‚Videospiel-Logik‘ eine Art Beweis darstellt), wird deutlich, dass die Unentscheidbarkeit kein Entwurfsfehler, sondern vielmehr eine erwünschte Entwurfseigenschaft ist. Während Buckland dafür wirbt, Puzzle Films als Mischformen zu sehen, die die Eigenschaften beider Formen miteinander verbinden, ist meines Erachtens ein anderes Bild für Mind-Game-Filme passender: Ich denke hier an die Wahrnehmungsillusion der Ente-Hase-Zeichnung, wo man entweder einen Hasen oder eine Ente ,erkennt‘, aber nie beides gleichzeitig sehen kann. Tatsächlich formuliert GROUNDHOG DAY ein ähnliches Argument, als einer von Phils Saufkumpanen sein Bierglas hochhält und behauptet, er könne den Charakter eines Mannes daran erkennen, ob dieser das Glas als halb voll oder halb leer ansähe.12
Von RAMBO (USA 1982) zu BLACK HAWK DOWN (USA/UK 2001), von APOCALYPSE NOW (USA 1979) zu SAVING PRIVATE RYAN (USA 1998) ist das Rettungsszenario Amerikas eigennützige Darstellung dessen, was ansonsten (ruinöse oder gescheiterte) Angriffskriege (zur ‚Wiederherstellung der Demokratie‘) sind. Dass der Fall bei SAVING PRIVATE RYAN anders liegt, ist auch deshalb so, weil der Zweite Weltkrieg noch immer als einer der ehrenwerten und gerechten Kriege der USA gilt. Überdies hinterfragt Spielbergs Film die besondere Logik, die save-and-rescue-Missionen zugrunde liegt, nämlich warum genau diese Person/Sache/Gemeinschaft ‚gerettet‘ wird und nicht eine andere. Ein Film, der ebenso die Trope der ‚heroischen‘ Rettungsmission im reflexiven Modus überarbeitet, ist Christopher Nolans DUNKIRK (GB/F/NL/USA 2017), dessen erstes Segment eine Hommage an SAVING PRIVATE RYAN ist, bevor er sich für eine andere Art von komplexem Narrativ mit ineinandergreifenden Handlungen entscheidet, bei dem dieselben Figuren in unterschiedlichen Segmenten erscheinen. Die verwirrenden Elemente von DUNKIRK sind vor allem die komprimierten und ausgedehnten Zeitskalen während seiner Länge von drei Stunden.13
Aber Nolans INCEPTION (dessen Handlung sich ebenso um die Trope des Nachhausekommens dreht) ist vielleicht der paradigmatischste Mind-Game-Film und kann als eine Art Zusammenfassung für die unterschiedlichen Schritte meines Argumentes dienen. INCEPTION befolgt die klassischen Hollywood-Regeln der narrativen Konstruktion, während er gleichzeitig perfekt die von Buckland identifizierte Videospiellogik verkörpert. Seine narrativen Strategien wurden nicht so sehr als unzuverlässig oder täuschend beschrieben, sondern vielmehr als so komplex, dass sie sich jeglicher Analyse widersetzen. Ein Teil der Schwierigkeit kommt daher, dass die Machtverhältnisse der Protagonist*innen in Träumen innerhalb von Träumen verschachtelt sind: eine Mise-en-abyme, die zudem nicht nur durch sogenannte ‚luzide’ (d.h. geteilte) Träume verkompliziert wird, sondern auch durch Figuren, die sich in den Träumen von jemand anderem wiederfinden. Angesichts der nicht chronologischen Narration mit unmarkierten Rückblenden, die auch Vorausblenden sein könnten (und umgekehrt), verdoppelt durch asymmetrische Machtverhältnisse darüber, wer in wessen Traum erscheint (und somit, wer wen manipuliert), repräsentiert INCEPTION einen besonderen Fall von ungleicher Wissensverteilung, die man in den meisten mit Spannung, Antizipation und retrospektiver Neubewertung sowie mit Identifikation und Teilnahme arbeitenden Filmen findet. Nolan visualisiert (oder vielmehr schematisiert) das verschachtelte Narrativ mit einem Bild der Penrose-Treppe mit ihren vier 90-Grad Windungen, die unendlich in einer kontinuierlichen Schleife herauf und herab führt, und zeigt eine (gleichermaßen aufsteigende und absteigende) Vertikalität mittels eines altmodischen, mit Scherengittern versehenen Aufzugs. Für Eliot Panek ist INCEPTION insofern extrem, als hier eine Penrose-ähnliche Architektur ebenso auf die Verteilung von Wissen zutrifft wie auf den Realitäts- bzw. Traumstatus der Bilder und die verschachtelten narrativen Ebenen, in die auch das Publikum miteinbezogen wird:
Das Publikum erfährt später, dass Cobb und Arthur wissen, dass sie sich in einem Traum innerhalb eines Traums befinden. Allerdings weiß das Publikum etwas, das Cobb und Arthur nicht wissen: Wenn Arthur fragt, ‚was ist da oben los?‘, weiß das Publikum etwas, was er und Cobb nicht wissen – dass das Gepolter von Randalieren verursacht wird, die durch die Straßen rennen und Autos in die Luft jagen. Dieses Wissen könnte das Publikum davon abhalten, komplett den Versuch aufzugeben, die Szene zu interpretieren: Wenn man zu lange verwirrt ist, während die Figuren scheinbar mehr wissen als man selbst, fühlt sich das eher entfremdend an. [...] [Aber] die Protagonisten wissen auch etwas, was die erstmaligen Zuschauer*innen nicht wissen können: dass sie sich in einem Traum innerhalb eines Traums befinden. Es lässt sich also nicht so leicht sagen, wer hier hinsichtlich des Wissens im Vorteil ist (das Publikum oder die Protagonisten); aber wenn man sich entscheiden müsste, würde man wahrscheinlich sagen, dass das Publikum immer noch benachteiligt ist, da es nicht einmal weiß, inwieweit irgendetwas von dem, was sie sehen, innerhalb des diegetischen Universums ‚real‘ ist. (Panek 2014: 81)
Panek legt detailliert dar, was er das „Hin und Her zwischen der Preisgabe, dass Protagonist und Antagonist über Wissen verfügen, über das der jeweils andere (und das Publikum) nicht verfügt“ (ebd: 82) nennt. Mit differenzierten narratologischen Instrumenten arbeitet er heraus, wie sorgfältig INCEPTION als Film geplant wurde und wie dieser versucht, das Publikum durch das Management von Wissensverteilung zu involvieren, während er gleichzeitig einen hohen Grad von Verwirrung und absichtlicher Desorientierung aufrecht erhält, was (für einige Zuschauer*innen) an Inkohärenz grenzt.
INCEPTION ist allerdings vor allem der Mind-Game-Film als Meta-Kino, und zwar nicht nur wegen der Art und Weise, in der er so selbstreferentiell seine Escher-mäßigen Labyrinthe und ihre gestaltverändernden Trompe-l’Oeils einsetzt, was uns zur Ente-Hase-Version der Unentscheidbarkeit von Mind-Game-Filmen zurückbringt. Auch ist INCEPTION nicht nur deshalb Meta-Kino, weil er sich so offensichtlich als eine Allegorie des Filmemachens lesen lässt (und auch häufig so gelesen wird), wobei der Star Leonardo DiCaprio das Alter Ego des Regisseurs ist, ähnlich wie Marcello Mastroianni Federico Fellinis Alter Ego in 8½ (I/F 1963) war.
Das Überfallteam bildet die wichtigsten Akteur*innen in einer Filmproduktion ziemlich genau ab. Cobb ist der Regisseur, während Arthur, der Mann, der für die Recherche verantwortlich ist und die Schlafgelegenheiten organisiert, der Produzent ist. Ariadne, die Traumarchitektin, ist die Drehbuchautorin – sie erschafft die Welt, in die eingetreten wird. Eames ist der Schauspieler (das ist so offensichtlich, dass die Figur an einem altmodischen Schminktisch mit Spiegel sitzt, in der Art, wie sie von Theaterschauspieler*innen benutzt wird). Yusuf ist der Mann für die Technik [...]. Dann bleiben noch zwei zentrale Figuren übrig. Saito ist der Mann fürs Geld, der Kerl im Anzug, der denkt, er wäre Teil des Spiels. Und Fischer, das Ziel, ist das Publikum. Cobb als Regisseur nimmt Fischer mit auf eine bezaubernde, stimulierende und aufregende Reise, die ihn dazu führt, sich selbst besser zu verstehen. Cobb ist der mordsmäßige Filmregisseur, [...] der die Action liefert, das Spektakel, der aber auch die Bedeutung und die Menschlichkeit und die Emotion liefert.14
Wie der Verweis auf Fellini zeigt, ist INCEPTION zudem auch deshalb metafilmisch, weil er auf mehr Filme verweist, als man überhaupt auflisten mag: von JAMES BOND (UK/USA seit 1962), der BOURNE-Reihe (USA 2002–2016), den MISSION IMPOSSIBLE-Blockbustern (USA seit 1996) zu den Gaunerfilmen THE DIRTY DOZEN (UK/USA1967) und OCEANS 11 (USA 2001), von Buñuel (UN CHIEN ANDALOU, F 1929) zu Cocteau (ORPHEE, F 1950) und von Antonioni (ZABRISKIE POINT, USA 1970) zu den Wachowski-Geschwistern (THE MATRIX, USA 1999–2003) sind die Andeutungen und Hommagen so allgegenwärtig, dass sie manchmal die Form eines ganzen Film-im-Film-Pastiches annehmen.
Aber wir müssen noch eine weitere Schicht hinzufügen: INCEPTION allegorisiert insofern ganz spezifisch das digitale Filmemachen, als im zeitgenössischen Kino immer mehr in die Postproduktion ausgelagert wird, wo der Film in outgesourcten Tricklabors und externen Arbeitsstationen seine Form annimmt. ,Träumen‘ steht hier für ,digitalisieren‘: Jede Realität, jedes feste Objekt, jedes Setting und jede Stadt kann fließend, formbar werden, expandieren oder sich zusammenziehen, explodieren oder verschwinden, und dabei werden die Naturgesetze neutralisiert und die Schwerkraft wird außer Kraft gesetzt. Allerdings geht die metafilmische Dimension von INCEPTION noch über auktoriales Selbstportrait, digitale Entmaterialisierung oder Allegorie der Teamarbeit und der Arbeitsteilung in der Postproduktion, wie sie für die Produktion eines zeitgenössischen Blockbuster-Films nötig sind, hinaus. Die Handlung, um die sich der Plot dreht, ist eine ‚Inzeption‘, also ein Eindringen, das nicht nur dieser Film, sondern alle Filme anstreben: aus ,Träumen‘ Profit zu ziehen und Ideen in Köpfe einzupflanzen. Der ,wahre‘ Titel des Films ist mit anderen Worten ,Kino‘, was bedeutet, dass INCEPTION nicht zuletzt deshalb ein Mind-Game-Film ist, weil er eine Allegorie auf ein Mind Game ist: eine aufwendige Manipulation des Realitätssinns der Zuschauer*innen, ihrer Orientierung in Raum und Zeit, und zwar über die Prüfung ihrer Fähigkeit ein Narrativ zu verstehen, indem sie versuchen, einer Geschichte zu folgen. Und während die Verweise auf Traumlevels, Kicks und Limbus mimetisch die Schritte eines Videospiels und die Handlungen der Spieler*innen widerspiegeln, gibt die Erzählung dem Publikum gerade genug von einem ‚Ariadne’-Faden, um den Hinweisen – im Sinne der Suspense – durch das Labyrinth zu folgen, in der Erwartung, am anderen Ende wieder herauszukommen und gemeinsam mit dem Helden ‚nach Hause‘ zurückzukehren.
Wenn INCEPTION die Mise-en-abyme der ‚Inzeption‘ (also des Eindringens) als die metafilmische Wahrheit des zeitgenössischen Films ist, stellt sich folgende Frage: Formuliert er eine ideologische Kritik oder präsentiert er eine postmoderne Feier? Es ist ja schließlich ein Gaunerfilm (auch als Heist-Film bekannt): Diese Avatare einer Filmcrew sind Dieb*innen und Kriminelle, und der Vertreter des Publikums wird ,die Marke‘ genannt – das Ziel oder Opfer. Ganz offen wird uns gesagt, dass wir sozusagen ‚am helllichten Tage’ beraubt werden, nur dass der Raub in der Dunkelheit eines Kinos stattfindet. Der Film räumt freimütig ein, dass Extraktion und ‚Inzeption‘ etwas sind, was das Kino mit Werbung, Gehirnwäsche, Hypnose und anderen Formen der Beeinflussung und Gedankensteuerung gemeinsam hat. Aber dies wiederum legt nahe, dass die Art von symptomatischer Interpretation oder ideologischer Kritik, wie sie von Garrett Stewart betrieben wird, angesichts der Tatsache, dass der Film diese Analogie zwischen Kino und ‚Inzeption‘ ganz offen versteckt, nicht mehr angemessen ist. Solche ideologischen Interpretationen riskieren, genau das zu tun, was Bordwell auch tut: die Mind-Game-Komplexität und narrative Mehrdeutigkeit in etwas zurückzuübersetzen, was wir bereits wissen, sei dies eine klassische Geschichtenkonstruktion oder kapitalistische Unternehmensideologie. Eine solche Interpretation geht davon aus, dass sie offenbaren kann, was das Mind Game zu verstecken versucht und entscheidet die Unentscheidbarkeit zugunsten ihrer ideologischen Botschaft.
Aber vielleicht ist dies auch nur deshalb so, weil die Frage – kritisch oder affirmativ, dekonstruktiv oder konformistisch, klassisch oder postmodern? – so falsch gestellt ist. Ich arbeite mit anderen Begriffen und argumentiere, dass Mind-Game-Filme die materiellen und technologischen Bedingungen, die sie überhaupt erst ermöglichen, mimetisch nachspielen und reflexiv allegorisieren. Mimesis und Allegorie sind in diesem Kontext nicht zwei diametral entgegengesetzte Repräsentationsmodi – oder nur andere Bezeichnungen für affirmativ und kritisch. Sie sind vielmehr zwei Seiten derselben Medaille, was es dem Film erlaubt, mehrere unterschiedliche Gruppen anzusprechen und so eine andere Version eines ,Zugangs für alle‘ zu bieten, während man gleichzeitig ,die Kontrolle behält‘ – wobei die Kontrolle hier darin besteht, sich gut sichtbar zu verstecken oder den Raubüberfall am helllichten Tage durchzuführen.
Im Fall von INCEPTION ließe sich argumentieren, dass die narrative Architektur des Filmes nicht nur einer Art Tromple-l’Oeil-Perspektive ähnelt, bei der die Zweidimensionalität der Leinwand für dreidimensionale illusionistische Tricks (die Penrose-Treppe als die strukturelle Metapher des Films) verwendet wird, sondern dass auch noch eine andere Art von Parallaxe am Werk ist, die uns dazu verführt, die falsche Sache zu betrachten oder die falsche Person zu verfolgen und dadurch zu verpassen, was sonst noch geschieht. Beispielsweise drehten sich die ausdauerndsten Debatten um die Frage, ob der Kreisel (der ‚Totem’, der dabei helfen sollte, Wirklichkeit und Traum voneinander zu unterscheiden) am Ende kippelt und im Begriff ist zu fallen oder ob er sich weiter dreht: Indem er auf Schwarzfilm schneidet, lässt uns Nolan ‚im Dunkeln‘, und es bleibt offen, ob Cobb, als er wieder mit seinen Kindern vereint ist, immer noch im Traum ist oder endlich wieder ‚in der realen Welt‘. Alle Möglichkeiten wurden debattiert und für jede eine plausible Lösung angeboten (der Kreisel ist eine Finte, denn er ist nicht sein Totem, sondern das von Mal, seiner verstorbenen Frau, während sein Totem der Ehering ist, den er manchmal trägt und manchmal auch nicht; der ganze Film ist ein Traum und die Unterscheidung von Realität und Traum ist eine Finte, usw.). Diese unterschiedlichen Möglichkeiten machen uns auf das strukturierende Prinzip von gleichermaßen plausiblen Alternativen aufmerksam, also von Unentscheidbarkeit. Aber warum hier aufhören? Warum nicht argumentieren, wie es Todd McGowan tut, nämlich dass Cobb nicht die zentrale Figur, sondern in Beziehung zu seinem eigenen ‚Begehren‘ dezentriert ist, wodurch Mal zum Gravitationszentrum des Films wird. Oder – angesichts der starken ödipalen Thematik, die sich durch den Film zieht, mit Saito und Fisher senior als eindeutige Vaterfiguren – warum nicht den Professor (Michael Caine) hinzufügen, Mals Vater, Cobbs Schwiegervater und derjenige, der Cobb erlaubt, sich eine weitere seiner ‚Töchter‘, nämlich Ariadne, zu eigen zu machen? Und was wäre, wenn Ariadne, die ja diejenige ist, die herausbekommt, welche Rolle Mal immer noch in Cobbs ‚Unterbewusstsein‘ spielt, vom Professor dazu ‚delegiert‘ wurde, Cobb zu extrahieren und in ihn einzudringen (incept), was ihr Name als diejenige andeutet, die alle Fäden in der Hand hält. Der Professor, der Mal wegen Cobbs Waghalsigkeit verloren hat, hat gewiss ein Motiv dafür, Cobb ‚kontrollieren‘ zu wollen. Wichtig ist nicht, ob dies die korrekte Version ist, sondern wichtig ist lediglich die Tatsache, dass es mehrere zusätzliche Möglichkeiten gibt, wie das Narrativ geformt und umgeformt, zentriert und neu zentriert werden kann, was die parallaxe Verlagerung der Geschichte aufrecht erhält – und damit auch die Möglichkeit, dass eine Verschiebung im Betrachtungswinkel eine andere Ansicht des Objekts offenbaren kann.
Wie fast alle, die über den Film schreiben, ebenso zugestehen, „wurde INCEPTION klar in einem Gedanken von Vieldeutigkeit konstruiert, und das macht es fast unmöglich, eine endgültige, wahre Antwort zu finden“.15 Während dies weder Kritiker*innen noch Kommentator*innen davon abgehalten hat, beim Versuch, eine definitive Interpretation zu finden, ihren Ruf aufs Spiel zu setzen (meist mit einem Fokus darauf, wie das Ende zu interpretieren ist und zu entscheiden, ob Cobb in der letzten Szene immer noch träumt oder sich in einer fiktionalen ‚realen‘ Realität befindet, in der er wieder mit seinen Kindern vereint wird), hat INCEPTION, indem er so offen die Frage stellt, was real und was Traum ist, warum Träume sich so real anfühlen können, und woher wir wissen, ob wir träumen oder nicht, auch die Aufmerksamkeit einer ganzen Menge von Philosoph*innen auf sich gezogen. Der Köder hier ist ein Problem, das so alt ist wie die Philosophie selbst, denn wenn wir zu Platon und dem Höhlengleichnis zurückkehren, wird dieses zu einer Art Ursprungsmythos für das Kino: Was, wenn die phänomenale Welt, die wir sehen, berühren und begreifen, lediglich eine Chimäre ist, die Spiegelung einer idealen Welt der Formen, die wir nur durch abstrakte Konzepte erreichen können – oder, wie wir heute sagen würden, durch die Mathematik (Platon 2017)? Während Sokrates und Glaukons Debatte über das Wesen von Wahrnehmung und Wissen in Der Staat durch Descartes, Hume, den Bischof Berkeley (bis hin zu Hilary Putnams ‚Gehirne-im-Tank‘-Gedankenexperiment) am Leben erhalten wurde, haben die Neurowissenschaften der Möglichkeit einer radikalen Trennung zwischen unseren Gehirnen und unseren Körpern beziehungsweise auch eines Verstandes, der vollkommen von elektrochemischen Impulsen abhängig ist, um irgendetwas zu sehen oder zu spüren und demnach zu wissen, neues Leben eingehaucht. Somit lässt sich INCEPTION in seiner Betonung von Ideen als platonisch lesen, gleichzeitig aber auch als antiplatonisch insofern, als er diese Ideen nicht als Garanten für irgendeine höhere Wahrheit sieht, sondern als genau den Stoff, der instrumentalisiert, manipuliert und zu Geld gemacht werden kann. Im Drehbuch werden Ideen tatsächlich als ,Parasiten‘ bezeichnet, die sich in das Gehirn eingraben, eher wie fixe Ideen oder Obsessionen, und sind somit wieder nah an Paranoia und Sucht: der Heilige Gral des heutigen Hollywood.
Als multidimensionaler, nicht-linearer Film, eine von konkurrierenden narrativen Autoritäten erzählte Geschichte, die mehrmals angesehen werden muss und wechselseitig kompatible, aber diametral gegensätzliche Interpretationen zulässt und viele Schichten von metafilmischer Reflexivität bietet, erfüllt INCEPTION alle von mir dargelegten Kriterien des Mind-Game-Films. In der ödipalen Geschichte einer Vater-Sohn-Rivalität und einem Familienmelodram von Schuld, Trauma und der Rückkehr des Verdrängten liefert Nolan auch eine Selbstdarstellung als offene Selbstenthüllung: ‚so machen wir das heutzutage im Hollywood-Filmgeschäft; wir engagieren die besten Talente aus der ganzen Welt, und wir behandeln die schönsten Orte auf dem Planeten als unsere Filmkulisse, die wir, wenn uns danach ist, in die Luft jagen, verdrecken oder zusammenfalten.‘ Cooles Selbstbewusstsein, abgehobener Gleichmut und mit Zynismus versetzte Ironie halten in dieser ‚realistischen‘ Einschätzung des globalen Hollywood das Gleichgewicht.
Durchsetzungsstarkes oder banges Allegorisieren ist überdies weder für das klassische noch das postklassische Kino neu, wie J.D. Connor (der den Begriff ‚neoklassisch‘ bevorzugt) seit über einem Jahrzehnt immer wieder zeigt. INCEPTION, von Warner Bros in Kooperation mit Legendary produziert, mit denen Nolan seit dem BATMAN-Franchise (USA/UK 2005–2012) ein enges Verhältnis hat, ist besonders gut für eine Interpretation geeignet, die konkurrierende Macht- und Autoritätszentren innerhalb globaler Unterhaltungskonzerne hervorhebt. Im Film werden diese als diejenigen identifiziert, deren Geschäft es ist, die Energiemärkte der Welt zu beherrschen – was wiederum eine treffende Metapher für das Kino als eine Affekt- und Emotionsmaschine ist. Wenn zudem Filmemacher*innen in den USA – Hollywoodstudios und Independents, sowohl einzeln als auch in Beziehung zueinander – wirklich auf allen Ebenen in konkurrierend-kooperative Beziehungen eingebunden sind, dann lässt sich Hollywood am besten durch die positiven/negativen Feedbackschleifen charakterisieren, die ich mit meiner Formel ,Zugang für alle‘ und ,Kontrolle behalten‘ beschreiben würde. Die dieser Formel inhärente Spannung sollte zweifelsohne weiter ausgearbeitet werden hinsichtlich der spezifischen Budgetschritte (z. B. Steuerfreibeträge, Arbeitsverträge, Auswahl von Drehorten und Crews usw.), juristischen Manöver und dem Zusammenspiel mit den Behörden, die die konkreten Bedingungen bestimmen, unter denen ein Drehbuch ein fertiger Film wird. Aber die Formel bietet eine Matrize dafür, wie die unternehmerische Machtkonstellation in das Narrativ des Films eindringt, die Selbstdarstellung der beteiligten Firmen allegorisiert und dabei auch die konkurrierenden Kräfte im Gleichgewicht hält, was – wie INCEPTION deutlich macht – bedeutet, dass man Leute so bestiehlt, dass sie denken, sie würden freiwillig etwas geben.
Allerdings lag mein Fokus auf Mind-Game-Filmen und wie und warum sie Momente der Unentscheidbarkeit generieren, deren Anwendungen und Funktion potentiell miteinander im Konflikt stehen, sodass Unentscheidbarkeit an sich das wird, was das Gleichgewicht herstellt – und das Kino am Kipppunkt hält. Eine solche Arbeit der Unentscheidbarkeit – ich hoffe, ich habe klargemacht, dass semantische Penrose-Treppen und strukturelle Escher-Labyrinthe zu konstruieren Arbeit ist, die erhebliche dramaturgische Expertise und ein beachtliches Können beim Schreiben verlangt – diese Arbeit mag sehr wohl eine Reaktion auf das alte geflügelte Wort von William Goldman über Hollywood sein: ,Niemand weiß irgendetwas.‘ Was Goldman meinte, war, dass niemand im Filmgeschäft, unabhängig von seiner Position in der Unternehmenshierarchie, seinem Talent oder seiner Erfahrung, weiß, welcher Film erfolgreich ein wird oder warum die erfolgreichen Filme denn nun tatsächlich Erfolg hatten. Dies impliziert allerdings nicht, dass es einfach nur eine simple Frage von Glück ist, sondern dass es wahrscheinlich zu viele Variablen für eine ‚lineare‘ Voraussage gibt, was ja tatsächlich eine Art ist, wie narrative Komplexität und Nicht-Linearität, wie sie für Mind-Game-Filme typisch sind, die realen Bedingungen allegorisieren, unter denen Filme in der Ära der von Kreativagenturen geführten einmaligen Pauschalarrangements gemacht werden:
Wenn jedes Drehbuch ein Businessplan ist, dann ist jede Produktion eine Scheinfirma, eine virtuelle Firma, die zu der tatsächlichen Firma führt, die sie ist, und diese widerspiegelt. In Production Culture formuliert John Thornton Caldwell dies folgendermaßen: ,Weil Film und Fernsehen so kapitalintensiv sind, funktioniert ein Drehbuch als Finanzangabe, detaillierte Investitionschance und Geschäftsvorschlag.‘ Steht ein Star zur Verfügung? Ist der Drehort ,frisch‘? Soll der Film so beworben werden, dass er vor Weihnachten in die Kinos kommen kann? Hat der Film einen garantierten Slot im Kabelfernsehen? Wie wird er sich in den diversen Distributionsnetzwerke behaupten? Dies sind die virtuellen Zeiten und Räume eines Films, und wenn sie wirklich werden, können sie, durch dasselbe Manöver, in ihrer Virtualität erhalten bleiben, als Bilder und Sounds, als Selbstallegorisierungen. (Connor 2015: 143; Herv. im Original)
Geht man davon aus, dass für Produzent*innen komplexe Narrative ein Weg sind, um konkurrierende Interessen, strategische Ziele und Managemententscheidungen im Gleichgewicht zu halten, dann nimmt auf Seiten des Publikums die Unentscheidbarkeit die Form an, dass man sich nicht so sehr uneinig darüber ist, ‚was‘ ein Film bedeutet, sondern vielmehr darüber, ‚wie‘ er bedeutet. Somit mag dies der angemessene Zustand nicht nur für ein Zeitalter der wachsenden (politischen) Polarisierung sein, sondern auch der wachsenden Skepsis. Dem ‚niemand weiß irgendetwas‘ würde ‚niemand kann sich auf irgendetwas einigen‘ entsprechen, was die Mind-Game-Filme selbstreferentiell inszenieren, statt es lediglich zu provozieren, und somit – auf einem anderen Weg – bestätigen, warum sie sowohl als Prototyp als auch als Symptom fungieren können.
Übersetzung: Wilhelm v. Werthern, www.zweisprachkunst.de
Redaktionelle Bearbeitung: Angela Rabing, Rasmus Greiner, Vrääth Öhner
Lektorat: Jessica Franz
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