Digitale Bewegtbilder als ortsspezifische Praktiken
Extended-Reality-(XR)- oder Mixed-Reality-(MR)-Umgebungen, auf welche ich mich im Folgenden hautsächlich konzentriere, ziehen schon seit mehr als zwei Dekaden eine radikale Umstrukturierung musealer Dispositive mit sich. Im Kontext von Kunstmuseen sind digitale Praktiken schon seit geraumer Zeit zum Einsatz gekommen, die Erweiterung um digitale Räume an (deutschen) Erinnerungsorten und Gedenkstätten schritt bis dato zögerlicher voran. Doch der Vorbehalt, historische, geschichtssensible Orte um virtuelle Räume zu erweitern, weil die daraus entstehenden ästhetischen Erfahrungsräume zum Beispiel zu sehr an Gaming- und/oder Enter-/Infotainment-Ästhetiken erinnern, scheint obsolet geworden zu sein: Vor dem Hintergrund des Ablebens der meisten Shoa-Überlebenden und den rasanten technologischen Entwicklungen – wie zum Beispiel dem volumetrischen Verfahren zur Erzeugung von 3D-Bewegtbildern (s.u.) – wird nach neuen Formaten und Modi zeitgeschichtlicher Vermittlung gesucht.
Digitale Speicher- und Archivierungsprozesse haben hingegen längst Einzug in museale respektive wissensvermittelnde Räume gehalten. Im Kontext von Förderprogrammen wie dem digiS (Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung), wie es beispielsweise in Berlin seit 2012 eingerichtet worden ist, werden Kultureinrichtungen nun systematisch bei der technologischen Auf- und Umrüstung unterstützt. In diesem Rahmen wird vor allem auf digitale Datensicherung- und Übertragung abgezielt: Der Fokus liegt vorrangig auf der (Neu-)Erschließung vorhandener Archivalien und deren Übertragung in den und Nutzbarmachung im virtuellen Raum. So zum Beispiel die Übertragung ins Digitale des Adressbuches der Dada-Künstlerin Hannah Höch, welches sie von 1917 bis in die 1970er Jahre geführt hatte und welches in den Archiven der Berlinischen Galerie verwahrt worden ist und wird. Digitalisierung als Erschließungsarbeit, wie es das Atelierhaus Kolbe, eine kleine Institution, verstehen will, geht dabei über reine Speicherung als digitales Datenset hinaus. Die skulpturalen Arbeiten müssen für diesen Vorgang aus den Archiven ausgehoben und wieder, neu- oder sogar erstmals zusammengebaut werden, um diese 3D-Skulpturen in 2D-digitale (Bewegt-)Bilddaten zu überführen und zu sichern. Die schiere Übertragung analoger in digitale Daten generiert dabei neue Sichtbarkeiten und Zugriffsmöglichkeiten: die Implementierung derselben als/in multimediale Displays haben Museumsorte vermehrt in Informationsumgebungen verwandelt, in denen sich virtuelle und reale Räume kreuzen.
Im Folgenden möchte ich vor diesem Hintergrund fragen, wie sich Prozesse der Digitalisierung des musealen Raumes als je spezifische Handlungspraktiken einschreiben und welche Technologien des Erinnerns dabei auszumachen sind. Um welche neuen Räume wird das Expanded Museum (vgl. Hünnekens) tatsächlich erweitert? Wie können historisch-politische (Gedenk-)Orte durch digitale (Film-)Räume / virtuelle Räume erweitert werden, ohne die historisch-topografischen Spuren zu verwischen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang die zunehmend eigenständige Operationalität digitaler (Ausstellungs-)Plattformen für das Konzept der Ortsspezifik? Das Konzept der Ortspezifik hat für Erinnerungsorte und geschichts-politische Kontexte naturgemäß eine je spezifische Bedeutung und hat in diesem Kontext Erweiterungen und Umdeutungen erfahren, die vor allem auf einen partizipatorischen Modus von Rezipient*innen abzielen.1 Dieser Text will diesen Modus der Teilhabe am Schreiben und Erinnern von Geschichte mit dem des interaktiven Zugriffs auf und Abrufens von digitalen Bewegtbildern im Verbund mit Mixed-Reality-Umgebungen in musealen und öffentlichen geschichts-vermittelnden Räumen zusammen denken und fruchtbar machen.
Bevor ich mich konkreten Beispielen zuwende, möchte ich an dieser Stelle nochmals nachzeichnen, dass virtuelle Praktiken nicht zwangsweise immersive Modi hervorbringen. Medien wie das Panorama oder das Stereoskop haben von jeher auf immersive Wahrnehmung von Seiten der Betrachter*innen abgezielt: hierbei spielt es zunächst keine Rolle, ob es sich um virtuelle erweiterte Panoramen, wie beispielsweise Yadegar Asisis Panorama von Pergamon (Pergamon Museum) handelt oder aber real-physische Panoramen, wie sie um 1900 Hochkonjunktur erfahren haben.
Lambert Wiesing unterscheidet in Virtuelle Realität vier Formen von Bildmedien: „1.das starre Bildobjekt des Tafelbildes, 2. das bewegte, aber determinierte Bildobjekt des Films, 3. das frei manipulierbare Bildobjekt der Animation und 4. das interaktive Bildobjekt in der Simulation.“ (Wiesing 2018: 136)
Wiesing kritisiert den Gedanken, das Virtuelle dadurch zu definieren, „eine perfekte Angleichung des Bildes an die Wahrnehmung entstehen zu lassen“ (ebd: 137). Die Immersion, das Eintauchen, wird als ein Modus begriffen, der alle vier oben genannten Bildtypen betreffen kann. Was hebe nun aber das digitale Bild vom analogen (Film-)Bild als Bild der neuen Medien ab? Wiesing konstatiert hier mit Rückgriff auf Flussers Konzept der Einbildungskraft neue Denkstrukturen, die das digitale Bild befördere: vor dem Hintergrund der Verschiebung vom linearen Denken ins Nulldimensionale (vgl. Flusser) entstehe nun ein neuer Denkmodus und somit ein je spezifischer Zugriff auf das digitale Bild, den dieses selbst mit befördert. Oder mit Wiesing gesprochen: es gehe nun weniger um die Angleichung des Bildes an die Wahrnehmung, sondern um die Angleichung von Bild und Imagination (vgl. Wiesing 2018: 139). Der mit dem Computer ins Sichtbare übersetzte Imaginationsprozess erlaube Überraschungen, denn dabei werden animierte und simulierte Bilder noch einmal eine Abgrenzung voneinander erfahren (vgl. Wiesing 2018: 148). Neu am computierten bzw. computierbaren Bild(-modus) ist die Veränderbarkeit des Bildes qua Zugriff auf dasselbe.
Das Ergebnis ist nun eine gänzlich neuartige Bewegungsmöglichkeit von Bildobjekten im Bild: nämlich die willentlich steuerbare Bewegung. [...] Eine Animation liegt genau dann vor, wenn das Gezeigte als Gezeigtes frei veränderbar ist, und das heißt: wenn sich die Bildobjekte in ihrer Art, wie sie sich verändern lassen, der Art angleichen, wie sich Phantasieinhalte verändern lassen. Das imaginäre, im Bild sichtbare Objekt, ist durch die neuen Medien dem imaginären, aber unsichtbaren Objekt der Phantasie in seiner Beweglichkeit strukturell angeglichen worden. (vgl. Wiesing 2018: 146)
Die Immersion respektive immersive Ästhetik ist also eine Eigenschaft oder je spezifische Wahrnehmungsqualität, die losgelöst von Medienformen zu denken ist. Und der Unterschied des analogen zum digitalen Bild lässt sich weniger in einer ästhetischen Ausformung fassen, sondern als Zugriffsmodi oder sogar Handlungsräume mit dem Bild selbst, die sich hier nach Wiesing eben als manipulative und/oder interaktive Möglichkeiten auftun.
Das digitale Bewegtbild agiert als Interface und Modus einer komplexen Verschachtelung analoger und digitaler Raumebenen, die sich natürlich auch in musealen Zusammenhängen auftun. Dabei stellen Virtual-Reality-Umgebungen einen Sonderfall dar, da diese – sofern der virtuelle Raum ‚betreten‘ worden ist – einen hermetisch geschlossenen Wahrnehmungsmodus hervorbringen. Vor allem in der Nachbildung historischer Orte finden VR-Anwendungen verstärkten Einsatz. Ein Beispiel dafür ist das Forschungs-Projekt Virtual History.
Virtual History wird noch bis 2021 am Archäologischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin laufen und setzt die virtuelle Nachbildung des Forum Romanum um: In Kooperation mit der Filmuniversität Babelsberg wird das Modell um einen virtuellen Klangraum erweitert. Forschungen und Rekonstruktionen des Winckelmann-Instituts (Klassische Archäologie) bilden den Ausgangspunkt für das 3D-Modell digitales Forum Romanum.2 Neben dem Winckelmann-Institut ist ebenso das Teilprojekt Auralisierung archäologischer Räume des Exzellenzclusters Bild – Wissen – Gestaltung an der Umsetzung des Prototyps beteiligt. Die interdisziplinäre Ausrichtung zur Umsetzung dieser virtuellen Ausstellung ist bezeichnend: Filmemacher*innen, Archäolog*innen, Historiker*innen, Gamedesigner*innen, Programmierer*innen und Medienwissenschaftler*innen sind daran beteiligt. Diese Aufzählung ist symptomatisch und richtungsweisend für die Arbeitsfelder, die die Umstrukturierung zeitgenössischer musealer Dispositive verlangt. Neben der immersiven Rekonstruktion des Forum Romanum verfolgt das Projekt jedenfalls auch eine erweiterte Anwendung von Virtual-Reality- und Augmented-Reality-Technologien in Lehre und Forschung.
Aber auch auf Produktionsebene bieten mittlerweile Unternehmen wie luxoom3 Virtual-Reality-Ausstellungsdesign an: dabei können Kurator*innen und Künstler*innen qua virtueller Prä-Visualisierung von Ausstellungsdesign ‚tatsächliche‘ maßstabsgetreue Begehungen durch die Ausstellung erfahren und so gegebenenfalls neu skalieren, bevor die physische Umsetzung der Objekte ihren Verlauf genommen hat.
Dieser Art gerichtete Virtual-Reality-Anwendungen im Ausstellungskontext schotten den physischen Raum zunächst vollkommen von dem virtuellen Raum ab. Der Immersionsgrad in die virtuelle Welt, oder anders, diese Distanzlosigkeit affiziert unsere Sinne, unser Raumerleben unmittelbar. Und dennoch: es benötigt (noch) ein immenses Aufgebot an Gerätschaften und Vorrichtungen, um diese in sich verschlossene ,exklusiven‘ Welten erfahrbar zu machen.
Schon 1991 hat der Informatiker Mark Weiser – damals für XEROX Parc forschend – in seinem Aufsatz The Computer for the 21st Century den Begriff des ‚ubiquitous computing‘ geprägt: Damit setzt sich Weiser bewusst vom reinen Virtual-Reality-Environment als zukunftsweisende künstliche Umgebung ab und verwendet in Abgrenzung und als Gegenkonzept den Begriff der ‚embodied virtuality‘, die dann eintritt, wenn virtuelle Welten oder besser virtuelle Erweiterungen sich in unser Alltagsleben so einbetten, dass sie kaum mehr als solche wahrnehmbar sind und verschwinden. Der bekannte Auftakt zu seinem Text lautet: „The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it.“ (Weiser 1991: 1) und weiter „virtual reality is only a map, not a territory. It excludes desks, offices, other people, not wearing goggles and body suits, weather, grass, trees, walks, chance encounters and in general an infinite richness of the universe. Virtual Reality focuses an enormous apparatus on simulating the world rather than on invisibly enhancing the world that already exists.“ (ebd.: 3). Natürlich ist das keine Absage an Virtual-Reality-Umgebungen im Allgemeinen: vor allem in Bezug auf das Virtual-History-Projekt sind die Implikationen und nachhaltigen Erkenntnisse in Bezug auf Wissensvermittlung von ungeheurem Interesse. Verschließen sich aber Virtual-Reality-Umgebungen letztlich einer nahtlosen („seamlessly“) Einbettung virtueller Erweiterung unserer Alltagsräume und bleibt Virtual Reality ein Erfahrungsraum des Sonderfalls, der immer nach bestimmten Vorrichtungen verlangen wird, um daran teilhaben zu können? Der Eintritt in Virtual-Reality-Welten muss dann unabdingbar immer an ein bewusstes Moment gekoppelt sein: man begeht Virtual-Reality-Umgebungen immer gewahr, was diese letztlich paradoxerweise einer unmittelbaren Erfahrung im Sinne von Selbstvergessenheit erst recht zu entziehen vermag. Natürlich ist es leicht vorstellbar, dass dieser letzte Gedanke vor dem Hintergrund rasanter Entwicklungen bald obsolet werden wird.
Im Folgenden beziehe ich mich nun auf geschichtspolitische Orte, die um virtuelle Räume erweitert werden und begebe mich somit auf die Spuren von Extended-Reality-(XR)-Umgebungen an Gedenkorten.
2019 wird das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls gefeiert: seit diesem Jahr ist die Berliner Mauer respektive deren Verlauf mittels der von betaroom entwickelten MauAR-App4 als Augmented Reality (AR) virtuell abrufbar: entweder vor Ort – also sich physisch vor Teilen der Berliner Mauer befindend – oder als RAS (Remote-Access-Service). Via Mobile Device oder Endgerät (Smartphone, Tablet etc.) werden verschiedene Bauphasen der Mauer einsehbar und der ehemalige Todesstreifen kann virtuell überquert werden. Zudem gibt es visuelle Hinweise bei Annäherung der Mauer und es ist möglich, dass Anwender*innen die virtuelle 3D-Version der Mauer mit der Hand verschieben und als Augmented-Reality-Version damit einen anderen Ort zu überlagern.
Weiters wurden zahlreiche Film- und Originalaufnahmen in das Online-Portal eingespeist und können passend zu den geografischen Koordinaten abgerufen werden. Historisches zur Mauer wird uns hierbei durch zwei Avatare vermittelt, welche die Geschichte einmal aus der Perspektive der ehemaligen Ost-Berliner*innen und einmal der aus Perspektive der Westlichen Bevölkerung erzählen. Der fiktive Charakter Andreas, geboren 1951 nimmt sich als Avatar der Geschichte des Ostens an, Johanna erzählt stellvertretend die Geschichte West-Berlins. Kollektiv-Geschichte wird zur ‚personifizierten‘ Fallgeschichte: der chronologische Verlauf ist via App frei wählbar. Diese interaktiven Möglichkeiten innerhalb Mixed-Reality-(MR)-Umgebungen, die sich in diesem Fall über den Berliner Stadtraum erstrecken, generieren neue narrative Modi. Lineare Erzählstrukturen werden – zumindest teilweise – aufgebrochen: die Geschichte wird je nach Interessenslage partiell abrufbar. Was als Aspekt in Adventure Games schon jeher Praxis ist, nämlich den Handlungsbogen durch aktives Navigieren eines Avatars durch den virtuellen Raum zu spannen, hält als Vermittlungspraxis in museale Dispositive und Gedenkorte Einzug.
Und in dem Moment, in dem Bewegtbilder auf mobilen Screens – in diesem Fall vorrangig auf Smartphones – Einzug in Kunstkontexte, Stadt- und museale Räume halten, stellt sich die Frage nach Verschiebungen und Neustrukturierungen von ästhetischen Ordnungen von und durch digitale/n Bildwelten. Mit dieser gleichsamen Mobilisierung filmischer Formate ist die Frage nach dem Je-Spezifischen des digitalen Filmbilds dringlich. Diese Unterscheidung zwischen digitalem und analogem Filmbild spielt für die Rezipient*innen innerhalb des klassischen Kinodispositivs eine geringere Rolle. Geschulte Augen mögen analoge Körnungen erkennen und eine je spezifische Materialität des analogen Filmbildes ausmachen. Mehrheitlich spielt es aber nur bedingt eine Rolle, ob wir die digitalisierte Fassung sehen oder die restaurierte analoge Version, denn der Modus der Rezeption ändert sich hierbei nicht. Das kalkulierbare, digitale Bild hebt sich vom Bild auf fotochemischer Basis innerhalb des klassischen Kinodispositivs demnach nur marginal ab: Aber genau diese Möglichkeit des Kalkulierens und Manipulierens digitaler Bilder erlaubt es, dieses klassische Bewegtbild-Dispositiv aufzubrechen. Es ist also die technische Verfasstheit des digitalen Bildes selbst, die neuartige Handlungsräume mit demselben eröffnet.
Um diesen Aspekt genauer auszuführen, möchte ich mich des Begriffes der Navigation bedienen, den die Medienwissenschaftlerin Anna Verhoeff im Gaming-Kontext eingeführt hat: Sie weist Navigation als zentralen Modus neuartiger Narrationsformen aus, die mit zu der Konfiguration neuer Mediendispositive wie dem von ihr vorgeschlagenen Konzept des „Screenspace“ hervorgeht.
In light of the centrality I am claiming for navigation in the construction of screenspace, it is possible to argue here that, more than just having a sense of narrativity about it, navigation is the heart of narrative. [..] This is why it is necessary to come to an understanding of narrative that is different from the traditional sense in which it is opposed to spectacle. The visual regime of navigation bridges the gap. The nature of the tour, ride or navigation involves events in some kind of coherent sequence, and this is narration, even if it also functions on the basis of attraction. [...] This conclusion changes the traditional conception of narrative and undermines its bias to privilege time over space. (Verhoeff 2012: 69)
Navigation als neuartiger und interaktiver Modus von Narration zielt hier einerseits auf den Gebrauch mobiler Screens und anderseits auf die Wahlmöglichkeiten innerhalb simulierter Welten ab. Im Kontext der Open-Air Ausstellung Route der Revolution zum 30-jährigen Mauerfall, in dem die MauAR-App eine zentrale Vermittlungsfunktion eingenommen hat, ist Navigation als körperlich-physisches Navigieren durch den Stadtraum in Verbindung mit dem virtuellen Raum, der sich als Augmented Reality lokal einbettet, gedacht. Je nach Interessenslage, können Besucher*innen via MauAR-App Informationen in Bild und/oder Text zu einer bestimmten Stelle an der Mauer und/oder einem bestimmten Thema selektiv wählen. So begegnen uns vermehrt mobile Screens, die im Zusammenschluss als Informationsdispostive sowohl das klassische Kinodispositiv als auch den Rahmen des klassischen Ausstellungsobjekts aufbrechen, umgestalten und/oder erweitern (z.B. via Augmented Reality). Zum anderen scheinen Mobile Devices wie Smartphones oder Tablets den Besucher*innen verstärkt eine Öffnung zu Formen eines interaktiven Storytellings und somit partizipatorischen Modus zu gewähren. In dieser Form der Mixed-Reality-Umgebungen überlagern virtuelle Räume die physischen und/oder erweitern diese. Eingesetzte Endgeräte werden zum Dreh- und Angelpunkt der Bewegungen durch den Raum:
Screens of navigation show us that in our present visual culture viewing and making collapse. Moreover, the spatial boundaries between screen and physical space become blurred. [...] In screenspace, we are simultaneously narrator, focalizer, spectator, player and, perhaps most fundamentally, navigator. (Verhoeff 2012: 71)
Mit Screenspace wird also auf die Doppelfunktion abgezielt, die den screen sowohl zum Ort (site) als auch zum Resultat (result) in der Anwendung werden lässt. Was dieser interaktive Modus des digitalen Bewegtbildes nun für museale Kontexte bedeutet und wie sich ein erweitertes, re-politisiertes Konzept der Ortsspezifik vor diesem Hintergrund fruchtbar machen lässt, diskutiere ich im Folgenden.
In der Praxis des Ausstellens handelt es sich zunächst immer um Dislokationen; wie die Frage nach der Verortung der auszustellenden Objekte respektive zu vermittelnder Inhalte in Museen mit Konzepten wie dem der Ortsspezifik fruchtbar gemacht werden können, soll im Folgenden erörtert werden. Museale Objekte sind notwendigerweise ihrem Entstehungszusammenhang entrissen: die Dinge sind immer schon in einem de-kontextualisierten Raum-Zeit-Gefüge eingebettet und werden aus diesem heraus qua Erklärungszusammenhänge/Narrativ wieder in ‚ursprüngliche‘ Kontexte rückgeführt. Auf je spezifische Weise findet dieser Bruch oder De-Lokation in Bezug auf die ausgestellten Dinge statt:
Folgt man Valérys Plot von der sozialen Aufgabe des Museums, so fängt es ja gerade jene Objekte auf, die »ihre Mutter die Architektur« (Valéry 1958: 7) verloren haben. Der historische Bruch, der nach Pierre Nora erst den Gedächtnisort ermöglicht, muss also vollzogen sein, bevor sich das Museum für einen Gegenstand zu interessieren beginnt, oder genauer: Die Attribute jener historischen Lebenswelt, aus welcher das Objekt hervorgegangen ist, müssen in ausreichendem Maße aus unserer Erfahrungswirklichkeit verschwunden sein, bevor das Objekt von uns als Verkörperung einer Differenz wahrgenommen werden kann. (Niewerth 2018:154)
Dabei ist, – so Niewerth weiter – sofern die ausgestellten Objekte nicht zeitgenössisch sind, diese „Abduktion der Objekte aus ihrem historischen Ursprungszusammenhang immer auch ein Stück weit Adoption“ (vgl. Niewerth 2018: 154). Ausgestellte Objekte sind nicht zeitgenössisch, sondern ihrem Ursprung zeitlich und örtlich enthoben; und mit dieser Praxis des Ausstellens entstehen durch „Neukonstellationen der Displays sowohl De- als auch Rekontextualisierungen“. (vgl. Busch zit. nach Frohne/Haberer 2019: 28). Museale Objekte sind ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang demnach notwendigerweise enthoben und in einen neuen Bedeutungszusammenhang transferiert: etwas anders verhält es sich mit Gedächtnisorten und Gedenkstätten: Historische Orte, wie die Berliner Mauer oder Mahnmale und Gedenkstätten, werden schon durch die Bezeichnung und Benennung als Denkmale respektive Gedenkstätten semantisch besetzt und als spezifische geschichtspolitische Zeichenträger ausgewiesen. Wobei der physische Gedächtnisort hier ebenso schon den Verweis auf einen anderen geschichtspolitischen Zeit-Raum-Kontext darstellt. Neben der sich neu formierenden Displays und Mixed-Reality-Technologien an den Gedächtnisorten selbst, werden auch davon entkoppelte virtuelle museale Plattformen immer gängiger: diese zielen mehrheitlich nicht auf eine bloße digitale Präsentation des physischen Museums im virtuellen Raum ab. Oftmals haben Institutionen von Ausstellungsräumen unabhängige Online-Präsenzen geschaffen, die zum Beispiel durch digitale Archivsammlungen inklusive Filmmaterial ergänzt werden und ausschließlich via Web zugänglich sind; zu nennen ist hier zum Beispiel das LeMO (Lebendiges Museum Online) das Deutsche Historische Museum.
Die Frage nach dem Ort des Kunstwerkes stellt sich an anderer Stelle der Kunstgeschichte mit dem Konzept der Ortsspezifik und zielt hier auch im weiteren Sinne auf dessen kunst-politische Ver-Ortung ab. Der Begriff der Ortsspezifik, der seinen Ursprung im Kontext der Conceptual Art in den 1960er Jahren nimmt, ist vor dem Hintergrund von virtuellen entgrenzten musealen Räumen in geschichtspolitischen Kontexten umso spannender:
Das Konzept, demzufolge dass das Kunstwerk als – vorerst hauptsächlich im Natur- und Landschaftsraum – in-situ-Werk in Dialog mit der Umgebung tritt, hat selbst zahlreiche Erweiterungen und Repolitisierungen erfahren. Das ortsspezifische Kunstwerk, das anfangs als unbedingte physische Verzahnung von Werk und Ort gedacht wurde, erfuhr vor allem mit dem Aufkommen der Institutionskritik im Kunstkontext in den 1970er Jahren eine Erweiterung: das Ortsspezifische erfährt eine Politisierung als kontext-spezifische Thematisierung kultureller und institutioneller Machtverhältnisse.
Miwon Kwon erarbeitet in One Place after Another einen genealogischen Aufriss des Konzepts der Ortsspezifik (engl. Site-Specifity) und zeichnet genau eben diese verschiedenen Neukonnotierungen dieses Begriffs nach. Ein entscheidender Moment ist in diesem Zusammenhang auch die in den 1990er-Jahren vermehrt an Wichtigkeit gewinnende Dimension der partizipatorischen Kunst: zahlreiche sogenannte community-based-Projekte entstehen und erweitern Kontextkunst nochmals um soziale Räume. Im Kunst- und musealen Kontext macht sich Kwon für einen offenen Interaktionsraum zwischen Kurator*innen, Künstler*innen und Besucher*innen stark, der sowohl Konzepte wie Raum und Ort, Modi des Virtuellen wie auch Analogen miteinander ins Sprechen bringen kann und sich vor dem Hintergrund eines „relational-based-art-context“ (vgl. Kwon 2002: 20ff) entfalten solle.
Which is to say, the site is now structured (inter)textually rather than spatially, and its model is not a map but an itinerary, a fragmentary sequence of events and actions through spaces, that is, a nomadic narrative whose path is articulated by the passage of the artist. Corresponding to the model of movement in electronic spaces of the Internet and cyberspace, which are likewise structured as transitive experiences, one thing after another, and not in synchronic simultaneity, this transformation of the site textualizes spaces and spatializes discourses. (Kwon 2002: 24)
Die Ausrichtung einer zeitgenössischen kritisch-künstlerischen Praxis zielt also auf Handlungsmodi, die sich sowohl im Virtuellen als auch Physischen qua Teilhabe aller Mitwirkender – von Kurator*innen bis hin zu Besucher*innen – als und ins Dispositiv einschreiben.
Das von Wissenschaftler*innen am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut entwickelte Verfahren der 3D-Human- Body-Reconstruction wird im/als Volumetric-Video-Technologie angewendet und siedelt sich technologisch innerhalb der Felder der Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) an. Dieses noch äußerst kostspielige Aufnahmesystem wird von Volucap – einem in Babelsberg ansässigem Aufnahmestudio – eingesetzt. Die dabei angewendete Technologie ist darauf spezialisiert, Personen via 3D-HBR-Technologie (16 Stereokameras, Rundumbeleuchtung) in Bewegung aufzunehmen und als 3D-Filmmodelle in verschiedene, virtuelle oder reale (augmentierte) Umgebungen zu transferieren.
Der Einsatz solcher (re-)animierten virtuellen Figuren wird im Rahmen von Digitalisierungsstrategien erstmals von Museen, Erinnerungsorten und Gedenkstätten im deutschsprachigen Raum erprobt; bis dato werden Endgeräte wie Virtual-Reality-Brillen benötigt, um mit den digital eingespeisten Modellen zu interagieren. Im Unterschied zu klassischen Animationen, die als Computer Generated Images (CGI) in Erscheinung treten und wobei visuelles Material und die Bewegungen getrennt voneinander erzeugt werden, wird beim volumetrischen Verfahren das 3D-Filmbild (Bewegung und Bild) zeitgleich aufgenommen. So entstand im Sommer 2019 in dem im Technologiepark Babelsberg angesiedelten VOLUCAP-Studio bereits der Kurzfilm ERNST GRUBE – DAS VERMÄCHTNIS (D 2019): Mit der Technologie des volumetrischen Videos wurden Interviews mit dem Shoa-Überlebenden Ernst Grube aufgezeichnet. Der jüdische Überlebende berichtet von seinen Erlebnissen während der NS-Zeit und von seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager Theresienstadt. Weitere Aufnahmen mit anderen Überlebenden in Kooperation mit Gedenkstätten und Erinnerungsorten in Berlin-Brandenburg finden statt. Nach einigen Testphasen könnten also Film-Avatare von Shoa-Überlebenden bald Teil der Geschichtsvermittlung im Kontext des Holocaust werden.
Das in Süd-Kalifornien angesiedelte Institute for Creative Technologies hat bereits 2010 in Zusammenarbeit mit der USC Shoa Foundation an der Umsetzung interaktiver 3D-Ausstellungen gearbeitet und die ICT-Light-Stage-Technologie zur Anwendung gebracht. Dieses Verfahren – auch für den Film AVATAR (2009) zum Einsatz gebracht – projiziert das mittels mehrerer Filmkameras aufgezeichnete Footage als 3D-Körper. Dieses wird gekoppelt an ein Sprachprogramm, das mittels Spracherkennung auf verschiedenste Keywords reagiert und somit dialogähnliche Situationen mit Besucher*innen simuliert.
Vor dem Hintergrund des baldigen Ablebens der meisten Überlebenden tut sich an dieser Stelle eine unschließbare Lücke auf. Die möglichen ethischen und geschichtspolitischen Implikationen, die in dieser Art des Reenactements entstehen mögen, bedürfen einer gesonderten Auseinandersetzung. Es wäre aber sicherlich zu voreilig, diese Vermittlungssituation als ethisch bedenkliches Spektakel abzutun.
Die Beschreibung des Konzepts der Ortsspezifik hin zu einem „Relation-Based Context“ scheint hilfreich dafür zu sein, um über die manipulativen oder interaktiven Möglichkeiten und Modi im Zugriff auf Mixed-Reality-Umgebungen und -Plattformen nachzudenken: aus dieser Perspektive verschiebt sich dann auch die (passive) ästhetische Wahrnehmung hin zu einem (aktiven) synästhetischen Erfahrungsraum, wenn wir mit unseren Smartphones durch Mixed-Reality-Gelände navigieren, um historisch-topografischen Spuren zu folgen oder Avatare basierend auf unserer Interessenlage und Wissenstand in Kontakt treten.
The interactive possibilities of digital media are crucial for the narrative potential of mediated spaces. A player’s navigation of digital games, for example, enables not just an active reading of space, but rather – and more fundamentally – an active construction of place into space. Janet Murray (2001) therefore considers digital navigation as a form of agency – interactivity in which actions are autonomous, are selected from choices, and determine the course of the game. In line with this somewhat optimistic view we can state that navigation is an active and narrative practice, even if this type of narrativity is different from the classical model of characters or actors that experience events while the spectator (‘passively’) witnesses these. (Verhoeff 2012: 68)
Bewegt-Bilder sind demnach erstens wörtlich zu verstehen, als Bilder, die sich in und mit Bewegung generieren. Zweitens sind digitale Filmbilder zwar ent-ortet zu denken: Im Sinne von ‚ubiquitous computing‘ als Mixed-Reality-Raumgeflechte eingebettet gedacht oder mit Geo-daten vernetzt in die MauAR-App eingespeist, aktualisieren sich diese Bilder potentiell umso orts- und kontextspezifischer. Natürlich entstehen neuen Ordnungen von Raumästhetiken, die beim Gang durch den physischen Museumsraum ausgemacht werden können: Der eigentliche Umbruch liegt aber wohl in einem noch nicht vollends ausgeloteten Modus, also weniger dem Wo als dem Wie, wenn es die Frage nach einer neuen Ästhetik digitaler Bewegt-Bilder als und in virtuellen Erweiterungen anstößt. Mobile Devices funktionieren hier als ‚gate screens‘, die im Gebrauch selbst zwischen Modi der virtuellen Raumgenese und der Funktion als analogem Steuerungstool (vgl. Verhoeff) oszillieren. Wenn wir wählen, wann und ob wir Filmbeiträge der MauAR-App auswählen oder welche Infopoints wir im Forum Romanum ansteuern und damit auch die Wahloption im je spezifischen Programm verändern, bewegen wir uns gleichsam in und mit den virtuellen Bildern und gestalten diese in Rückkoppelung an unsere virtuelle und analoge Umgebung entscheidend und auf eine neuartige Weise mit. Den virtuell-analogen Dispositiven, die so auf je spezifische Weise hervorgebracht werden, wohnt dabei eine rudimentär-ephemere Qualität inne, die nicht mehr unabhängig von den Rezipient*innen denkbar ist.
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