Die diesjährige 70. Berlinale lieferte reichlich Stoff für die Auseinandersetzung mit der Ästhetik und Theorie des digitalen Films. Digitale Filme waren hierbei in vielfältigen Formen präsent: SAUDI RUNAWAY (CH 2020) und ALWAYS AMBER (S 2020) wurden mit Smartphones gedreht und zeigen die Flucht einer jungen Frau aus Saudi-Arabien respektive Formen von Freundschaft und Liebe im Leben non-binärer Teenager. In FREM (CS/SLO 2019) erkundet wiederum eine nicht-menschliche Entität mit Drohnen-Aufnahmen die Antarktis, während die Hauptfigur in THE TROUBLE WITH BEING BORN (A/D 2020) Android ist und der Film WELCOME TO CHECHNYA (USA 2020) digitale Masken zum Schutz der Identitäten von in Russland verfolgten, queeren Menschen verwendet. Bereits diese kleine Auswahl zeigt filmische Umsetzungen der politischen Kraft dieser gar nicht mehr so neuen Medien. Als eines der größten europäischen Filmfestivals steht die Berlinale mit ihrer langen Tradition und dem Anspruch stets am Puls der Zeit zu sein zudem in einem Spannungsfeld, das auch Ausgangspunkt für diese Ausgabe war: den digitalen Film im Verhältnis von technisch-ästhetischen Neuerungen und Fortführungen von filmischen Traditionen auszuloten.
Die in dieser Ausgabe versammelten Texte greifen Verhandlungen des digitalen Films auf und nehmen Bezug auf vermeintlich definitorische Kategorien wie die Triaden Kanon/Index/Dispositiv oder Produktion/Distribution/Rezeption. Sie untersuchen, wie diese und weitere Zuschreibungen erweitert, erneuert oder überwunden werden und wo sie noch immer Bestand haben oder sogar gestärkt werden. Die Ausgabe spiegelt zudem die Vielfalt dessen, was digitaler Film sein kann: Diskutiert werden computergenerierte Bilder von den Anfängen digitaler Visual Effects in Hollywood-Produktionen bis hin zu einer CGI-lastigen Nische des digitalen Films mit geringem Budget und entsprechend ‚schlechter‘ Qualität. Sogar für einen analogen Film wie DUNKIRK lassen sich digitale Spuren finden. Zugänge zu einer postkinematografischen Ästhetik finden sich im interaktiven Film, im Verzicht auf Montage in Form von filmlangen One Takes oder auch im inzwischen historisch gewordenen Bildformt GIF. Darüber hinaus bietet auch die Preisvergabe der Berlinale – allerdings von 2002 – Anlass zum Nachdenken über Zuschreibungen des digitalen Films. Wenn der Film im Zuge seiner ‚Relokation‘ (Casetti 2014) das Kino verlässt, taucht er in andere Medien ein und findet auf anderen Wegen ein Publikum. Das Smartphone als Produktions- und Rezeptionsmedium, Plattformen wie Instagram, YouTube oder Netflix sowie Extended- oder Mixed-Reality-Umgebungen werden in dieser Ausgabe im Hinblick auf Theorie und Ästhetik des digitalen Films befragt.
Während der Vorbereitungen zu dieser Ausgabe erreichte uns die traurige Nachricht vom Tod Thomas Elsaessers. Wenige Zeit zuvor hatte er uns einen Auszug aus seinem geplanten Buch zu Mind-Game-Filmen für die deutsche Übersetzung überlassen, der nun den Auftakt der No 18 bildet. Bereits 2009 leistete er mit einem Aufsatz zum Thema einen viel rezipierten Beitrag zur Diskussion dieser Filme, die in den letzten etwa 20 Jahren verstärkt auftreten. In diesem posthum veröffentlichten Text aktualisiert er seine Bestandaufnahme noch einmal und diskutiert Mind-Game-Filme als Symptom des Films im digitalen Zeitalter.
Der erste Teil der folgenden Beiträge versammelt Verhandlungen von filmischem Realismus und digitalem bzw. computeranimiertem audiovisuellem Bild. Valerie Dirk untersucht Filmfestivals unter den Bedingungen des Post-Cinema und fragt nach der Ästhetik digitaler Filme mit Blick auf filmischen Realismus. Mit digitalem Realismus befasst sich auch Michael Fleig, der auffällig ‚schlechte‘ Visual Effects des sogenannten Paracinema in den Blick nimmt und die Ausprägungen von Realismus-Erwartungen in computeranimierten Digitalbildern untersucht. Linda Waack wendet sich am Beispiel des Films FREE WILLY ebenfalls dem Einsatz von CGI, neben einem Modell und einem echten Tier, zu. Sie hinterfragt den Umbruch vom analogen zum digitalen Film und die vermeintliche Erschütterung des Vertrauens in Digitalbilder. Einem scheinbar gänzlich analogen Film widmen sich Felix Hasebrink und Elisa Linseisen, die DUNKIRK im postkinematografischen Kontext untersuchen. Ihre These lautet, dass sich das Digitale über Umwege wiederum in den Film einschreibt, was sie anhand der Produktion des Films und im Rückgriff auf verschiedene Formen des Making-ofs darlegen.
Der zweite Teil der Beiträge behandelt Fragen nach Format und postkinematografischer bzw. digitaler Ästhetik. So nimmt sich Olga Moskatova des GIF-Formats an, das sie im Hinblick auf Strategien der Cinematizität untersucht, wobei sie zugleich die Ortsspezifik der Distribution auf digitalen Plattformen berücksichtigt. Eine Bestandaufnahme des One-Take-Films als spezifische Ausprägung digitaler Ästhetik unternimmt Thomas Morsch. Im Montageverzicht sieht er eine Abweichung von der gängigen Filmsprache, die er im Diskurs des Post-Cinema bzw. der Postcontinuity verortet. Martin Hennig ordnet wiederum den Netflix-Film BLACK MIRROR: BANDERSNATCH medienhistorisch, ästhetisch sowie diskursiv ein und analysiert das interaktive Format im Hinblick auf Darstellungs- und Erzählstrategien zwischen Film und Interaktion. Jasmin Böschen befasst sich mit der Instagram-Serie EVA.STORIES, die der Frage „What if a Girl in the Holocaust had Instagram?“ nachgeht. Dabei untersucht die Autorin die Ästhetik im Zusammenspiel von Smartphone-Film und Instagram-Praktiken und diskutiert den medial-historiografischen Vermittlungsansatz. Und schließlich unternimmt Regina Wuzella den Schritt in digitalisierte museale Räume und untersucht die digitalfilmische, virtuelle Erweiterung von öffentlichen, historisch-politischen Erinnerungsorten. Dabei bezieht sie sich auf das Konzept der Ortsspezifik und fragt nach Partizipationsmöglichkeiten von Rezipient*innen.
Zu guter Letzt möchte ich allen an dieser Ausgabe Beteiligten danken, vor allem den Autor*innen für ihre inspirierenden Beiträge, den Gutachter*innen, die zum Gelingen beigetragen haben, sowie Winfried Pauleit, Rasmus Greiner, Jessica Franz (Lektorat) und Julian Elbers (Webseite) für ihre Unterstützung.
Angela Rabing
ALWAYS AMBER, R: Lia Hietala/Hannah Reinikainen, S 2020
FREM, R: Viera Čákanyová, CS/SLO 2019
SAUDI RUNAWAY, R: Susanne Regina Meures, CH 2020
TROUBLE WITH BEING BORN, THE, R: Sandra Wollner, A/D 2020
WELCOME TO CHECHNYA, R: David France, USA 2020