Sacha Guitry, Jean-Luc Godard, Agnès Varda
Geschriebene Besetzungslisten bezeichnen eine Gruppe von Akteur*innen. Sie verbürgen Autor*innenschaft und stehen in einer Reihenfolge, die Hinweise auf die Bedeutung der jeweiligen Beteiligung am Filmschaffen geben kann. Sie bilden eine Vertragsgemeinschaft, die die einzelnen als Teil der Gesamtleistung am filmischen Werk verzeichnet und verbindet. Diese Besetzungslisten sind Teil des Filmvorspanns (oder auch des Abspanns) und fungieren als Paratexte des Films. Darüber hinaus können sie – insbesondere bei älteren Werken – auch wie Gedenktafeln gelesen werden, die an verstorbene Akteur*innen des Films erinnern. Von diesen schriftlichen Besetzungslisten lassen sich gesprochene und lebende Besetzungslisten unterscheiden: Eine gesprochene Besetzungsliste zeichnet sich dadurch aus, dass sie von einer auktorialen Stimme – oftmals von der Autor*in des Films selbst – eingesprochen wird. Diese ruft die Namen der Personen auf, und auch so entsteht eine Liste, die als akustische Spur in den Film eingetragen ist, aber gleichzeitig als performativer Sprechakt einer einzelnen Akteur*in erhalten bleibt, der gleichwohl von unterschiedlichen Intonationen der sprechenden Stimme gekennzeichnet ist.
Im Vergleich dazu treten in lebenden Besetzungslisten die Akteur*innen selbst in einem performativen Akt auf. Seit dem frühen Kino erscheinen Darsteller*innen (und Autor*innen) auch in diesem Sinne in Filmvorspännen als bewegte Porträts. Ein Merkmal dieser Porträts ist, dass sich in ihnen eine Differenz auftun kann zwischen der verkörperten Rolle im spezifischen Film und einem Star-Imago, welches Film-Akteur*innen in der Öffentlichkeit verkörpern. In der Regel werden diese Porträts von textuellen Einschreibungen begleitet, die neben den Namen der Akteur*innen auch die Rollennamen bzw. ihre spezifischen Funktionen im jeweiligen Film verzeichnen. Lebende Besetzungslisten verkörpern Arbeitsgemeinschaften, denn durch das performative Spiel der Akteur*innen legen diese scheinbar selbst Zeugnis ab von einer gemeinschaftlichen Beteiligung am Film.
Werden lebende Besetzungslisten mit gesprochenen verbunden, so entstehen besondere Effekte. Dann können die Mitwirkenden direkt angerufen werden (als Adressierung eines kreativen Gegenübers). Die namentlich Angerufenen scheinen dann auf den Anruf zu reagieren und mit der sie adressierenden Stimme oder mit der Kamera tatsächlich zu interagieren. So wird der Schaffensprozess des Films nicht nur als Liste verzeichnet, sondern auch als ein eigenes Spiel inszeniert, welches z.B. das Verhältnis von Regie und weiteren Mitwirkenden als Gemeinschaft von Filmschaffenden erfahrbar macht. Das Hören der aufgerufenen Namen als Adressierung, wie auch das „Miterleben“ dieser Interaktionen erzeugen zudem Präsenz-Effekte auf Seiten der Zuschauer*innen. Gleichzeitig werden die performativen Akte (des Spiels und des Sprechens) als Paratexte des Films erkennbar und darin als Spur im Sinne einer materiellen Hinterlassenschaft (künstlerischer) Arbeit entzifferbar. Die Verbindung von lebenden und gesprochenen Besetzungslisten – so die Hypothese dieses Textes – erzeugt ein komplexes Gefüge aus Präsenzeffekten und Spuren, das die Orte der Produktion mit den Orten der Rezeption auf besondere Weise verbindet. Wie dabei Textualität und Materialität von spezifischen Produktions-Zusammenhängen in Erscheinung treten bzw. ablesbar werden, wird im Folgenden exemplarisch skizziert an Sacha Guitrys LE ROMAN D’UN TRICHEUR (F 1936), Jean-Luc Godards LE MÉPRIS (F/I 1963) und Agnès Vardas LES PLAGES D’AGNÈS (F 2008).
Die Vorspänne von Sacha Guitry gelten als legendär, aufgrund ihrer Extravaganzen und vielfältigen Spielarten. Sie verbinden nicht nur lebende und gesprochene Besetzungslisten, sondern weisen auch vielfältige Signaturen von Autorschaft auf und lassen auch einander widersprechende Konzeptionen von Autorschaft erkennen.1 Guitrys eigene Regietätigkeit für den Film beginnt Mitte der 1930er Jahre. Sie steht für einen singulären Produktionskontext, in dem Guitry in der Regel auch jeweils als Hauptdarsteller agiert und für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Die Cinéas-Film (in Kooperation mit TOBIS-Tonfilm) produziert unter Serge Sandberg in diesen Jahren exklusiv alle Filme von und mit Sacha Guitry. LE ROMAN D’UN TRICHEUR stellt insofern eine Besonderheit dar, als es sich um eine autofiktionale Form handelt, die von Guitry selbst verfilmt wird. Das Buch von Guitry (Mémoires d’un tricheur) erschien 1935 bei Gallimard. Siegfried Kracauer stellt den Film in einer zeitgenössischen Kritik als gelungenes Formexperiment heraus, welches die Erzählerfigur ins Zentrum der Handlung stellt, um auf diese Weise eine geschlossene Filmhandlung aufzubrechen und durch eine freie Organisation der Erzählung zu ersetzen, die das Zeug hat (so Kracauer), eine neue Filmgattung zu begründen. Kracauer erwähnt explizit das Sich-Einschalten des Erzählers in die Filmhandlung als ein spezifisch innovatives Verfahren (2004: 192f.). Gerade diese Innovation wird von Guitry mithilfe des Vorspanns als wirksames Gestaltungsprinzip des Films einleitend durch die lebenden und gesprochenen Besetzungslisten etabliert.
Der Film eröffnet zunächst klassisch mit statischen Schrifttiteln. Klassisch bedeutet, dass die Produktionsfirmen an erster Stelle stehen und dann die Hauptdarsteller folgen. Als Produktionsgesellschaften werden zuerst genannt: „La Société Films Sonores TOBIS“, und: „CINÉAS“; auf der dritten Tafel erscheint dann der Name „Sacha Guitry“ mit dem Zusatz „dans“.2 Danach folgt die erste Unterbrechung dieser Anordnung, denn der Titel des Films wird nicht als Schrifttafel gesetzt, sondern in einem performativen Akt enthüllt: Darin werden die Rückseiten von vier mal acht Spielkarten von einer Hand zunächst verdeckt ausgelegt und in einem zweiten Schritt wird von dieser Hand ein Teil der Vorderseiten aufgedeckt, auf denen dann der Titel des Films als Buchstabenfolge LE ROMAN D‘UN TRICHEUR zum Vorschein kommt. Während dieser Enthüllung setzt Orchestermusik ein, und danach kehrt der Film noch einmal zur klassischen Anordnung der Schrifttitel zurück, um die musikalische Orchesterbegleitung des Films durch das Pasdeloup Orchester kenntlich zu machen.3
Zu den letzten Takten der Musik beginnt Guitrys eigentliche Inszenierung eines lebenden und gesprochenen Vorspanns. Dabei tritt zunächst eine Figur in Rückenansicht auf und setzt den Schriftzug einer Signatur auf eine weiße Tafel und gibt sich damit als Sacha Guitry zu erkennen. Zeitgleich formuliert die Stimme Guitrys: „Ce film, je le conçu et je le réalisé moi-même“4 – um sodann per Tricktechnik und rückwärts laufendem Film, die Signatur wieder verschwinden zu lassen. Danach stellt Guitry im auktorialen Voice-Over die Mitwirkenden des Films vor: eine narrativ ausgestaltete lebende und gesprochene Besetzungsliste, die neben den Schauspieler*innen auch viele andere Mitarbeiter*innen des Studios aufruft und performativ ins Bild setzt. Den Abschluss bildet dann wieder der Autor Guitry, zunächst als bewegter Schattenriss, als trinkender und später schreibender Autor vor einem Wirtshaus, der sich vom Kellner Tintenfass und Feder servieren lässt, und dazu ein mitgebrachtes Heft aufschlägt, in dem bereits die Buchstabenfolge LE ROMAN D‘UN TRICHEUR verzeichnet ist. Der nun einsetzende Schreibakt beginnt mit den Worten „je suis né …“ und markiert den Übergang zum Film in jenem Moment, in dem die geschriebenen Worte in die Erzählstimme übergehen.
Diese komplexe Inszenierung des Autors beginnt also zunächst als tätige Hand, die mithilfe von Spielkarten den Titel des Films auslegt und mit diesem performativen Akt die von der Produktion gesetzte Ordnung der Schrifttitel unterbricht.5 Die Inszenierung von Autorschaft wird fortgesetzt als Auftritt eines männlich gelesenen Anzug-Rückens, der eine Signatur des Autors im Entstehen auf hellem Grund zu sehen gibt, um sie (wie ein Magier) sogleich wieder verschwinden zu lassen. Weiter wird nun die markige Stimme eines Sprechaktes vernehmbar, die damit nicht nur nachdrücklich die Existenz eines sich selbst bewussten Autor-Akteurs behauptet (getragen insbesondere durch die Intonation und die klangliche Intensität der Körnung der Stimme), sondern auch eben jene Figur, die die Autorschaft des Films für sich reklamiert – und in der Folge den umfangreichen Stab der Mitarbeiter*innen vorstellt, der unter der Regie dieses Autors tätig ist, um schließlich am Ende dieses Vorspanns noch einmal als Teil einer lebenden Besetzungsliste selbst in Erscheinung zu treten – vor dem Schreibheft – um eine autofiktionale Filmhandlung (jenen ROMAN D‘UN TRICHEUR) in Gang zu setzen.
Diese Anhäufung von Gesten der Autorschaft, die jeweils ironisch gebrochen wird, zeugen nicht nur von einem Formexperiment und einer spezifischen Filmgattung, die das Erzählen durch und um die Autorenfigur in der ersten Person Singular strukturiert, sondern sie kennzeichnet Guitry als einen Vorläufer jener „Politique des auteurs“, die als Modell eines anderen Filmschaffens von den Filmkritikern der Cahiers du cinéma in den 1950er Jahren imaginiert, proklamiert und schließlich durch die Akteur*innen der Nouvelle Vague erprobt wurde. Claude de Givray, Co-Autor bei mehreren Filmen von François Truffaut in den 1960er Jahren, hatte bereits 1965 in seiner Fernsehdokumentation „Sacha Guitry“ diesen Zusammenhang aufgedeckt: „On pourrait assimiler Sacha Guitry à la Nouvelle Vague puisqu’il fut un des premiers à pratiquer la politique des auteurs“.6 Bemerkenswert erscheint auch, dass Guitry diese Autorenpolitik nicht nur an den klassischen Gesten der Autorschaft (tätige Hand, schreibende Hand, Signatur, Stimme, Autorenporträt) herausarbeitet, sondern insbesondere auch mit tricktechnisch-filmischen Verfahren ironisch bricht, wie z.B. durch das Vor- und Zurücklaufenlassen des Films, welches die Signatur des Autors zur Erscheinung und danach wieder zum Verschwinden bringt – nur um sich durch diese Magie als Filmautor ebenso hervorzutun.
Im Laufe der Präsentation seiner lebenden Besetzungsliste, stellt Guitry die Namen der Mitwirkenden, ihre Gesichter und Tätigkeiten vor. Er präsentiert in diesem Kontext das Film-Studio mit der damals führenden Tobis-Tonfilm-Technik. Gezeigt wird ein Studio-Innenraum, in dem die unterschiedlichen Funktionen und Gewerke versammelt sind und im Vollzug ihrer Tätigkeiten ineinandergreifen, als arbeitsteilige Manufaktur, wobei die Meisterschaft handwerklicher Leistungen herausgestellt und kommentiert wird. Dabei ist die Reihenfolge der Namensliste durchaus bemerkenswert: Nachdem Guitry sich als Autor selbst an den Anfang der Liste gesetzt hat, folgt auf Platz zwei der Komponist Adolphe Borchard, den Guitry mit den Worten „mon ami“ vorstellt, in Szene gesetzt während eines Solos am Klavier. Eine Männerfreundschaft steht also am Anfang dieser Besetzungsliste, die visuell arrangiert ist als Überblendung zweier lebender Männerkörper.
Diese Überblendung der Körper wird getragen vom Klang der Stimme des Autors und vom Klang der Musik, die wiederum jeweils markiert wird von den tätigen Händen des Autors und des Musikers; eine Inszenierung, die an ein ganzheitliches Prinzip des Schaffensaktes als Zusammenwirken von Kopf, Herz und Hand erinnert, welches wiederum durch den Einsatz der filmischen Mittel (Überblendung, Schnitt) ironisch gebrochen wird. Erst dann folgen auf Platz drei bis fünf die für die Filmproduktion zentralen Elemente der Bild- und Tonaufnahme, Kameramann und Kameraassistent beim Dreh mit der Studiokamera, und in einer weiteren Einstellung der Tonmeister, den Guitry in seiner isolierten Box mit Sichtfenster als Mann in einer Taucherglocke unter Wasser herausstellt. Auf Platz sechs, sieben und acht werden die Verantwortlichen für Set-Design und Dekor genannt. Erst danach, auf den Plätzen neun bis 22, folgen die Schauspieler*innen, unter ihnen Jacqueline Delubac auf Platz zehn, eine der Hauptdarstellerinnen und gleichzeitig die Ehefrau Guitrys, die auch im Film die Ehefrau der Hauptfigur spielt. Delubac gilt seit den 1930er Jahren als Inbegriff der modebewussten Pariserin, ihre erfolgreiche Tätigkeit als Schauspielerin eröffnet ihr den Zugang zu den entsprechenden Modehäusern.
Danach wird der Kinderdarsteller Serge Grave aufgerufen, der im Film die Kindheit des Autors verkörpert – und der als einzige Figur während dieses Vorspanns neben Guitry zu Wort kommt. Abschließend auf Platz 23 die Cutterin und ihr Team, sowie auf Platz 24 der Produzent Serge Sandberg, bei dessen Auftreten die gesprochene Besetzungsliste plötzlich mit einem „enfin voici …“7 verstummt. Sandberg beantwortet diese Inszenierung mit dem Schließen seiner Bürotür auf der dann die Aufschrift „DIRECTEUR du FILM Serge SANDBERG“ zu lesen ist. Schließlich treten nochmals nacheinander der Komponist Borchard am Klavier und dann (wieder in Überblendung) Guitry als Autor in Erscheinung.
Diese audio-visuelle Anordnung einer Besetzungsliste inszeniert die Filmproduktion als eine Gemeinschaft der Schaffenden, angeführt von den Akteuren der Regie und der Komposition. Versammelt im Interieur eines Studios, wird die moderne Ausstattung mit Film- und Tontechnik mit ihren professionellen Akteur*innen als ein zentrales Merkmal dieser Produktion herausgestellt. Die Anordnung wird als enge Verbindung von Arbeit und Leben lesbar. Dabei agieren die Filmschaffenden wie in einem technischen Labor und scheinen doch ganz bei sich zu sein, gekennzeichnet durch charakteristische Gesten und an ihrer Professionalität erkennbar. Diese Gemeinschaft erscheint gleichzeitig wie ein Familienunternehmen, welches durch einen patriarchalen Chef und dessen Freund in der Leitungsebene gekennzeichnet ist, ergänzt durch Gewerke wie Kamera und Ton mit eigenen Spezialisten, dann die Gruppe der Schauspieler*innen, bei denen zu vermuten ist, dass sie gerade den Alltag im Studio spielen, und sich als Teil eines Ensembles inszenieren, dessen Sprachrohr und führendes Mitglied der Autor Guitry ist, unter ihnen auch die elegante Ehefrau, der Kinderdarsteller Grave, der wie ein Sohn auftritt. Das Tonfilmstudio beherbergt all diese Akteur*innen im Sinne einer Gemeinschaft, die im Vorspann deutlich als Individuen gekennzeichnet sind. Als ein von der Außenwelt sichtbar abgeschotteter Raum formiert das Tonfilmkino der 1930er Jahre all diese Mitwirkenden für den Film zu einem technischen Körper, der dann mit einer Stimme spricht und der (in der Personifizierung Guitrys) seine Autobiografie als Autofiktion erzählt.
Godard reflektiert in LE MÉPRIS eine Umbruchzeit des Kinos, die insbesondere die Studioproduktionen Hollywoods seit den 1950er erfasst, die aber ebenso die europäischen Filmproduktionen betrifft. Durch eine ökonomische Krise begleitet von einem Medienwandel durch das Aufkommen des Fernsehens verändern sich die Produktionsbedingungen der Filmindustrie. Godard thematisiert diesen Wandel exemplarisch an einer fiktiven Filmproduktion angesiedelt im italienischen Cinecittà, welche die Geschichte des Odysseus-Mythos in populärer Form für den Film adaptieren soll im Rahmen einer internationalen Co-Produktion. Die Entscheidungs- und Ausführungsautorität verteilt sich in der Fiktion dieses Filmprojekts auf drei Akteure. Der französische Drehbuchautor Paul Javal (in der männlichen Hauptrolle Michel Piccoli) soll im Auftrag des US-amerikanischen Produzenten Jeremy Prokosch (Jack Palance) das Drehbuch des eigensinnigen deutsch-stämmigen Regisseurs Fritz Lang (als Fritz Lang) umschreiben. Zentraler Ort der Auseinandersetzungen ist ein Studiokino innerhalb von Cinecittà, indem die bisherigen Aufnahmen des Films gesichtet werden, und in dem die Diskussionen zur weiteren Gestaltung der Produktion geführt werden. Der Vorspann von LE MÉPRIS wurde tatsächlich auf dem Außen-Gelände der Titanus-Studios in Rom gedreht.8 In den 1950er Jahren galt Titanus als das italienische Hollywood. Seit 1960 ermöglichte das Studio jungen Autor*innen die Produktion von Low-Budget Filmen nach dem Vorbild der Nouvelle Vague. Zu den jungen Regisseur*innen gehören beispielsweise Elio Petri oder Lina Wertmüller.
Godards Vorspann unterscheidet sich markant von Guitrys Vorspann, weist aber auch einige Gemeinsamkeiten auf. So spielt Godards Vorspann in einem Außenraum auf dem Gelände eines italienischen Filmstudios und zeigt, wie eine einzelne Einstellung, eine Kamerafahrt mit abschließendem Kameraschwenk, gedreht wird. Auch LE MÉPRIS eröffnet mit einer gesprochenen Besetzungsliste.9 Allerdings ist es nicht Godards Stimme, die den Vorspann spricht, sondern die von Michel Subor, dem Hauptdarsteller aus Godards LE PETIT SOLDAT (F 1963). In einem Interview von Radio France mit der Regisseurin Patricia Mazuy, geführt von Michèle Halberstadt, aus dem Jahr 2021 wird die Intonation der Stimme Subors so charakterisiert: Es sei tatsächlich Michel Subor, der spricht, der allerdings so tut, als sei er Jean-Luc Godard.10 Die Besetzungsliste in Godards LE MÉPRIS beginnt mit dem Autor des Buches, das dem Film zugrunde liegt: Alberto Moravia. An zweiter und dritter Stelle werden die Hauptdarsteller*innen genannt, Brigitte Bardot und Michel Piccoli, danach Jack Palance, Giorgia Moll und Fritz Lang. An siebenter Stelle steht der Kameramann Raoul Coutard, danach der Komponist George Delerue und der Tonmann William Sivel. Weiter wird die für den Schnitt zuständige Agnès Guillemot gelistet und für die Aufnahmeleitung Philippe Dussart und Carlo Lastricati; danach an dreizehnter Stelle der Regisseur Jean-Luc Godard. Schließlich werden das Filmformat CinemaScope/Farbe angeführt und das Labor, das den Film entwickelt hat; außerdem die Produzenten und die produzierenden Filmgesellschaften. Überraschend ist der Abschluss der Besetzungsliste, die mit einem Zitat des Filmkritikers André Bazin endet und einem letzten Satz, der den Film an dieses Zitat anschließt. Michel Subor, der Sprecher der Besetzungsliste, bleibt ungenannt. Da der gesamte Vorspann aus einer Autorenposition gesprochen wird, insbesondere auch der letzte Satz, der eine Aussage über den Film macht, der sich direkt auf die Realismus-Auffassung des zitierten André Bazin bezieht,11 wurde immer wieder vermutet, es sei Godard selbst, der hier spricht.
Godards Reihung der Besetzungsliste erscheint selbst wie ein Aushandlungsprozess zwischen den Anforderungen einer kostspieligen Produktion (die Stars Bardot und Piccoli müssen möglichst zu Anfang genannt werden) und den Entscheidungen eines Autors. Auf der Folie von Guitry treten die Eigenheiten von Godards Vorspann als anti-dramatisch hervor. Godard scheint auszusparen, was Guitry ausstellt, insbesondere alle werbewirksamen Effekte, die Guitry hervorkehrt. Bei Godard ist daher nicht die Stimme des Autors zu hören – jedenfalls nicht im Vorspann.12 Es ist auch keine Hand des Autors zu sehen – allerdings sehr wohl die des Kameramanns Raoul Coutard und die des Tonmanns William Sivel. Die Stars, Bardot, Piccoli, Palance, und Lang, abwesend als lebende Personen in diesem Vorspann und nur mit monotoner Stimme aufgelistet als Teil der Besetzung, eingeführt mit einem einfachen „il y a …“, – also ohne deren Bedeutung als namhafte Hauptdarsteller*innen zu unterstreichen.13 Einzig Georgia Moll, die in der fiktiven Filmproduktion „nur“ die Übersetzerin spielt, damit sich die Akteur*innen in den Sprachen Französisch, Englisch, Italienisch und Deutsch untereinander verständigen können, ist als lebendes Porträt lesend und gehend im Vorspann präsent, – verschwindet aber schließlich aus dem Kader der Aufnahme.
Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Vorspännen. Das Voice-Over bei Godard ist gleichwohl auktorial gesprochen, allerdings charakterisiert als anonymer Chronist, der die Produktions-Fakten mit monotoner Stimme konstatiert. Auch der Komponist bestimmt musikalisch die Szene, tritt aber nicht selbst visuell in Erscheinung, und setzt musikalisch eine andere, eine melancholische Note. Dann das Auftreten der Kameramänner, Raoul Coutard bei Godard und Marcel Lucien bei Guitry. Beide performen die gleiche Geste, wobei Lucien nach oben schauend das Studiolicht kontrolliert und Coutard in den offenen Himmel über dem Filmstudio blickt, um den Kameraschwenk vorzubereiten im Hinblick auf den veränderten Lichteinfall.
Auch die Schienen sind im Bild, wenngleich bei Guitry keine Kamerafahrt gezeigt wird. Auch bei Guitry kommt eine Nebendarstellerin entlang der Schienen ins Bild. Pauline Carton läuft ins Zentrum des Bildes um dort mit Pierre Assy in Interaktion zu treten. Bei Godard ist es Giorgia Moll die aus der Tiefe des Raums nach vorne läuft in Interaktion mit einem Buch, dann aber den Kader nach links verlässt. Die eigentliche Hauptfigur des Vorspanns bei Godard ist schließlich eine zum Cinemascope-Format umgerüstete 35mm Mitchell-Kamera, die zum Ende dieses Vorspanns in Großaufnahme das Bild füllt.14 Die Kamera von Coutard richtet sich dabei direkt auf die aufnehmende Kamera des Films, so als würde die Filmproduktion die Zuschauer*innen ins Visier nehmen.
Diese Kamerafahrt stellt folglich eine Brücke zum Zuschauerraum her, und produziert einen Präsenz-Effekt anderer Art: Die Zuschauer*innen werden nicht von einem Autor und seinen Gesten beeindruckt (wie bei Guitry), sondern durch die Kamera (als technischem Körper) adressiert. Durch diese Adressierung der vierten Wand werden die Zuschauer*innen (zumindest imaginär) als lebende Porträts in diesen Vorspann eingebunden. Godards Kino ist aber schließlich nicht nur ein Kino der Autoren, das mit dem Kamerablick die Zuschauer*innen anblickt, sondern auch ein Kino der Kritik: Der Verweis auf André Bazin am Ende der gesprochenen Besetzungsliste formuliert diese Kritik.15 Die Besetzungsliste wird dabei im Sinne einer Zitation geöffnet. Und auf diesem Weg werden die Credits des Vorspanns um den Namen des 1958 verstorbenen Filmkritikers erweitert, der als geistiger Vater der Nouvelle Vague gilt.
Godard aktualisiert also das Bild der Filmproduktion im Sinne einer Umbruchsituation seiner Zeit vor dem Hintergrund einer kapitaldominierten postindustriellen Gesellschaft. Wie bereits Serge Daney 1986 formulierte, erscheint Godard dabei eher als ein Kinoreformer, der das Kino seiner Zeit mit Blick auf die Wirklichkeit aktualisiert und dabei das Etablierte sehr wohl fortführt (vgl. 1986: 7). Während Guitry alle Entscheidungsgewalt in einer Position, als Autor des Buches, als Regisseur und als Hauptdarsteller vereint (ohne die Rolle des Produzenten Sandberg weiter zu beachten) und aus seiner Produktion einen technischen Gemeinschafts-Körper formt, der dann als Autofiktion eine Geschichte des Kinos erzählt, und am Ende gleichwohl seinen Bankrott erklärt, spaltet Godard, als erklärter Protagonist des Autorenfilms, in der Fiktion von LE MÉPRIS die Verantwortlichkeiten als Konfliktverhältnis zwischen Drehbuch, Regie und Produktion auf. Diese Aktualisierung zeigt sich insbesondere auch in den Veränderungen, die Godard im Vergleich zu Guitry in den gesprochenen und lebenden Besetzungslisten vornimmt. Ferner kann Guitry 1936 gewissermaßen die höchste Entwicklungsstufe der Tonfilm-Studioproduktion als Errungenschaft seiner Zeit gleichermaßen selbstbewusst und ironisch ausstellen. Während Godard demgegenüber 1963 geradezu melancholisch auf die Zeit der Studios zurückblickt, auch wenn er gleichwohl die Errungenschaften seiner eigenen Zeit ins Bild setzt. Die Kamera, die Coutard im Vorspann bedient, kann als Ikone dieses Umbruchs gelesen werden oder als Godards Aktualisierung einer Mensch-Maschine-Konstellation – als Widergänger eines Kino-Auges, das irgendwo zwischen Dziga Vertovs MANN MIT DER KAMERA (UdSSR 1929) und Fritz Langs Star-Imago (Regie-Ikone mit Monokel) angesiedelt ist. Zusammen mit Coutard wird die Kamera zur zentralen Figur von Godards lebender Besetzungsliste. Nach Guitrys Tonfilmstudio als technischem Gemeinschafts-Körper, der selbstbewusst und voller Ironie mit einer Stimme spricht, bildet sich bei Godard ein anderer Kino-Körper heraus, der von zahlreichen Bruchstellen gekennzeichnet ist, der zwar noch eine Stimme hat, die aber ihre Selbstachtung verloren zu haben scheint. Diese veränderte Mensch-Maschinen-Konstellation hat das Studio verlassen. Die Kritik ist in diesen Körper eingezogen und wird bei Godard zum bestimmenden Faktor einer veränderten Kino-Existenz.
Vardas LES PLAGES D’AGNÈS ist eine digitale Produktion. Es handelt sich um einen autobiografischen Film, mit dem die 80-jährige Varda auf ihr Leben und Werk zurückblickt. Bereits für ihren ersten Film LA POINTE COURTE (F 1954) gründete Varda ihre eigene Produktionsgesellschaft Tamaris Films, die nach einer Namensänderung als Ciné-Tamaris fortbesteht und aktuell das künstlerische Erbe Vardas verwaltet.16 Ciné-Tamaris ist bis heute ein Familienunternehmen – mit einer Frau an der Spitze. Dies erscheint nicht nur im Sinne einer inzwischen 70-jährigen Geschichte dieser Produktionsfirma von Bedeutung, sondern auch vor dem Hintergrund der inszenierten Produzenten-Figuren bei Guitry und Godard im Kontext der Reflexion von Credits und Besetzungslisten in Filmvorspännen. Zudem versetzt Varda in LES PLAGES D’AGNÈS die Produktionsgesellschaft Ciné-Tamaris samt Büro in eine Strandkulisse – nicht im Vorspann, aber im Verlauf des Films –, sie zeichnet damit ein Bild von ihrer eigenen, lokalen und Community-bezogenen Produktionsweise. Die Inszenierung einer lebenden und gesprochenen Besetzungsliste an einem belgischen Strand in Vardas Vorspann wiederum bildet das Pendant zu Guitrys Studio-Interieur als Kino-Körper und zu Godards Mensch-Maschinen-Konstellation als Kino-Auge.
Der Vorspann von LES PLAGES D’AGNÈS gestaltet sich als komplexe Komposition aus fünf Teilen und ist insgesamt über fünf Minuten lang. Jeder dieser Teile enthält unterschiedliche Gesten von Autorinnenschaft, und in jeder dieser Szenen ist Varda die zentrale Figur. Dabei erscheint sie immer wieder in unterschiedlichen Funktionen, in unterschiedlicher Kleidung, auch mit unterschiedlicher Frisur und Haarfärbung. Die Dreharbeiten des Films fanden in einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen August 2006 und Juni 2008 statt.17 Der erste Auftritt beginnt mit einem Geräusch rauschenden Wassers, dann wird das Logo von Ciné-Tamaris sichtbar und danach erscheint Varda allein am Strand. Varda mit ihrer markanten Frisur – der obere Teil ungefärbt grau, der untere Teil abgesetzt und rot gefärbt – läuft barfuß zunächst rückwärts über den Strand, adressiert mit einem Monolog die Kamera und läuft nun vorwärts erst nach links und dann auf die Kamera zu:18 „Je joue le rôle d’une petite vieille, rondouillarde et bavarde qui raconte sa vie…“.19 Mit diesen Worten definiert Varda ihr Projekt als Autofiktion, und reklamiert gleichzeitig die Positionen Hauptdarstellerin, Autobiografin und Produzentin, – um dann in ihrer Wendung zur Kamera darüber zu sprechen, dass sie sich eigentlich für die anderen interessiert und dafür, was diese anderen bei ihr auslösen. D.h. sie weitet die autobiografische Perspektive aus auf das Geflecht menschlicher Beziehungen, das sie umgibt. In einem zweiten Schritt öffnet und erweitert sie diese Perspektive dann noch einmal, im Hinblick auf das Verhältnis von Selbstporträt und Landschaft, indem sie ihr Selbstbild mit dem einer Strandlandschaft assoziiert.
Der zweite Teil des Vorspanns zeigt Varda mit rotem Haar und leichtem Schuhwerk zusammen mit einer Gruppe junger Menschen bei der Vorbereitung von Dreharbeiten an einem belgischen Strand (vermutlich 2006). Die jungen Menschen tragen Spiegel auf den Strand und platzieren sie dort nach Vardas Anweisung. Varda erläutert noch einmal ironisch ihre Idee von einem Selbstporträt ausgehend von einem wehenden Schal, der ihr Gesicht verhüllt und einem kaputten Spiegel, der ihr Gesicht fast vollständig verbirgt. Vardas Repertoire von Autorinnen-Gesten umfasst dabei die Regie im Sinne klarer Anweisungen, sie ordnet aber auch ihre Erinnerungen wie für ein Skript; sie schaltet sich in die Ton- und Bildmontage aus einer Position des Voice-Overs und damit der Post-Produktion ein, – und alle diese Gesten werden miteinander verwoben. Am Strand selbst gestaltet sie ein Set-Design aus Spiegeln in der Landschaft zur Vorbereitung der Filmaufnahmen. Dazu greift Varda zwar Elemente eines klassischen Modells des Selbstporträts der Malerei auf (der Maler mit Spiegel an der Staffelei), dynamisiert aber das Bild- und Tongeschehen durch eine Vervielfältigung von Spiegelungen, sowie durch Bild- und Tonmontagen im offenen Landschaftsraum, um dann ein erstes Mal bewusst vor einen der Spiegel zu treten, allerdings nicht um sich darin zu betrachten, sondern nur, um den Holzrahmen dieses Spiegels in den Blick zu nehmen mit den Worten: „Ça, ça me fait penser …“.20 In dieser Geste zeigt sich ein besonderes Merkmal von Vardas Auto-Fiktion, die inspiriert ist nicht nur von anderen Menschen und Landschaften, sondern auch von anderem, von Dingen wie einem Holzrahmen, der sie an ihre Kindheit erinnert, und der sie das Bett im Schlafzimmer der Eltern aufrufen lässt, wie auch das Geräusch des quietschenden Schranks der Mutter; um dann assoziativ mit ihrer Rede an den unterschiedlichen Musikgeschmack der Eltern zu erinnern, und um schließlich jenen der Mutter aufzugreifen, den sie als Filmmusik in diese Szene einspielt: Schuberts Sinfonie in h-Moll (die Unvollendete).
Der dritte Teil enthält die schriftliche Besetzungsliste und die Credits. Er beginnt mit einer Einstellung auf das bewegte Meer mit sich bewegenden Spiegeln und blendet als erste Schrift die Produktionsgesellschaft ein: „CINE-TAMARIS“. Eine zweite Einstellung zeigt ebenfalls das bewegte Meer in einem sich bewegenden Spiegel mit dem eingeblendeten Filmtitel „LES PLAGES D’AGNES“. Die dritte Einstellung präsentiert ein zum optischen Sucher montiertes Bettgestell, das den Kamerablick aufs Meer ein zweites Mal rahmt. In dieses Bild werden die eigentlichen Credits eingeblendet.21 Surfer laufen durch das Bild und diese lange Einstellung wird begleitet von Bernard Lubats Scatgesangsstück „Loulou Zoulou“. Zum Ende der schriftlichen Credits läuft Agnès Varda von rechts hinten kommend ins Bild, positioniert sich mit einer Fotokamera im Rahmen des Bettgestells und nimmt dabei die laufende Filmkamera ins Visier. Eine weitere Autorinnengeste, die nicht nur an Godards Vorspann von LE MÉPRIS erinnert, sondern auch eine Geste aus einem ihrer eigenen Filme zitiert, SALUT LES CUBAINS (F/CUB 1962/63), indem ebenfalls die Kamera auf die Kamera gerichtet wird.22 Während Varda also schon früh gemeinsam mit den Kolleg*innen des Essayfilms (Marker, Resnais, Ivens) den kleinen mobilen Kameras zugewandt war, träumte Godard noch von der großen Studioproduktion.
Der vierte Teil inszeniert nun die lebende und gesprochene Besetzungsliste und leitet das Verfahren gleich mit den entsprechenden Worten ein: „J’ajoute un petit bout de générique vivant et parlé pour remercier l’équipe des jeunes qui ont porté les miroirs.“23 Anders als Guitry, der seine Inszenierung eines lebenden und gesprochenen Vorspanns wie ein Acousmêtre ausführt, d.h. sich selbst als allwissende Stimme inszeniert, die sein Studio-Team dirigiert, ist Varda sowohl On-Screen und Teil der Gruppe als auch Off-Screen in einer Position der Kommentatorin als Voice-Over. Das Besondere bei Varda ist, dass sie die Besetzungslisten nicht nur selbst inszeniert, sondern im Voice-Over auch als solche kommentiert und als audiovisuelles Dispositiv kennzeichnet. Und während Guitry das Bild eines Familienunternehmens zu einem Studiokörper formiert, der mit (nur) einer Stimme spricht, inszeniert sich Varda in einem Blick- und Stimmgeflecht, indem sie die jungen Leute bittet in den Spiegel und über den Spiegel (den Varda hält) in die Kamera zu schauen und gleichzeitig dabei befragt, ob sie die Kamera sehen. Diese Konstellation ist eine (in-)direkte Adressierung der Kamera durch unterschiedliche Blicke und Stimmen, eine weitere Gestaltung von Vardas Auto-Fiktion. Daraus entsteht eine vielstimmige Adressierung des Publikums, die einen Präsenzeffekt erzeugt und die Zuschauer*innen einbindet: Die jungen Leute spiegeln sich in der Kamera, und die Zuschauenden in den jungen Leuten am Set auf dem Strand.
Und dann fügt Varda diesem lebenden und gesprochenen Vorspann noch einen Kommentar hinzu: „C’est parce qu’il y a plusieurs personnes qui acceptent de rentrer dans une rêverie, dans quelque chose d’imaginaire, je ne sais même pas ce que c’est, …“.24 Varda spekuliert über das Zusammenkommen mehrere Personen beim Film als eine Art Rätsel des Kinos. Allerdings bleibt der Bezug des Kommentars unklar, denn er kann sich auf das Filmemachen im Allgemeinen, auf die im Hintergrund noch anwesende Gruppe der jungen Leute im Speziellen, aber auch auf eine gemeinschaftliche Filmerfahrung von Zuschauer*innen beziehen.
In einem fünften Teil befindet sich Varda wieder allein am Strand in einer Kulisse aus verschiedenen Spiegeln, die vorab von der Gruppe gemeinsam aufgebaut wurde. Varda arrangiert nochmals die Spiegel und filmt sie mit einer kleinen Digitalkamera. Es folgen Aufnahmen des Meeres, gebrochen durch verschiedene Spiegel, dann Vardas Kommando „Partez!“, um den Strand frei zu machen für eine Kamerafahrt (auf einem Schienenwagen entlang des Strandes mit den aufgestellten Spiegeln). Auf dem Meer befinden sich Segel- und Schlauchboote. Dann ist während dieser Kamerafahrt wieder das zum Rahmen umgebaute Bettgestell zu sehen, zusammen mit Varda, die das Meer mit einer zweiten Kamera filmt; die Fahrt verlangsamt sich und auf der Horizontlinie erscheint nun (zusammen mit Varda im Bild) ein Container-Frachtschiff des Typs MBC (Multi Bulk Container),25 dazu wieder die Klänge aus Schuberts Sinfonie.
Varda scheint schließlich dieses Bild einer doppelten Fahrt (Kamera- und Schifffahrt) zu finden für das, was sie im Kommentar nicht genau zu bezeichnen weiß. Varda inszeniert damit ein Bild der Globalisierung und der Digitalisierung am belgischen Strand, jener ökonomischen Entwicklungen, die nicht nur die Film-Produktion verändert haben, sondern alle Felder gesellschaftlicher Produktion. Was bei Guitry der Studiokörper ist, aus dem ein sprechender Kino-Körper hervorgeht und was bei Godard ein Mensch-Maschinen-Körper wird, der sich bereits auf einer Odyssee befindet, erscheint bei Varda als Blick einer Rückschau haltenden Essayistin, Feministin und Modernistin auf ein zeitgenössisches Container-Frachtschiff (im Kontext einer digitalen Filmproduktion). Der gigantische Körper dieses Schiffes, der sich aus zahlreichen Containern zusammensetzt, markiert den aktuellen Punkt einer Bewegung, eines Mythos, eines Traums, der in der abendländischen Geschichte mit Odysseus beginnt. Varda setzt sich zu diesem schwimmenden Körper und zu diesem Traum vom Kino ins Verhältnis. So entwickelt sie die Konzepte von Guitry und Godard weiter und transformiert schließlich den Travelling Shot der Kamera-Schienen-Fahrt in den Blick einer weiblichen Odysseus-Figur.26
Dann folgt ein Schnitt auf eine andere Rückenansicht. Varda sitzt auf einem Regiestuhl mit der Aufschrift „AGNES V.“, der Ausblick kadriert nun die Uferzone, ihre Hände mit einer Feder spielend, beginnt sie im Voice-Over einen autobiografischen Bericht und leitet damit den eigentlichen Film ein mit den Worten: „Cette mer du Nord et le sable, c’est le début pour moi. Le début de ce que je sais plus ou moins de moi …“.27 Mit dieser Geste schließt Varda nicht nur an Guitry und Godard an. Sie setzt sich vielmehr auf die Liste der Autor*innen, deren Namen auf Regiestühle gedruckt werden. Sie schreibt sich ein in das Register der Filmgeschichte. Gleichzeitig markiert Varda in dieser komplexen Anordnung des Vorspanns eine Differenz und zwar mit ihrer (hörbar und lesbar) weiblichen Stimme, der sie gleich im ersten Teil des Vorspanns einen sichtlich alternden weiblichen Körper zuordnet, der barfuß über den Strand spaziert. Kein Acousmêtre, kein Studio-Körper, kein Mensch-Maschinen-Körper im modernen Sinne, vielmehr ein mythischer Blick zurück auf die Geschichte der Odyssee, der sich durch eine Ansammlung von Spiegeln, Rahmen und Staffeleien hindurchnavigiert, um dann zu Schuberts Sinfonie eine Kamera-Fahrt entlang des Horizonts ins Bild zu setzen, die in einer Begegnung der filmenden Varda mit dem gigantischen Schiffskörper mündet. Dieser kritische Blick auf die abendländische Kulturgeschichte mit ihrer Ausrichtung auf den Horizont und mit ihrer Ausgestaltung als Fortschrittsgeschichte formiert Vardas feministische Einschreibung in die Geschichte des Kinos.
Lebende und gesprochene Besetzungslisten weisen nicht nur Wege in die Imagination als textuelles Schwellenphänomen, im Sinne der Funktion von Paratexten, sondern sie hinterlassen auch materielle Spuren kinematografischer Produktionen als audiovisuelle Einschreibung. Die lebende und gesprochene Inszenierung von Stimmen und Porträts machen Autor*innenschaft und Credits als materiell-semiotische Verbindung in unterschiedlichen Konstellationen erfahrbar und ablesbar: ein omnipräsenter und behütender, stolzer und ironisch gebrochener Studio-Körper (bei Guitry), ein Mensch-Maschinen-Körper als melancholisches Kino-Auge, das aus den Studios auszieht (bei Godard) und der Blick einer weiblichen Odysseus-Figur, die auf ihrer Fahrt verschiedenen Gemeinschaften, einem gigantischen Schiffskörper und schließlich auch dem eigenen alternden Körper begegnet (Varda). „Co-Autor*innenschaften“ und Credits werden nicht nur erfahrbar und ablesbar im Sinne einer audiovisuellen Einschreibung oder materiellen Hinterlassenschaft künstlerischer Arbeit, sie werden auch Stück für Stück erweitert, zunächst um die Seite der Kritik und dann noch einmal um die Seite des Publikums. Denn die eingeschriebenen Adressierungen tangieren und berühren auch die Zuschauer*innen, sprechen sie kognitiv, emotional und in gewisser Weise auch haptisch an. So fordern sie ein Mitwirken ein und stoßen neue materielle Produktionen an, wie z.B. diesen Beitrag über lebende und gesprochene Besetzungslisten.
Alexandre Vuillaume-Tylski hat für das ARTE Kino Magazin Blow up 2022 eine Kurzdoku erstellt: BLOW UP – LES GÉNÉRIQUES DE SACHA GUITRY (Die Vorspänne von Sacha Guitry), online: https://www.arte.tv/fr/videos/106236-047-A/blow-up-les-generiques-de-sacha-guitry/ (30.10.2024).
Die Ordnung zwischen den Produktionsgesellschaften stellt die internationale Tonfilmgesellschaft TOBIS an den Anfang, während die eigentliche ausführende Produktionsgesellschaft, die CINÉAS, an zweiter Stelle erscheint. Die Nennung Guitrys an dritter Stelle markiert explizit dessen Mitwirken als Hauptdarsteller: Sacha Guitry in …!
Bedeutsam ist in diesem Kontext, dass dieses Orchester eng mit der Produktionsgesellschaft CINÉAS in Verbindung steht. Serge Sandberg ist der Unternehmer, dem die CINÉAS gehört und der das populäre Orchester nach dem ersten Weltkrieg wieder begründet hat.
„Diesen Film habe ich selbst erarbeitet und realisiert.“ (Diese und alle folgenden dt. Übersetzungen W.P., sofern nicht anders angegeben).
Diese spielerische Intervention nimmt zudem ein erstes Mal reflexiv Bezug auf den Titel des Films (dt. Roman eines Schwindlers), der von einem Charakter berichtet, der seinen Lebensunterhalt durch betrügerisches Glücksspiel verdient. Und schließlich verweist diese Geste des Kartenauslegens bereits auf eine Ambivalenz des „Wahrsagens“, die auch das autobiografische Erzählen kennzeichnet.
„Man kann Guitry mit der Nouvelle Vague zusammen denken, denn er war einer der ersten, der die Politik der Autoren praktiziert hat“. Vgl. online: https://www.film-documentaire.fr/4DACTION/w_fiche_film/52095 (30.10.2024).
„und schließlich …“
Der Clip benennt die Produktionsorte von LE MÉPRIS: https://www.youtube.com/watch?v=G1AwvGrR4Gc (30.10.2024).
Auch in diesem Fall gibt es vor der gesprochenen Besetzungsliste Schrifttitel, die in diesem Fall den für französische Kinofilme obligatorischen Freigabenachweis enthalten, hier: visa de contrôle cinématographique No. 57.515, sowie eine Produktions- und Distributionsgesellschaft (cocinor) und den Filmtitel (LE MÉPRIS).
Laut Radio France, online: https://www.radiofrance.fr/franceculture/podcasts/la-culture-change-le-monde/le-mepris-de-jean-luc-godard-8788351 (30.10.2024).
„Le Mépris est l’histoire de ce monde“, dt.: „Die Verachtung ist die Geschichte dieser Welt“, Übersetzung UT, DVD Edition Arthaus Kinowelt, SZ 2005.
Godard tritt gegen Ende des Films als Regieassistent von Fritz Lang in Erscheinung und ruft ein einziges Wort: „Silence“.
„Es gibt…“ oder „Da ist …“.
Dieser Kameratyp wurde von der US-amerikanischen Mitchell Camera Corporation in den 1920er Jahren entwickelt. Bereits Fritz Lang und Karl Freund drehten mit einer solchen Kamera 1927 den Film METROPOLIS in den Babelsberger Studios, vgl. online: https://www.cinematheque.fr/fr/catalogues/appareils/collection/camera-film-35-mmap-13-2812.html (30.10.2024).
„Le cinéma substitue à notre regard un monde qui s'accorde à nos désirs“, dt.: „Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist.“ Und der Sprecher fügt hinzu: „Le Mépris est l’histoire de ce monde“, dt. „Die Verachtung ist die Geschichte dieser Welt“, Übersetzung UT, DVD Edition Arthaus Kinowelt, SZ 2005.
Link zur Website Ciné-Tamaris: https://www.cine-tamaris.fr/ (30.10.2024).
Pressemitteilung, online: https://medias.unifrance.org/medias/95/144/36959/presse/les-plages-d-agnes-dossier-de-presse-anglais.pdf (30.10.2024).
Diesen Auftritt und die drei ersten Teile des Vorspanns habe ich bereits im Kapitel „Sonic Icons“ in Audio History des Films ausführlich beschrieben (Pauleit 2018: 57ff.), vgl. auch Abschnitt 4 zu Agnès Varda in: Pauleit, Winfried (2018) Sonic Icons, in: Research in Film & History 2018, online: https://film-history.org/approaches/sonic-icons (30.10.2024).
„Ich spiele die Rolle einer kleinen alten Dame – pummelig und geschwätzig –, die ihr Leben erzählt“. (Orig. frz. in: Les plages d‘Agnès, Texte illustré 4).
„Das da, erinnert mich daran …“.
„images Hélène LOUVART, Alain SAKOT, Julia FABRY, Jean-Baptiste MORIN et Agnès VARDA“, „son Pierre MERTENS, Olivier SCHWOB, Frédéric MAURY, montag son Emmanuel SOLAND, mixage Olivier GOINARD“, assistant de réalisation Benjamin BLANC, assistante d’Agnè Varda et du projet Julia FABRY, Rosalie VARDA a été l’interlocutrice d’Agnès au jour le jour“, „décor Frankie DIAGO“, „montage Agnès VARDA avec deux chefs monteurs Jean-Baptiste MORIN et Baptiste FILLOUX“, musique originales Joanna BRUZDOWICZ, Stéphane VILAR, Paule CORNET“, „musique extraites des films de Varda […]“, „Didie ROUGET a initié le projet avec Agnès et co-réalisé „la plage belge“, production déléguées CINE-TAMARIS, direction de production Cecilia ROSE et de régie Nathalie DAGES“, „une coproduction CINE-TAMARIS / ARTE France Cinéma […]“, „un film écrit et réalisé par AGNES VARDA“, à mes enfants Rosalie et Mathieu, à mes petits-enfants Valentin, Augustin, Corentin et Constatin qui me protègent“, Credits zitiert nach der DVD-arte-Edition, CINE-TAMARIS-video 2012.
Allerdings sind es in SALUT LES CUBAINS die mobilen 16 mm Kameras (auch eine Fotokamera), die auf der Straße Bilder aufnehmen während einer Demonstration der Kuba-Solidarität auf dem Pariser Rive Gauche 1961. Diese Aufnahmen sind Teil des Vorspanns, dem schließlich ein Blick über den Atlantik nach Kuba folgt in Vardas Foto-Film.
„Ich füge ein Stück lebenden und gesprochenen Vorspann hinzu, um dem Team der jungen Leute zu danken, die die Spiegel getragen haben.“ (Orig. frz. in: Les plages d‘Agnès, Texte illustré: 5).
„Denn, es sind immer mehrere Personen, die zusammen kommen zu einer Träumerei, zu etwas Imaginärem, von dem ich selbst nicht genau weiß, was es ist …“. (Orig. frz. in: Les plages d‘Agnès, Texte illustré, ebd.)
Diese modernen Frachtschiffe fahren ohne festen Fahrplan über die Meere, je nachdem, was in die Container geladen wird und mit welchem Ziel – und es kann im Prinzip alles geladen werden.
Bereits in ihrem Film ULYSSE (F 1982), der auf eine eigene Fotografie Vardas aus dem Jahr 1954 Bezug nimmt, hat sie sich mit dem Odysseus-Mythos auseinandergesetzt. In LES PLAGES D’AGNÈS greift sie diesen Bezug wieder auf: „Tout homme qui regarde la mer est un Ulysse qui n’a pas toujours envie de revenir à la maison. Tous les enfants que j’aime et tous les hommes qui regardent la mer s’appellent Ulysse.” (Les plages d‘Agnès, Texte illustré 2010: 25). Dt.: „Jeder Mann, der auf das Meer schaut, ist ein Odysseus, der nicht immer nach Hause will. Jedes Kind, das ich liebe, und jeder Mann, der auf das Meer blickt, heißt Odysseus“.
„Diese Nordsee und der Strand, das ist der Anfang für mich, der Anfang dessen, was ich mehr oder weniger von mir weiß …“. (Orig. frz. in: Les plages d‘Agnès, Texte illustré 2010: 5).
Daney, Serge (1986) Le paradoxe de Godard, in: Revue Belge du Cinéma, 22-23, 1986.
Kracauer, Siegfried (2004) Zu den Filmen Sacha Guitrys [NZZ vom 29.08.1937], in: Mülder-Bach, Inka (Hg.): Siegfried Kracauer: Kleine Schriften zum Film, Bd. 6.3, 1932-1961. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
N.N. Les Plages d’Agnès, Texte illustré, Montreuil: Les éditions de l’œil 2010, online: https://www.academie-cinema.org/wp-content/uploads/2019/11/memoire-de-cesar-2010-plages-dagnes.pdf (30.10.2024).
Pauleit, Winfried (2018) Sonic Icons, in: Pauleit, Winfried et.al.: Audio History des Films. Berlin: Bertz+Fischer.
Pauleit, Winfried (2018) Sonic Icons, in: Research in Film & History 2018, online: https://film-history.org/approaches/sonic-icons (30.10.2024).