Filmische Bewegungsbilder vom Tanzen zwischen Präsenz und Abwesenheit
Tanzszenen in zeitgenössischen Filmen, die keine ausgesprochenen Tanzfilme sind, tauchen zumeist unerwartet auf. Sie sind Nichts, was kurz einmal eingeblendet wird, sondern erstrecken sich teilweise über einen gesamten Song von etwa zwei bis drei Minuten. Die Orte, an denen getanzt wird, verbindet, dass offenbar alles möglich ist. Das Spektrum reicht vom klassischen Tanzboden (PULP FICTION, USA 1994) bis zur Autobahn (LA LA LAND, USA 2016), vom Versammlungsraum der Freiwilligen Feuerwehr (SEHNSUCHT, D 2006) über den Strand (LOVE ME, F 2000) bis zur Disko (MEIN LANGSAMES LEBEN, D 2001). In Christian Petzolds Film YELLA (D 2007) gibt es eine Szene, in der Philipp, ein gestresster Finanzmanager (Devid Striesow), in einem Hotelzimmer auf dem Bett sitzt und Musik hört. Als Yella (Nina Hoss) dazu kommt, wird über den Song gesprochen. Vor dem Hintergrund anderer zeitgenössischer Filme, in denen Tanzszenen beinahe obligatorisch erscheinen, habe ich diese Szene, in der nicht getanzt wird, als Tanzszene erinnert. Erst später, als ich mir den Audiokommentar zu YELLA anhörte, in dem Christian Petzold erläutert, dass die betreffende Szene im Drehbuch zunächst tatsächlich als Tanzszene angelegt war, fiel mir meine falsche Erinnerung wieder ein. Dass ich die betreffende Szene nachträglich als Tanzszene erinnert habe, obwohl nicht getanzt wird, hat mit Tanzszenen der Filmgeschichte zu tun, die beim Sehen aufgerufen werden und sich dazu mischen.
Ausgehend von jener Szene in YELLA gilt das Hauptinteresse dieses Beitrags Tanzszenen, in denen Formen der Abwesenheit und des Nicht-Tanzens eine Rolle spielen, Tanzszenen in denen der Eindruck der Präsenz der Tanzenden und ihrer Körper zurücktritt zugunsten von Formen, in denen das Tanzen nur noch in Umrissen oder Andeutungen anhand von Spuren erkennbar ist. Im ersten Teil geht es mit Blick auf die Verbindung von Film und Tanzmoderne zunächst um Formen der Abwesenheit des sichtbaren Körpers durch Verhüllung mittels Tüchern in den frühen Serpentinentänzen; zweitens wird eine Typologie des Tanzfilms in ihren Möglichkeiten und Grenzen vorgestellt; im dritten und vierten Teil schließlich werden Tanzszenen des modernen und des zeitgenössischen Films mit Blick auf das Verhältnis von Präsenz und Abwesenheit analysiert und kontextualisiert.
In der frühen Filmpublizistik werden Filmbilder in einem metaphorischen Sinne vielfach auch als „tanzende Bilder“ oder als „Tanz aus Licht und Schatten“ bezeichnet, womit eine Fluidität und Ungreifbarkeit nahegelegt wird, die Film und Tanz gleichermaßen eigen ist.1 Das Ephemere als zentrales Kennzeichen von Film und Tanz erweist sich rückwirkend als spezifisch moderne Idee. Die Modernität, so schreibt Baudelaire 1863 in „Le peintre de la vie moderne“, sei „das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige“ (Gilbert 2005: 41). Film und Tanz erweisen sich als „exponierte Spielarten des Ephemeren“ (Ebd.), die im allgemeinen Umbruch der Zeichen- und Mediensysteme um 1900 eine ästhetische Leitfunktion einnehmen. Noch vor der historisch ersten Filmvorführung findet am 5. November 1892 in den Follies-Bergère in Paris das Debüt der Tänzerin Loïe Fuller statt, deren Serpentinentanz rückwirkend als Beginn der Tanzmoderne betrachtet wird.
Neben heute weit aus bekannteren Tänzerinnen wie Isadora Duncan oder Ruth St. Denis wurde Loïe Fuller in den 1990er Jahren im Zuge der Etablierung von Tanz als wissenschaftlicher Disziplin wiederentdeckt (Brandstetter 2005: 16). Fuller betreibt in ihren Auftritten, in denen sie ihren eigenen Körper zwischen Lichtwechseln und mittels Verdeckung durch fließende Tücher beinahe zum Verschwinden bringt, eine „Entmaterialisierung des Körpers mit den Mitteln der modernsten Technik“ (Ebd.). Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Wandels im Körperbild vollzieht Fuller eine Verschiebung von der Formung des Körpers hin zur Formung des textilen Stoffes und des Lichts, und inszeniert damit (anders als Duncan und St. Denis, die den Körper als Natur entdecken) „das Verschwinden des Körpers in den unendlichen Metamorphosen des ihn umspielenden Seidengespinstes“ (Ebd.: 16). Der Bruch, der durch Fullers Tanz zum Ausdruck kommt, trägt alle Kennzeichen der Tanzmoderne: „Eine Idee wie diese, war dem Ballettpublikum sehr ungewohnt: Choreografie, die auf das Erzählen einer Geschichte durch die stumme Kunst der Gebärde verzichtet, ein Tanz, der Bewegung selbst als Phantom in immensen Draperien inszeniert.“ (Ebd.: 21)
Während Fuller im Tanzdiskurs als Ikone der Tanzmoderne fungiert, gilt sie im Diskurs des Films als Vorläuferin der historischen Filmavantgarde, deren Experimente mit Licht, Farben und Körperbewegung sie vorwegnimmt (Brannigan 2011: 35). Daneben wird Fullers Serpentinentanz als filmische Entwicklung aufgefasst, die um 1900 von einer Bühnendarstellerin ausging (Lista 1995). Sie setzte Lichtprojektionen, Bewegung und ein Tuch im Tanz ein und tat damit etwas, dem Film Ähnliches. Sie benutze die filmischen Elemente jedoch dafür, etwas Unkörperliches zur Erscheinung zu bringen, also: „etwas in der gegenständlichen Welt Unsichtbares“ (Schlüpmann 2009: 30) sichtbar zu machen.
Wie lässt sich das weiteräumige Gelände abstecken und strukturieren, das sich ausgehend von der Verbindung von Film und Tanz eröffnet? Welche Typen im Schnittfeld von Film und Tanz lassen sich unterscheiden? Die Tanzwissenschaftlerin und Anthropologin Allegra Fuller Snyder unterscheidet unter den Begriffen „Notationsfilm“, „Dokumentarfilm“ und „Choreo-Cinema“ drei Typen von Tanzfilmen (Fuller Snyder 1965). Während „Notationsfilme“ eine möglichst präzise und vollständige Aufzeichnung der Choreografie anstreben und damit eine mnemotechnische Funktion übernehmen,2
werden unter der Rubrik „Dokumentarfilm“ Bühnenaufzeichnungen von Tanzaufführungen gefasst, die als Pressematerial oder Analysetool für Aufführungsanalysen dienen können. Unter „Choreo-Cinema“ ist die mediale Form des tänzerischen Films zu verstehen, die nicht mehr als sekundäre Aufzeichnung einem profilmischen Ereignis verpflichtet ist (Köhler 2009: 38f.). Während im Notationsfilm und im Dokumentarfilm das pro-filmische Ereignis im Mittelpunkt des Interesses steht, geht es im Choreo-Cinema um die Utopie einer Form, in der Film und Tanz auf eine Weise fusionieren und damit eine dritte Kunst hervorbringen. Die künstlerischen und aufzeichnenden Funktionen können nach Fuller Snyder in ein und demselben Film koexistieren. Unter dem Begriff „Choreo-Cinema“ lassen sich sowohl populäre Tanz-Filme fassen wie WEST SIDE STORY (USA 1961), FLASHDANCE (USA 1983) oder SHALL WE DANCE (J 1996), in welchen Tanzen als sinnliches Erlebnis im Mittelpunkt einer filmischen Narration steht (Krah 2004: 2), als auch Tanzfilme des experimentellen Kinos wie z.B. RAINBOW DANCE von Len Lye (UK 1936) oder Maya Derens Film A STUDY IN CHOREOGRAPHY FOR CAMERA (USA 1945). In Wenders Film PINA (D 2011), der als Dokumentarfilm gilt, lassen sich ausgehend von Fuller Snyder alle drei Tanzfilm-Typen nachweisen.
Auf der anderen Seite erweist sich die Reichweite von Fuller Snyders Typologie als begrenzt. Tanzszenen in Filmen, die keine ausgesprochenen Tanzfilme sind, stehen jenseits dieser Ordnung und gehen in den Begriffen „Notationsfilm“, „Dokumentarfilm“ und „Choreo-Cinema“ nicht auf. Das gilt für die Tanzszenen des frühen, des modernen oder des zeitgenössischen Kinos gleichermaßen. Um solche ‚Tanzszenen‘ oder, allgemeiner, um solche ‚filmischen Bewegungsbilder vom Tanzen‘, die in der Typologie von Fuller Snyder nicht aufgehen, soll es in den beiden nächsten Abschnitten gehen.
Im klassischen Hollywoodkino der 1930er bis 40er Jahre etablieren sich verschiedene Formen des Tanzfilms, so z.B. das berühmte Genre des US-Musicals, das mit den Arbeiten des Choreografen und Regisseurs Busby Berkeley verbunden ist, oder mit großen Stars wie Ginger Rogers und Fred Astaire, Judy Garland oder Gene Kelly und Regisseuren wie Vincente Minnelli, Stanley Donen oder Charles Waters (Pollach/Reicher/Widmann 2003: 7). In den Tanzszenen des modernen Kinos der 1960er Jahre wird der Bruch mit diesen rückwirkend als traditionell erscheinenden Darstellungsformen ausgestellt.
In Pier Paolo Pasolinis Film UCCELLACCI E UCCELLINI (I 1966) tanzt eine Gruppe junger Männer tagsüber unter freiem Himmel vor einer Bar. Pasolini hat UCCELLACCI E UCCELLINI als Film über die „Krise des Marxismus während der Zeit der Widerstandsbewegung und der fünfziger Jahre“ verstanden, als einen poetischen Film „von einem Marxisten erlebt und gesehen, der deshalb aber nicht im geringsten bereit ist, zu glauben, der Marxismus sei vorbei.“ (Pasolini, zit. nach: Stempel 1966: 90). Der Film gilt als Pasolinis persönlichste und heiterste Arbeit, die etwas „von einem Schelmenroman, etwas von Chaplin (...), etwas von einem Märchen für große Kinder“ hat (Jenny 1970: 93) und wurde in der zeitgenössischen Filmkritik sowohl politisch als auch ästhetisch reflektiert. Die Tanzszene bleibt in der Rezeption blass. Zentrale Themen sind vielmehr der Bezug zum Neorealismus oder die Frage nach Möglichkeiten, das Rätsel des Films zu entschlüsseln.
Die Tanzszene befindet sich relativ am Anfang des Films. Die beiden Protagonisten, Vater (Totò) und Sohn (Ninetto Davoli), sind auf der Landstraße unterwegs und sprechen über verschiedene alltägliche, philosophische und teilweise absurde Dinge. Der Vater trägt einen Anzug mit etwas zu kurzer Hose, Hut und Spazierstock, der Sohn ist lässig im schwarzen Rollkragenpullover mit wilden Locken und vereint verschiedene Zeichen von Jugendlichkeit. Die Themen des Gesprächs haben mit der Familie zu tun. Es geht um das neue Gebiss der Mutter, um die Tatsache, dass es teuer war oder darum, dass die Mutter das Gebiss vor dem Großvater versteckt. Daran anschließend spielen ein Kuhstall und die Brüste eines Mädchens, das den Jungen von der Arbeit abgehalten hat, eine Rolle. Von hier aus erfolgt ein Wechsel in die Tanzszene.
Im Rhythmus der Musik (von Ennio Morricone) bewegen sich die Jungen in wechselnden Formationen. Anstelle eines einzelnen Stars oder Paares, wird in Pasolinis Film eine Gruppe tanzender junger Männer in Szene gesetzt. Es gibt weder eine Bühne noch einen Zuschauerbereich im klassischen Sinne – die Protagonisten wechseln sich vielmehr in diesen Positionen ab: Als der Junge von der Bar kommend die Szene betritt, wird ein Zuschauerblick angedeutet. Im nächsten Moment transformiert er vom Zuschauer zum Akteur und tanzt mit den Anderen mit. Ähnliches gilt auch für den Barmann, der sich unter die Tanzenden mischt. Der Übergang vom Barmann zum Tänzer ist ebenso fließend wie der vom Zuschauer zum Akteur. Das Tanzen ist hier reine Männersache. Im Unterschied zum klassischen Hollywood Musical, in dem der weibliche Star oder die Paarkonstellation im Zentrum stehen, wird hier eine junge Frau zwar gezeigt, beim Tanzen jedoch macht sie nicht mit. Anstelle einer Einbindung in ein klassisches Tanzfilm-Narrativ (wie z.B. Tanzschule oder Vortanzen) bildet die Tanzszene in diesem modernen Roadmovie außerdem eine Station auf einer Reise. Sie ist keineswegs isoliert sondern ein Glied in der Kette von Ereignissen, die Vater und Sohn mehrfach von der Landstraße wegführen. Der Diskurs hat dabei einen hohen Stellenwert: Das Sprechen beim Gehen auf der Straße, die durch eine mehr oder weniger industriell-ländliche heterogene Umgebung führt, zieht sich als Motiv durch den gesamten Film.
Der Einstieg in die Tanzszene erfolgt entsprechend über eine Tonbrücke: Der Vater imitiert eine Tierstimme (das Muhen der Kuh, um die es im Dialog zwischen Vater und Sohn geht). Dann der Wechsel auf eine Einstellung, die die Bar in der Totalen zeigt. Nicht die semantische Beziehung zwischen Bildern löst den Schnitt aus, sondern eine Beziehung zwischen Klängen – dem Muhen und den ersten Takten der Musik. Auf das Bild von der Bar in der Totalen folgt eine Nahaufnahme auf die Tanzenden. Ihre Gesichter sind konzentriert und die energetischen Körper in Bewegung. Nach diesem Auftakt, der die Tanzenden Jungen nah und in Präsenz zeigt, folgen mehrere Unterbrechungen: Vater und Sohn betreten die Bar; sie bestellen sich Getränke; der Barmann begibt sich vor die Bar, tanzt kurz mit und verschwindet wieder. Dass man die Schauplatzwechsel als Unterbrechungen wahrnimmt, hat vor allem mit der Musik zu tun, die die ganze Zeit über weiterläuft und die Szene rhythmisiert. Beendet wird die Tanzszene vom Eintreffen des Schulbusses. Eben noch tanzend, laufen die Jungen mit ihren Schultaschen dem vorbeifahrenden Bus hinterher. Zusätzlich unterstrichen von der weiterhin zu hörenden Musik, ist der Übergang zwischen Tanz und Lauf fließend. Eine dynamische Bewegung folgt auf die andere und treibt den Film weiter.
Zwei Jahre zuvor inszeniert Godard in BANDE À PART (F 1964) eine ähnliche Tanzszene. Drei Freunde tanzen in einem Bistro zu einem Song aus der Music-Box. Bis es zu der Tanzszene kommt, wird auf der Dialogebene vom Tanz gesprochen („tanzen wir?“), und die Tanzschritte werden mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte gestisch simuliert. Dass der Tanzboden auch in diesem Fall keine traditionelle Bühne ist, wird durch eine den Gastraum des Bistros (und den Tanz) durchquerende Person noch zusätzlich unterstrichen. Innerfilmisch gibt es weder ein Publikum noch eine Vor- oder Rückseite der Inszenierung. Die Kamera fängt die Bewegung ein und der Bildausschnitt wechselt zwischen Totale und Ausschnitt. Die geregelt ausgeführten Tanzschritte und das Fingerschnippen sind lesbar als Versatzstücke aus dem Genre des Musical-Films. Man mag an eine Szene mit Fred Astaire und Ginger Rogers denken. Mit dem Unterschied, dass es sich bei Godard nicht um Profi-Tänzer handelt, dass das Paar gegen die Dreiergruppe ausgetauscht wurde und dass die Frau den Hut trägt.
Eine Besonderheit dieser Tanzszene liegt in der Inszenierung der Beziehung zwischen den tanzenden Körpern und dem Sprechakt. Neben dem Erzähler, der darauf hinweist, dass es nun an der Zeit ist, über die Beziehung der Freunde zu reflektieren, ist außerdem die innere Stimme der Frau zu vernehmen, die sich gerade fragt, ob die beiden Verehrer das Wippen ihrer Brüste unter dem Pullover wohl bemerken. Die körperliche Aktion des Tanzens wird gezeigt und zugleich diskursiv kommentiert. Die Idee von der einfachen physischen Präsenz des tanzenden Körpers, der dem Geist in der abendländischen Kulturgeschichte traditionell als Antipode entgegengesetzt wird, wird ausgestellt und vergegenwärtigt, und ist in beide Richtungen anschlussfähig: in Richtung der Präsenz ebenso wie in Richtung Abwesenheit.
Die Tanzszene in BANDE À PART erweist sich als dreigeteilt: erstens Schweigeminute, zweitens gestische Simulation des Tanzes, drittens Tanzen als Performanz. In der Schweigeminute wird das Verhältnis von Bild und Ton ausgestellt, in dem nicht nur die Stimmen der Freunde schweigen, sondern die gesamte Audiospur des Films. Es handelt sich um ein menschliches und zugleich um ein technisches Schweigen. Damit zeigt sich die Szene als ein Fremdkörper im Film. Die Schweigeminute geht allein in einer Narration nicht auf. Durch die Hinzunahme des technischen Schweigens wird ein kinematografischer Metadiskurs aufgerufen, in dem der (moderne) Film auf sich selbst verweist. Durch die Wegnahme des Tons werden die technischen Mittel des Films als audiovisuelle (mit Betonung auf audio) in Szene gesetzt. Der zweite Teil der Tanzszene beginnt mit der Ankündigung von Franz (Sami Frey), dass er eine Schallplatte auflegen wird. Es folgt ein Dialog zwischen Arthur (Claude Brasseur) und Odile (Anna Karina), der unvermittelt in die Frage „Tanzen wir?“ mündet. Die Tanzschritte werden auf der Tischplatte gestisch simuliert. Während des Sprechakts „Tanzen wir?“ und der gestischen Simulation des Tanzes ist keine Musik zu vernehmen. Bei dem nun folgenden Gruppentanz im Gastraum des Bistros handelt es sich um den twistähnlichen Madison, einen in den 1960er Jahren populären Gruppentanz im 4/4-Takt (Stenzl 2010: 137). Beginnend zunächst ohne Musik mittels Fingerschnippen und Schritten setzt gleich darauf die zum Rhythmus des Tanzes passende Musik ein. Eine Ansammlung verbindungsloser Elemente, die den von Deleuze für das moderne Kino beschriebenen „Riss des sensomotorischen Bandes“ (Deleuze 1997: 224)3 in Szene setzt.
Während im klassischen Musical der Tanz sämtliche Bilder (...) gestaltet, entsteht er hier als ein ‚Moment‘ im Verhalten der Helden, als eine Grenze, auf die eine Bilderfolge hinstrebt: eine Grenze, die, sobald sie erreicht ist, eine neue Folge bildet, die auf eine neue Grenze hin ausgerichtet ist. (Deleuze 1997: 239)
Die innere Verfassung der Protagonisten des Films wird während der Tanzszene sprachlich mittels Voice-Over nach Außen gekehrt. Sobald die Voice-Over-Stimme einsetzt, tritt die Musik aus dem akustischen Raum teilweise vollständig zurück. Die Musik ist auf diese Weise durchsetzt von Aussetzern und Pausen. Auf der Ebene der Voice-Over geht es um die Beziehung der drei Freunde zueinander, um die Körper beim Tanzen. Die Kleidung der Tanzenden erscheint lässig, sehr casual, und zwei der drei sind im Strickpullover. Dann ändert sich die Personenkonstellation, beide Männer gehen kurz nacheinander aus dem Bild. Der Kellner kommt durchs Bild. Odile tanzt weiter und ist nun im Solo. An wen sich der Tanz richtet, bleibt offen. Ein Gegenschuss auf die Umgebung in der Bar oder mögliche Zuschauerschaft entfällt. Die Tanzszene in Godards Film endet mit einem Schnitt auf die nächtliche Stadt.
Tanzen und Nicht-Tanzen sind im modernen Autorenkino der 1960er Jahre teilweise nicht mehr unterscheidbar. Die Entauratisierung des Tanzens, die im modernen Kino durch das Betanzen von Übergangsräumen, spontanes Tanzen im Alltag, durch eine veränderte Rolle des Sprechaktes und durch offenere Gruppenkonstellationen erreicht wird, wird im zeitgenössischen Autorenfilm noch weiter zugespitzt.
Die Betonung und die Zuspitzung der Inszenierungen der Abwesenheit, der Vor- und Nachzeitigkeit des Tanzens lässt sich anhand des ästhetischen Konzepts von Angela Schanelecs Filmen diskutieren. Ein elliptischer Erzählstil, präzise Bildkompositionen, die Sparsamkeit der Mittel und die offensive Beschränkung auf Sujets des Alltäglichen kennzeichnen die Filme. Seitens der Filmkritik einerseits immer wieder als ‚schwierig‘, ‚zu spröde‘ oder als ‚langatmig‘ getadelt, wurden die Filme MEIN LANGSAMES LEBEN, MARSEILLE (D 2004), ORLY (D 2011) oder DER TRAUMHAFTE WEG (D 2016) andererseits als große Innovationen gehandelt und mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Beschränkung der technischen Mittel und der radikale Verzicht auf Dimensionen des Sensationellen und Opulenten münden in eine Form der Kritik an sämtlichen Formen der Unmittelbarkeit des Zeigens und der Idee von Film als einem Medium des Ereignisses und der Präsenz.
Mit Blick auf das Verhältnis von Film und Tanz erweist sich vor allem MEIN LANGSAMES LEBEN als interessantes Beispiel. Obwohl es sich bei diesem Film weder um ein Musical noch um einen ausgesprochenen ‚Tanzfilm‘ handelt, sind darin drei Tanzszenen von Bedeutung. In einer der ersten Szenen des Films wird die Ausdrucksbewegung einer Tanzenden als Leerstelle präsentiert. Wenn Clara (Clara Enge), die kleine Tochter von Sophie, sich wünscht, dass ihre Kinderfrau (Sophie Aigner) auf Schuberts Vertonung des Erlkönigs tanzt, sieht man das Kind schauen, aber der zu erwartende Gegenschuss auf die Tanzende bleibt aus und erzeugt eine Leerstelle.
Der Tanz findet außerhalb des filmisch kadrierten Raums statt. Die Augen des Kindes, sein Stillsitzen, sein Genießen füllen diese Leerstelle nicht etwa auf, sondern unterstreichen sie noch zusätzlich. Mangels Gegenschuss auf die Tanzende verliert die andächtige Haltung des Kindes im narrativen Kontext zunehmend an Sinn und der Klang der Musik von Schubert tritt in den Vordergrund. „Die Absenz“, so schreibt Gerald Siegmund, „blickt uns an und versetzt uns, (die Zuschauer, S.N.) emotional in Bewegung“ (Siegmund 2006: 452).
In einer anderen Szene des Films, die in einer Disco spielt, sieht man die Protagonistin des Films (Ursina Lardi) ausgelassen mit ihrem Bruder (Devid Striesow) tanzen. Anders als in der vorangehenden Tanzszene, wo der Tanz als Auslassung im Off verbleibt, wird das Tanzen diesmal als energetische Körperbewegung sichtbar in Szene gesetzt. Beinahe lehrstückhaft wird in diesen beiden Tanzszenen bis dahin die gesamte Bandbreite filmischer Bewegungsbilder – vom Tanzen als Präsenz (energetisches Tanzen in der Disko) bis hin zu Tanzen als Abwesenheit (Tanzen im Off) vorgeführt.
Eine dritte Szene, in der getanzt wird, zeigt eine Hochzeit. Der Vater der Braut (Rüdiger Vogler) hält eine Ansprache und bitte die Tochter (Sophie Aigner) mit ihm zu tanzen. Auf die Musik von „Mutter“, einer legendären Berliner Ex-Punk-Band, sieht man Vater und Tochter gemeinsam tanzen. Nach und nach treten weitere Paare auf die Tanzfläche, die sich zur Musik bewegen. Jenseits des Nummernprinzips, das in den oben beschriebenen Tanzszenen bei Godard und Pasolini noch vorherrscht, sind Bewegungen und Tanzstil hier an Kriterien von Alltag und Normalität entlang inszeniert. Auf diese Weise entsteht das Sittenbild einer bürgerlich-alternativen Berliner Hochzeitsgesellschaft.
Erlkönig-Tanzszene, Tanzen in der Disko, Hochzeitstanz – drei Tanzszenen, die bezogen auf die filmische Darstellung des Tanzens sehr unterschiedlich verfahren. Was sie verbindet, ist eine Arbeit an der Form und eine filmische Diskursivierung eines Wissens von Film und Tanz gleichermaßen. Tanz als Ausdrucksbewegung tritt bei Schanelec zurück zugunsten von Tanz als Wissensdiskurs (wie kann man Tanzende zeigen?). In den Szenen, in denen die Abwesenheit der Körper betont ausgestellt wird, entsteht Spannung und zugleich wird ein Möglichkeitsraum eröffnet für die Imagination der Zuschauer.
Ästhetisch in eine ähnliche Richtung wie Schanelec geht auch Christian Petzold in seinen Filmen. Die Tanzszenen sind dabei stärker plotbasiert und nehmen deutlicher dramaturgische Funktionen ein. In Petzolds Film JERICHOW (D 2008) wird am Strand getanzt. Zu den Klängen eines türkischen Lieds und in eine tiefe Sehnsucht versetzt, tanzt der türkische Unternehmer Ali (Hilmi Sözer) vor der strahlend blauen Ostsee. Mit weichen Bewegungen, weit ausgebreiteten Armen, betrunken und selbstvergessen, bewegt er sich im Rhythmus der Musik. Zunächst alleine tanzend, fordert Ali seine Frau Laura (Nina Hoss) und Ben (Benno Fürmann), der für ihn arbeitet, zum miteinander Tanzen auf.
Einem Regisseur gleich, der zwei Schauspieler auffordert, als Paar zu tanzen, sich zu umfassen und sich körperlich einander zu nähern, werden Laura und Ben von Ali dirigiert. Die Gemachtheit der Tanzszene, ihre Künstlichkeit bei gleichzeitiger Präsenz des tanzenden Paars, wird auf diese Weise ausgestellt. In der Geschichte, die der Film erzählt, markiert die Szene ein Wendepunkt. Alis Sehnsucht wird durch das Bild von den Tanzenden ein Körper gegeben, nicht ohne dass sich die Sehnsucht auf die Tanzenden (und auf die Zuschauer) überträgt.
In der Tanzszene in Christian Petzolds Film GESPENSTER (D 2005) wird das Zwischenreich zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen in ein Vor-dem-Tanzen und Nach-dem-Tanzen verschoben. Die Attraktion dieser Tanzszene besteht in der roten Einfärbung des gesamten Bildes und in der Freistellung der Figuren, die wie einem Musik-Videoclip oder einer fremden Galaxie entsprungen wirken. Die Interaktion der Szene besteht zunächst in dem Versuch von Toni (Sabine Timoteo), Nina (Julia Hummer) zum Tanzen zu bewegen.
Das Umschlungen-Tanzen von Nina und Toni dauert nur kurz und es folgt das Warten auf die Rückkehr von Toni, die angekündigt hat, etwas zu trinken zu holen. Nach den ersten Bildern, die entweder Toni oder Nina zeigen, wird der Abstand der Kamera zu den Protagonistinnen vergrößert und die Umgebung wird greifbar. Nina wartet auf Toni, im Hintergrund ist der DJ zu sehen, und sie lehnt sich in einer typischen Warteposition an der Tanzfläche an die Wand. Die Dauer der Tanzszene ist einzig an der Musik, die sich nach Weggang von Toni fortsetzt, ablesbar. Das Davor und das Danach des Tanzens haben in dieser Szene übernommen. Der Akt des Tanzens in Präsenz tritt in den Hintergrund. An seine Stelle ist ein Sich-Vorbereiten, ein Zögern, eine Angst-sich-zu-Zeigen oder ein Warten-auf-die-Partnerin getreten.
In GESPENSTER noch in Ansätzen vorhanden, wird in YELLA auf den Akt des Tanzens in Präsenz und das Ausstellen tanzender Körper komplett verzichtet. Die Szene, in der Philipp, der Finanzmanager, im Hotelzimmer scheinbar unbeobachtet den Song Road to Cairo (Julie Driscoll/Brian Auger) hört, erscheint wie eine Leerstelle des Tanzens. Dieser Eindruck lässt sich auf eine spezifische, die Szene bestimmende Ordnung zurückführen, in der nicht zuletzt auch die Inszenierung von Musik eine zentrale Rolle spielt.
Im modernen Kino der 1960er Jahre werden die Konventionen des klassischen Tanzfilms herangezogen im Sinne des Zitats, werden ironisiert, ausgestellt oder werden wie Splitter eines Steinbruchs zu etwas Neuem weiterverarbeitet. Die Konventionen des Hollywood-Musicals oder die Tatsache, dass man beim Tanzen einen Hut tragen kann, leuchten bei Godard oder Pasolini für Momente auf. Diese filmischen Bewegungsbilder vom Tanzen stellen ihre Modernität zur Schau.
Die Bewegungsbilder vom Tanzen im zeitgenössischen Kino operieren dagegen mit einem Wissen von Film und seinen Inszenierungsweisen des Tanzens zwischen Präsenz und Abwesenheit. In den Filmen von Angela Schanelec und Christian Petzold tritt die Darstellung von Körpern im Akt des Tanzens zurück. Die verbleibende Leerstelle des tanzenden Körpers in Präsenz eröffnet einen Möglichkeitsraum, in dem sich imaginäre Tanzbilder der Zuschauer (Erinnerungsbilder, Medienbilder, YouTube-Tanzszenen) und das Wissen von der Kulturgeschichte des Tanzens zuschalten können. Die Abwesenheit tanzender Körper in Präsenz appelliert an den Zuschauer und stellt den gewohnten Platz des Zuschauers infrage.
Die Idee von der Abwesenheit des tanzenden Körpers in Präsenz lässt sich dennoch kaum auf zeitgenössische Produktionen festlegen, sondern ist auch in anderen historischen Zeiten wie der Tanzmoderne, der Filmmoderne oder dem frühen Kino existent. Wird der Körper der Tanzenden in den frühen Serpentinentänzen durch die Bewegung der Stoffe nahezu zum Verschwinden gebracht, lassen sich selbst in dem energetischen Bild vom „Tanzen vor der Bar, bis der Bus kommt“ aus Pasolinis Film Hinweise finden. Am Ende, wenn die Jungen die Tanzfläche in einer fließenden Bewegung vom Tanz in den Lauf verlassen, weist die Tanzszene in die Zukunft und die Abwesenheit der Tanzenden in den Filmen von Petzold oder Schanelec kündigt sich an.
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