Eine zentrale Frage der (US-amerikanischen) feministischen Filmtheorie der 1970er und 80er Jahre war, wie sich die Zuschauerin im patriarchalen Hollywoodkino identifiziert und wie diese Identifikation durch einen ideologisch strukturierten Blick gelenkt wird (Mulvey 1975). Rückblickend erscheint das Kino als lustvolles (Mulvey 2004, Williams 1998), aber dadurch auch gefährliches Medium der ideologischen Verführung (Seier/Warth 2005: 100), von dem sich die Zuschauerin – und die Filmwissenschaftlerin – durch kritische Analyse emanzipieren wollte (Williams 1998: 47).1 Das Verhältnis zwischen feministischer Filmwissenschaft und ihrem Gegenstand sollte also idealerweise ein sich distanzierendes sein. In ihrem 2000 erschienenen Buch The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses plädiert Laura U. Marks für ein entgegengesetztes Verhältnis. Mit dem Konzept der „haptischen Visualität“ schlägt sie vor, den Körper der Zuschauer_in in größtmöglicher Nähe und als Fortsetzung des Filmkörpers zu verstehen: In der mimetischen körperlichen Erfahrung entfalte sich erst die eigentliche Bedeutung des Films. Ein Verhältnis der Nähe strebt Marks auch als Filmwissenschaftler_in an:
As much as possible I attempt a kind of writing that stays close to its object rather than analyzing it from a distance, allowing the work in question to suggest the most appropriate response. This is especially the case with works such as I discuss, whose politics and poetics are inextricable, and which evoke a response that is simultaneously intellectual, emotional, and visceral (Marks 2000: xvi).
Wie ist dieser Unterschied in der Ausrichtung feministischer Filmtheorie zu verstehen? Welche Folgen ergeben sich daraus, zum Beispiel für die Frage nach dem objektivierenden Blick, der für die frühe feministische Filmtheorie so zentral war? Die analytische Distanznahme war erforderlich, um eine ideologische, patriarchale Blickstruktur im Kinoapparat identifizieren und kritisieren zu können. Bei Marks geht es nicht mehr um Ideologiekritik, aber weiterhin um ein sich als kritisch-progressives verstehendes Interesse. Dabei steht das Filmerleben selbst im Vordergrund, das von der Filmwissenschaftlerin in Selbstbeobachtung empfunden und nachträglich im Schreiben dargestellt wird. Anstelle analytischer Distanz zum Objekt ist größtmögliche Nähe das Ziel, ein als progressiv verstandenes Erleben ersetzt kritische Analyse. Für mich stellt sich damit die Frage nach dem politischen Potenzial nicht-repräsentationaler Analyse.
Marks’ Konzept der körperlichen Filmerfahrung lässt sich im Anschluss an die Kritik an der frühen feministischen Filmtheorie verstehen, nach der Ideologie- und Repräsentationskritik ihren Gegenstand zu sehr auf den dargestellten Inhalt reduziert und zu wenig dessen Ästhetik und Medialität berücksichtigt.Vor allem in Laura Mulveys Theorie der visuellen Lust und des narrativen Kinos erschienen Machtbeziehungen als zu statisch. Die Bedeutung des Kinos sei zu einseitig als mediale Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden worden. Sie hätten vernachlässigt, was es bedeutet „[to be] moved by a moving picture“, so Linda Williams, stattdessen gelte es, mit und durch den Körper der Zuschauer_in zu denken (Williams 1998: 47). Selbst wenn, wie bei Mulvey, die materielle, medientechnische Anordnung im Mittelpunkt steht, würde Kino zu sehr auf eine symbolische Abbildungsfunktion reduziert.2 Seit den 1990ern richtet sich das Interesse (auch) feministischer Filmtheorie stärker darauf, wie materielle und medienspezifische Eigenschaften und Prozesse so offen gedacht werden können, dass unerwartete und unvorhersehbare Ereignisse möglich sind (Seier/Warth 2005: 102). Die Betrachtung medienspezifischer Eigenschaften und Prozesse und des Eigensinns des Medialen (Peters 2005: 329) stellt nicht gesellschaftliche Reproduktion, sondern mediale Produktivität in den Vordergrund.
Marks’ Buch steht im Kontext dieser US-amerikanischen und europäischen Theoriebildung. Wie viele materialistisch und affekttheoretisch ausgerichtete Filmwissenschaftler_innen bezieht sie sich auf die Kinotheorie, insbesondere die Konzeptualisierung des Zeitbildes, von Gilles Deleuze, die sie mit einem phänomenologischen Zuschauer_innenkonzept verbindet. In Übereinstimmung mit der Kritik an der frühen feministischen Filmtheorie betont Marks ein nicht-inhaltsorientiertes, nicht-repräsentationales Verständnis von Kino und hebt stattdessen das mediale Potenzial für Neuentwürfe von Identität, Körperlichkeit und Subjektivität hervor (Peters/Seier 2016: 12), das auf die affektive Durchlässigkeit zwischen Film und Zuschauer_in zurückzuführen sei.3 Das Versprechen neuer Subjektivierungsformen ermöglicht es, dem Kino ein politisches Potenzial zuzuschreiben, das nicht in den vermittelten (repressiven oder progressiven) semantischen Botschaften bestehe, sondern sich auf der Ebene des Affektiven und Materiellen verwirkliche, ähnlich, wie es in Affekttheorien und New Materialism formuliert wird (Barad 2003, Clough/Halley 2007, Coole/Frost 2010). Das Interesse an alternativen Subjektivierungsformen steht im Vordergrund.
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus Marks’ nicht-repräsentationalem Ansatz für die Betrachtung des postmigrantischen Kinos? Diese Frage stellt sich insbesondere, weil Marks ihr Konzept haptischer Visualität am „interkulturellen“ Kino entwickelt – zwischen haptischem und interkulturellem Kino besteht, so Marks, eine besondere Affinität. Marks Ansatz unterscheidet sich von der frühen feministischen Filmtheorie nicht nur in Bezug auf ein räumliches Verhältnis, sondern auch im Gegenstand. Während das Hollywoodkino als von dominanter, patriarchaler Gewalt strukturiert galt, widmet sich Marks mit dem diasporischen, bzw. interkulturellen einem Kino der Minderheiten. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen dazu anstellen, inwiefern das filmwissenschaftliche Interesse an größtmöglicher Nähe zum Gegenstand und alternativen Subjektivierungsformen dadurch verkompliziert wird, dass es sich auf interkulturelles bzw. postmigrantisches Kino richtet. Wie ist das geforderte Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen Zuschauer_in/Wissenschaftler_in und Film einzuschätzen, wenn es sich zugleich um Verkörperungen von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft handelt?
Der Umstand, dass Marks’ Gegenstand das interkulturelle Kino ist, ermöglicht es, einige Aspekte nicht-repräsentationaler, affekt- und materialitätsorientierter Filmtheorie für die Diskussion des deutschen postmigrantischen Kinos und dessen politische Implikationen zu übertragen. Wie kann eine nicht-repräsentationale Betrachtung des postmigrantischen Films aussehen? Und welche Probleme ergeben sich dabei? Marks etwa denkt Gewaltverhältnisse nicht mehr wie die frühe feministische Filmtheorie statisch, dafür erscheinen sie bei ihr tendenziell zu beliebig. Muss das Bemühen um Distanzierung zum Gegenstand, das für die frühe feministische Filmtheorie so wichtig war, zwangsläufig bedeuten, einer repräsentationalen Logik zu folgen? Und ließen sich die Probleme bei Marks vermeiden, wenn die Ansätze der frühen feministischen Filmtheorie nicht vollständig verworfen, sondern unter Berücksichtigung medialer Produktivität weitergedacht würden? Eine mögliche Antwort bietet Rey Chows Konzept des postkolonialen Films als autoethnografische Übersetzung, das an das Interesse der frühen feministischen Filmtheorie an gewaltvoll strukturierten Blickverhältnissen anschließt, dieses aber hinsichtlich des postkolonialen Film und der filmästhetischen Oberfläche modifiziert (Chow 1995). Beide Ansätze sind nicht neu, der Text von Marks ist von 2000, der von Chow sogar von 1995. Mir geht es aber zum einen darum, eine lineare Darstellung feministischen und filmtheoretischen Erkenntnisgewinns infrage zu stellen. Zum anderen scheint es mir notwendig, den deutschen postmigrantischen Film in eine bereits bestehende Auseinandersetzung mit dem diasporischen und postkolonialen Kino zu integrieren. Der postmigrantische Film ist, auch in seiner lokalen Spezifik, nicht das nationale Einzelphänomen, als das er manchmal erscheint. Bevor ich genauer Marks’ Konzept körperlicher Filmerfahrung und haptischer Visualität diskutiere, gehe ich kurz auf die derzeitige Diskussion des deutschen postmigrantischen Films ein. Auch hier ist die Frage nach dem Status von Repräsentationskritik weiterhin von zentraler Bedeutung, was mich zu der Frage veranlasst, inwiefern Marks’ Ansatz für die hiesige Diskussion übertragbar ist.
Auch in Bezug auf den deutschen postmigrantischen Film wird seit einiger Zeit ein nicht-repräsentationales Vorgehen gefordert (Heidenreich 2015a, Alkın 2017). Der Begriff des Postmigrantischen geht auf das Ballhaus-Theater in Berlin Kreuzberg und dessen ehemalige Leiterin Shermin Langhoff zurück. Das Präfix ‚post‘ bezeichnet sowohl eine zeitliche Situation nach der (Gastarbeiter_innen-) Migration der zweiten und dritten Generation (Langhoff zitiert nach Foroutan 2016: 230), als auch, wie im Begriff des Postkolonialen, die anhaltenden Folgen von Migration in der Gegenwart (Figge, Michaelsen 2017: 105). Postmigrantisch dient sowohl als Identitätskategorie, als auch als gesamtgesellschaftliche Zustandsbeschreibung, in der sowohl die Präsenz von ‚Migrant_innen‘ Normalität ist, wie auch ihre kontinuierliche Produktion als fremd und minderwertig (Foroutan 2016: 234). Postmigrantisch benennt eine Gesellschaft, die ‚immer schon‘ Migrationsgesellschaft und durch konjunkturelle, komplexe Formen von Rassismus strukturiert ist (Espahangizi/u.a. 2016: 15f., Demirović/Bojadžijev 2002).4 Das postmigrantische Kino wird in Deutschland vor allem als türkisch-deutsches Kino diskutiert. In Deutsch-türkische Filmkultur im Migrationskontext rekapituliert Ömer Alkın kritisch dessen gängige lineare Darstellung.5 Zuerst sei das „Kino der Fremdheit“ (Seeßlen 2002: 73) des Neuen deutschen Films gewesen (KATZELMACHER, BRD 1969, SHIRINS HOCHZEIT, BRD 1976), dann das „cinema of duty“ (Göktürk 2007) der 1980er (40 QM DEUTSCHLAND, BRD 1985, ABSCHIED VOM FALSCHEN PARADIES, BRD 1989), gefolgt von spielerischen Verhandlungen von Identität in den 1990ern (BERLIN IN BERLIN, D 1993, ICH CHEF, DU TURNSCHUH, D 1998), bis mit den Filmen der Berliner Schule, etwa von Thomas Arslan, und den Filmen von Fatih Akin Migration und Identität durchgearbeitet werden und schließlich an Bedeutung verlieren (Heidenreich 2015a: 310). Während die 1960er bis 80er das Türkische im deutschen Kino als patriarchale, von archaischen Gesetzen geprägte Kultur etablieren, scheint das türkisch-deutsche Kino in den 2000ern in der postkolonialen und transnationalen Hybridität angekommen. Eine solche lineare Darstellung ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Sie fokussiert in einer repräsentationalen Logik zu sehr darauf, ob Migrant_innen stereotyp dargestellt werden oder nicht, wodurch die Art und Weise, wie über die Filme gesprochen werden kann, von vornherein stark eingeschränkt ist. Es gibt aber, so Alkın, keinen historischen Schnitt, nach dem die ‚negativen‘ Bilder zugunsten von ‚positiven‘ verschwunden wären, wie etwa an dem in dieser Hinsicht verstörenden Film DIE FREMDE (D 2010) von Feo Aladag zu sehen (Alkın 2017: 5). Deutsch-türkische Filmkultur im Migrationskontext erweitert die Diskussion des türkisch-deutschen Kinos daher mit Untersuchungen transnationaler filmgeschichtlicher und Produktionsbeziehungen, mit Genre- und Motivanalysen, die andere Filme in den Blick rücken, z.B. jene des Yeşilçam-Kinos, die zeitgleich in der Türkei entstehen und die sich mit der türkisch-deutschen Migrationsgeschichte befassen (ebd.: 10f.).
Neben der notwendigen Erweiterung von Filmkorpus’ und Analyseperspektiven stellt sich jedoch auch die Frage, wie zu verstehen ist, dass die gängige Darstellung des postmigrantischen Films ein ‚Ziel‘ „spielerischer Identitätsdiskurse um Ethnizität und Geschlechterbilder“ formuliert, das sich im Laufe der filmhistorischen Entwicklung, insbesondere in den sogenannten „Integrationskomödien“ zu verwirklichen scheint. Alkın fragt, wie sich diese dominante Repräsentationsweise zu einer von Rassismus geprägten außerfilmischen Realität verhält:
Deutet das Missverhältnis zwischen der vornehmlich gewordenen Repräsentation von transkulturellen Subjekten in den filmischen Integrationskomödien im Verhältnis zu jenen, zumeist unsichtbaren rassistischen Dynamiken nicht auf eine Verkennung des ästhetisch-künstlerischen Potenzials des Films hin, das über seine Repräsentationsfunktion hinausgeht? (ebd.: 6)
Beschäftigt sich das postmigrantische Kino nicht mit Rassismus? Werden die ästhetisch-künstlerisch angemessenen Filme nicht gedreht? Und wie sähen diese aus? Oder findet auf der Ebene der Ästhetik die Auseinandersetzung mit Rassismus in indirekter Weise bereits statt, auch wenn Handlung und Genre dies nicht nahezulegen scheinen? Kann Marks’ nicht-repräsentationale Perspektive für ein besseres Verständnis eines solchen indirekten Wissens hilfreich sein?
Ermöglicht es Marks’ Konzept des interkulturellen Kinos, über das Verhältnis von Film und Rassismus auf nicht-repräsentationale Weise nachzudenken? Marks distanziert sich von der frühen feministischen Filmtheorie mit einem Vokabular der filmischen Oberfläche und der kulturellen Übersetzung. Ein wesentlicher Unterschied zur frühen feministischen Filmtheorie besteht im Status des Blicks und des Visuellen. Film ist für Marks nicht in erster Linie visuelles bzw. Blick-, sondern synästhetisches, „multisensorisches“ Medium, dessen eigentliche Bedeutung nicht auf der Ebene der Zeichen zu finden sei, sondern in der körperlichen Wahrnehmung und im mimetischen Erleben (Marks 2000: xvii). In Übereinstimmung mit etwa dem Affektbegriff Brian Massumis bezieht sie sich auf körperliche Reaktionen, die das Kino hervorrufe, bevor eine repräsentationale und identifikatorische Deutung einsetzt (ebd.: 177). Sie nennt dies haptische Visualität im Gegensatz zu einem konventionellen Verständnis distanzierter Sichtbarkeit. Der Gewinn von Marks’ Konzept besteht in der Beschreibung eines körperlichen Erlebens von Film während seiner Rezeption, was Marks als haptische Interaktion bezeichnet.
Interkulturelles Kino bringt, so Marks, das Haptische im Kino in besonderer Weise hervor. Marks begründet dies zunächst mit einer relativ einfach gedachten Beziehung zwischen Erfahrung und Ästhetik. Als interkulturelles Kino versteht sie in The Skin of the Film eine lose Gruppe diasporischer angloamerikanischer und europäischer Filme und Videos aus den 1980er und 90er Jahren, die sich durch eine eher experimentelle Ästhetik auszeichnen, zum Beispiel Rea Tajiris HISTORY AND MEMORY: FOR AKIKO AND TAKASHIGE (USA 1991), Atom Egoyans CALENDAR (AM/CDN 1993) oder Julie Dashs DAUGHTERS OF THE DUST (USA 1991). Diesen inhaltlich und formal sehr unterschiedlichen Beispielen sei der Bezug zu einer spezifischen diasporischen Raum-Zeit-Erfahrung gemeinsam:
Intercultural cinema is characterized by experimental styles that attempt to represent the experience of living between two or more cultural regimes of knowledge, or living as a minority in the still majority white, Euro-American West. The violent disjunctions in space and time that characterize diasporan experience – the physical effects of exile, immigration, and displacement […] cause a disjunction in notions of truth. Intercultural films […] must suspend the representational conventions that have held in narrative cinema for decades, especially the ideological presumption that cinema can represent reality […]. Formal experience is thus not incidental but integral to these works (ebd.: 1).
Die besondere Affinität zwischen interkulturellem Kino und haptischer Visualität sei also auf die Gleichzeitigkeit mindestens zweier Wissensregime zurückzuführen, wobei sich diese in einem (hierarchischen) Mehrheits- und Minderheitsverhältnis zueinander befinden. Außerdem sei das interkulturelle Kino durch die Erfahrung gewaltvoller Brüche im Zeit- und Raumempfinden geprägt. Die besondere Haptik des interkulturellen Films scheint also hier auf die Wirkmächtigkeit systemischer Gewaltverhältnisse in der Diaspora zurückführbar zu sein. Dies ist hinsichtlich der Frage nach dem Ort filmischer Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt aufschlussreich. Die von Brüchen und Trennungen bestimmte diasporische Erfahrung zweier schwer zu vereinbarenden Realitäten habe wesentliche Konsequenzen für Wissen, Wahrheit und visuelle Repräsentation, die nicht durch konventionelle Darstellungsformen wiedergegeben werden können. Exil, Immigration und Vertreibung korrespondieren daher mit einer Ästhetik der Inkohärenz, der Leerstellen und Nicht-Linearität, Materialität und Synästhetik werden im Gegensatz zu gegenständlichen Darstellungen und Identifikationsangeboten betont. Haptische Visualität tritt an die Stelle transparenter Visualität und kohärenten Sprechens, aufgrund eines konstitutiven Unvermögens der Artikulation und Vermittlung:
Consequently, I argue, many works of intercultural cinema begin from the inability to speak, to represent objectively one’s own culture, history, and memory; they are marked by silence, absence, and hesitation. All these works are marked by a suspicion of visuality, a lack of faith in the visual archive’s ability to represent cultural memory (ebd.: 21).
Die spezifische haptische Qualität des interkulturellen Kinos, die zu einem spezifischen Erleben in der Rezeption führt, ist also an eine gewaltvolle diasporische Erfahrung gebunden, die sich in einer spezifischen Ästhetik der Brüche, Inkohärenzen und Auslassungen vermittelt. Für einen Teil des interkulturellen bzw. diasporischen Kinos trifft diese Affinität zu experimenteller Ästhetik bzw. haptischer Visualität bestimmt zu. Im europäischen und deutschsprachigen Raum sind entsprechende Projekte und Studien zu Ästhetik und Kunst der Migration entstanden (Bal 2008, Gutberlet/Helff 2011, Heidenreich 2015b). Marks’ Herangehensweise ist jedoch problematisch, weil sie diasporische Erfahrung in tendenziell fetischisierender und ethnisierender Weise mit einem ontologisch anderen „kulturellen Sensorium“ ersetzt. Dies geschieht in dem Versuch, interkulturelles Kino als ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft zu erfassen. Eine spezifische Haptik wird nicht mehr auf eine gewaltvolle diasporische Erfahrung zurückgeführt, sondern auf letztlich „kulturelle Unterschiede“. Diese Verschiebung scheint in dem Versuch motiviert, Gewalt- und Machtverhältnisse weniger statisch zu denken:
[Intercultural cinema] avoids the problem of positing dominant culture as the invisible ground against which cultural minorities appear in relief. Instead it implies a dynamic relationship between a dominant „host“ culture and a minority culture. Certainly the dominant in the cases I discuss is almost always the hegemonic, white, Euro-American culture. But the site of power is always sliding and its agents regrouping, and to discuss cinema as a relation between cultures makes room for a variety of „hosts“, destinations, and sites of power (Marks 2000: 7).
Marks will vermeiden, ein hierarchisches Verhältnis zwischen Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft zu reproduzieren. Letztlich wird jedoch einseitige Dominanz nicht nur situativ relativiert bzw. differenziert, sondern das Verhältnis wird umgekehrt, ausgehend von einer homogen gedachten euro-amerikanischen Wahrnehmung, die distanziert-rationale Visualität privilegiere: „Intercultural cinema […] aims to represent configurations of sense perception different from those of modern Euro-American societies, where optical visuality has been accorded a unique supremacy“ (ebd.: xiii). Nicht-westliche Gesellschaften seien durch ein anderes „kulturelles Sensorium“ geprägt (im binären Gegensatz zum euro-amerikanischen). Differenz in der Wahrnehmung und im Wahrheitsregime ist hier nicht mehr Folge einer spezifischen Konfrontation mit systemischer Gewalt, sondern auf eine kulturalistische, rassifiziert-ethnisierte Andersheit zurückzuführen.6
Auf den Film übertragen ermöglicht die Vorstellung einer „sensory difference“, das hierarchische Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft in sein Gegenteil umzukehren. Dies geschieht durch mimetische Zuschauer_innenschaft, Marks wesentliche, phänomenologisch argumentierende Ergänzung zur Deleuzschen Filmtheorie. In der körperlichen, „mimetischen“ Beziehung erweitere und vervollständige der Körper der Zuschauer_in den Filmkörper, dabei funktioniere er selbst wie ein Medium. Die Zuschauer_in übersetze im sinnlichen Erleben die Bedeutung des Films: „Spectatorship is thus an act of sensory translation of cultural knowledge.“ (ebd.: 153) Das mimetische Betrachten hebe ein hierarchisches Subjekt-Objekt-Verhältnis und damit ein Verhältnis visueller Herrschaft auf (ebd.: 184f.). Der Sinnes-Schock, wie Marks in Bezug auf Benjamin formuliert, produziere neue Wissensformen und Subjektivitäten (ebd.: 195), wodurch, so wäre zu schlussfolgern, die westliche Zuschauer_in von einem distanzierten Sehen befreit wird und multisensorische Sinnlichkeit (zurück?) erlangt. Trotz bzw. aufgrund der überhöhenden positiven Bewertung kulturspezifischer filmischer Sensorien, werden diasporische Subjekte bei Marks als grundsätzlich anders hypostasiert. Abgesehen von der Frage, wie es politisch einzuschätzen ist, dass Marks, von ihr selbst als gewaltvoll charakterisierte, diasporische Erfahrung letztlich als Instrument der sinnlichen Erneuerung der Mehrheitsgesellschaft denkt – inwiefern legen die betrachteten Filme eine solches Verständnis nahe? In Marks’ Darstellung geht das spezifische politische und rassismuskritische Potenzial der besprochenen Filme verloren, wie z.B. an der Diskussion von HISTORY AND MEMORY zu sehen ist.
HISTORY AND MEMORY. FOR AKIKO AND TAKASHIGE hat die Internierung tausender japanischer Amerikaner_innen, darunter die Familie der Filmemacherin, nach dem Angriff japanischer Streitkräfte auf Pearl Harbor 1941 zum Thema. Die Existenz der Lager wurde bis in die 1970er Jahre offiziell bestritten (Curtis 2002: 44). HISTORY AND MEMORY thematisiert die Erfahrung der Vertreibung und Sprachlosigkeit, nach Marks zentrale Elemente des interkulturellen Films. Der Film vermittelt ein Misstrauen gegenüber der Glaubwürdigkeit visueller Dokumente, seine Form kann als Ästhetik der Leerstellen bezeichnet werden.
Marks bezieht sich in ihrer Betrachtung des Films unter anderem auf die auratisch aufgeladenen Objekte (ein handgeschnitzter Vogel, ein traumähnliches Bild der Mutter an einem Wasserhahn, das der Filmemacherin immer wieder erscheint), die, keiner linearen Narration folgend, für die fehlenden Erinnerungen der Familienangehörigen stehen (Marks 2000: 33). Neben diesen Bildern haptischer Visualität wird jedoch eine Vielzahl anderer visueller, historischer und aktueller Materialien eingesetzt, Ausschnitte aus Hollywoodfilmen und japanische und US-amerikanische Nachrichtensendungen, in denen die Existenz der Lager geleugnet oder verharmlost oder auch das Leugnen selbst thematisiert wird, geheime Super-8-Aufnahmen aus den Lagern, inszenierte Szenen und dokumentarische Aufnahmen der Gegenwart. Der Film ist von einer überwältigenden audiovisuellen Informationsdichte und Multiperspektivität (Curtis 2002: 45). Für Marks stehen die offiziellen und kommerziellen Bilder und die vom Vergessen gekennzeichneten Fragmente privater Erinnerung jedoch unverbunden nebeneinander, erstere repräsentierten lediglich das Fehlen angemessener Dokumentation (Marks 2000: 33). Sie scheinen ohne Bedeutung für das Familiengedächtnis. Marks privilegiert die flüchtigen, haptischen Bilder der Abwesenheit gegenüber Bildern der Anwesenheit letztlich als (unbelegbar) ‚wahr‘ und (dadurch erst) ‚angemessen‘. HISTORY AND MEMORY unterläuft jedoch jeglichen Wahrheitsanspruch, wie Robin Curtis in ihrer Analyse des Films schreibt, denn auch die vermeintlich angemesseneren Bilder flüchtiger, sinnlicher Erinnerung werden infrage gestellt (Curtis 2002: 62). Gerade die Ununterscheidbarkeit von wahr und falsch ist signifikant für die epistemologische Erschütterung der „notions of truth“ in der diasporischen Erfahrung, die Marks voraussetzt. Dies gilt aber eben auch für ‚unschuldigen‘, haptischen Bilder.
Marks Konzepte des interkulturellen Kinos und der haptischen Visualität sind hilfreich, um eine spezifische epistemologische Erschütterung diasporischer Erfahrung für die Betrachtung von Kino heranzuziehen und die synästhetischen Eigenschaften des Kinos zu berücksichtigen. Beide Aspekte zusammenzuführen ist vielversprechend. Ist dies möglich, ohne ethnisierte und rassifizierte Differenz zu hypostasieren und stattdessen dominante und marginalisierte Bilder im Verhältnis zueinander zu berücksichtigen? Marks’ Fokus auf das haptische Erleben der Zuschauerin scheint mir nur bedingt hilfreich für ein nicht-repräsentationales Verständnis interkulturellen bzw. postmigrantischen Films. Stattdessen schlage ich vor, mit Rey Chows Konzept des postkolonialen Films als Autoethnografie und kulturelle Übersetzung, zur frühen feministischen Filmtheorie zurückzukehren und diese in modifizierter Weise in Hinblick auf die postkoloniale bzw. postmigrantische Situation weiterzudenken.Chow schlägt vor, postkoloniale Filme als Autoethnografien zu verstehen, die ein Wissen um einen früheren, kolonialen Objektstatus der ‚eigenen‘ Kultur enthalten, das „wie ein optisches Unbewusstes“ einen vorrangigen Aspekt nicht-westlicher Selbstrepräsentation darstelle (Chow 1995: 152f.). Chow bezeichnet dieses Wissen als Wissen des „Angesehen-Werdens“ („to-be-looked-at-ness“). Sie bezieht sich dabei explizit auf Mulveys Analyse hierarchischer Blickstrukturen, aber sie zieht eine weitere Blickebene ein, so dass die Subjekt-Objekt-Beziehung weniger statisch erscheint (Chow 1995: 153). Das Angesehen-Werden ist nicht, wie im patriarchalen Film der frühen feministischen Filmtheorie ungebrochen, sondern selbst (unbewusster) Gegenstand des postkolonialen Films – hierin besteht die wesentliche, über eine einfache Repräsentationslogik hinausgehende konzeptionelle Erweiterung bei Chow.
Was damit gemeint ist, kann das Beispiel eines Films veranschaulichen, der Rassismus explizit thematisiert und zugleich auf unsichtbare Weise von einem vorausgehenden Wissen des postmigrantischen Subjekts strukturiert ist. Fatih Akins AUS DEM NICHTS (D 2017) basiert auf den zehn Morden des neofaschistischen NSU zwischen 2000 und 2006. Der Film nimmt viele Elemente des realen Geschehens auf. Die rassistischen polizeilichen Ermittlungen werden thematisiert, die Frage der Involviertheit staatlicher Behörden wird angesprochen, das vor kurzem beendete Gerichtsverfahren vorweggenommen. Auffällig ist, wie das die Handlung leitende Motiv der Rache inszeniert wird. Bilder sich rächender Türk_innen kursierten in den Jahren der Ermittlungen. Rechte Gewalt sei, so heißt es rückblickend, nicht erkennbar gewesen, stattdessen wurden von Seiten der Ermittler_innen ‚Ausländerkriminalität‘ und private Rachehandlungen vermutet, eine rassistische Rahmung der Morde, die von der deutschsprachigen Presse an die mediale Öffentlichkeit weitergegeben wurde (Figge/Michaelsen 2015). AUS DEM NICHTS erzählt die Geschichte von Katja, deren türkisch-deutscher Ehemann und Sohn in einem den NSU-Attentaten ähnlichen Bombenanschlag getötet werden und die, sich an den Neonazis für den gewaltvollen Verlust ihre Familie rächend, selbst zur Bomben-Attentäterin wird. Auf die Frage, warum er in AUS DEM NICHTS eine „blonde, herkunftsdeutsche Frau“ ins Zentrum der Geschichte rückt, antwortet Akin, er habe eine ethnisierende Rezeptionsweise verhindern wollen:
Um das Motiv der Rache eben nicht in eine kulturelle Ecke zu schieben. Wenn ich die Hauptrolle nicht mit Diane Krüger, sondern mit dir [Fatma Aydemir, Redakteurin bei der taz] besetzt hätte, dann wäre die Reaktion des Publikums: Ja klar, die Kanaken sind eben so, die haben das im Blut. Dieses Vorurteil wollte ich nicht bedienen. Mir ging es eher darum, zu sagen: Rache ist so alt und so tief im Menschen verankert, sie ist Teil unserer Evolution. […] Das hat nichts mit dem Nahen Osten zu tun, Rache ist nichts Ethnisches (Aydemir 2017).
Ein repräsentationskritisches Vorgehen würde diskutieren, wie angemessen die Wahl der Hauptfigur in Bezug zum realen Geschehen ist, was nicht falsch ist. Es ist jedoch möglicherweise für das Verhältnis von Film und Rassismus aufschlussreicher zu fragen, wie eine Rassismus bedingte Vorstrukturierung des Darzustellenden Inhalt und Ästhetik des Films bestimmt. Akin formuliert ein Wissen um das Angesehen-Werden des muslimisch/türkischen-deutschen Subjekts, das ihn zur Wahl seiner Hauptfigur veranlasst hat. Dieses Wissen stellt die indirekte Voraussetzung dafür dar, wie in dem Film rassistischer Terrorismus thematisiert wird. Die Wahl der Hauptfigur ist aus dieser Perspektive mit Chow keine Frage richtiger oder falscher Repräsentation. Sie ist stattdessen in Bezug auf ein vorausgehendes Wissen um Rassismus aufschlussreich, das die Entscheidung für diese oder jene Repräsentationsform bestimmt.
Der postkoloniale Film ist bei Chow diskursiver Akteur in einer Situation der „anthropologischen Blockade“ („deadlock of the anthropological situation“). Damit bezieht sich Chow auf das Bemühen westlicher Anthropolog_innen, „fremde“ Kulturen zu untersuchen, und in diese „einzutauchen“. Dabei werde vergessen, dass ihre Präsenz zwangsläufig den Forschungsgegenstand verändere, was wiederum aufgrund moderner globaler westlicher Wissensautorität dazu führe, dass sich Mitglieder der ‚fremden‘ Kultur auf dieses immer schon ‚verunreinigte‘ Wissen beziehen müssen, um ihre ‚eigene‘ Kultur zu erklären. Chow fasst dies als Grundannahme postkolonialer Kritik zusammen: Wir können den Nicht-Westen (von keinem Ort aus) denken, ohne ihn in einem gewissen Maß zu anthropologisieren. Jeder Akt der kulturellen Übersetzung ist zwangsläufig von dieser Asymmetrie geprägt (ebd.: 150). Der postkoloniale, autoethnografische Film ist für Chow daher Übersetzung eines immer schon vorausgehend verfremdeten Originals. Die Beeinflussung nicht-westlicher Kultur durch den westlichen Blick lässt sich bei Chow im Gegensatz zu Marks nicht umkehren, sie stellt die epistemologische und ontologische Voraussetzung des postkolonialen Films dar. Wie Marks verwendet Chow die Metapher der Übersetzung, die auch Chow nicht als Eintauchen in eine semantische Tiefe versteht. Auf Walter Benjamins Übersetzungstheorie verweisend, heißt Übersetzung bei Chow die Übertragung der Gewaltförmigkeit einer dem Film vorausgehenden Kultur: „[The] translation that is film enables to see how a culture is ‚originally‘ put together, in all its cruelty.“ (ebd.: 167, Hervorhebung i.O.)
Chows Beispiel sind die Filme des postkolonialen Chinas, insbesondere die Filme Zhang Yimous. Es sind im Gegensatz zu Marks’ Privilegierung experimenteller Formen gerade kommerziell global erfolgreiche Filme, die Chow als kulturelle Übersetzungen interessieren. Zhang Yimous Filme werden in China wie auch im Westen dafür kritisiert, sich an einen westlichen Geschmack ‚anzubiedern‘ und insbesondere die weiblichen Figuren zu exotisieren und zu sexualisieren. Der Vorwurf der ‚Anbiederung‘ soll auf einen anhaltenden westlichen kulturellen Imperialismus und die Hegemonie westlicher Standards hinweisen. Chow widerspricht dieser Kritik nicht, aber sie verschiebt die Perspektive auf der Grundlage eines vorausgesetzten postkolonialen Wissens um das Angesehen-Werden, insbesondere der weiblichen Figuren als „modernity’s primitives“ (ebd.: 170). Die Filme Zhang Yimous ‚verraten‘ ihre eigene Kultur nicht in einem politischen Sinne, sondern in einem erkenntnistheoretischen. Gerade die exotistische, kommerzielle Ästhetik verweist auf die Bedingungen von Kulturproduktion in einer postkolonialen Welt: „In the display windows of the world markets, such ‚primitives‘ are the toys, the fabricated play forms with which less powerful (cultures) negotiate the imposition of the agenda of the powerful. They […] cast light on the original that is our world’s violence“. Dies ist nicht als zynischer oder kulturpessimistischer Kommentar zu verstehen, denn die Filme seien, wie Chow in Anlehnung an Benjamin formuliert, Passagen „toward survival in the postcolonial world“ (ebd.). Der kommerzielle Erfolg der Filme ist Lohn dafür, die Anforderungen des westlichen Blicks zu erfüllen, nicht im Sinne von Belohnung, sondern von Lebensunterhalt.
Der Kritik an den Filmen Zhang Yimous vergleichbar, schreibt Marks in Bezug auf die Filme von Mira Nair:
Both political and experimental cinema movements have always been suspicious of mass circulation, and making commercial cinema still involves significant compromises. The rise of director Mira Nair to panderer of cultural exoticism for white audiences […] is but one example of how the commercialization of multiculturalism tends to evacuate its critical effects (Marks 2000: 4).
Ist in diesem Vorwurf der Anpassung an einen „kulturellen Exotismus eines weißen Publikums“ und der „Entleerung von Kritik“ nicht eine ähnliche Einsicht in das Wissen um die Hierarchie zwischen westlicher Betrachter_in und nicht-westlichem Blickobjekt enthalten, eine Einsicht, die für Chow einen Gewinn des kommerziellen Films darstellt? Für Chow bildet sich die koloniale Geschichte des Angesehen-Werdens strukturell auf der exotisierenden Oberfläche der Filme ab.7 Sie stellt eine Verbindung zwischen postkolonialer Erfahrung und Film her, die keine essentialisierende Unterscheidung kultureller Sensorien erfordert, sondern auf der (nicht notwendiger Weise beabsichtigten) medialen Reflexion, oder vielmehr Diffraktion, der Brechung, eines dominanten Blicks unter Voraussetzung subalternen Wissens beruht.
Für Chow enthält der postkoloniale Film ein immer schon zumindest unbewusst vorausgehendes Wissen um einen objektivierenden westlichen Zuschauer_innenblick. Sie findet dieses Wissen auf der (kommerziellen) ästhetischen Oberfläche des Films. Wie verändert sich mit Chow die Diskussion des postmigrantischen Films? Wie wäre etwa Tevfik Başers 40 QM DEUTSCHLAND einzuschätzen, der in der gängigen Darstellung des türkisch-deutschen Films als zu überkommende ‚Urform‘ gilt?8 Auch hier scheinen die Frauenfiguren als „modernity’s primitives“. Auch Başers Film ist als kultureller Verrat bezeichnet worden, als „cinema of duty“, das sich mit den rassistischen Bildern einer archaischen, gewaltvollen, patriarchalen türkischen Kultur den Bedingungen deutscher Filmförderung gebeugt habe (Göktürk 2007: 333). Die türkische Frau als „doppelte Fremde“ sei darin Opfer sowohl türkischer Männer als auch einer überlegenen deutschen Kultur, unfähig zu kommunizieren, stumm (ebd.: 336). Der Erfolg von 40 QM – er wurde 1987 für den Bundesfilmpreis nominiert, die Filmmusik und die Hauptdarstellerin Özay Fecht wurden ausgezeichnet – zementiere den „subnationalen Status von Ausländerkultur“ (ebd.: 334). Aus Chows Perspektive benennt Göktürk die realen ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen türkisch-deutscher Filmproduktion, einschließlich der doppelten Opferung der türkischen Frau.9 Wird dies nicht als Aussage über eine authentische türkische, sondern über die Situation türkisch-deutscher Kultur verstanden, dann ist darin die gewaltvolle Zusammensetzung des kulturellen Originals, das postmigrantische Deutschland, zu erkennen, einschließlich einer jahrzehntelangen diskursiven Zentrierung der Kopftuch tragenden türkischen (heute muslimischen) Frau, bis hin zu deren gegenwärtigem faktischen Berufsverbot.10 Mit Chow ist 40 QM nicht als korrekte oder inkorrekte Darstellung türkisch-deutscher Kultur zu verstehen, sondern als (unbewusste) postmigrantische Auseinandersetzung mit einem mehrheitsdeutschen Blick auf das, was als türkisch-deutsche Kultur gilt. Am Ende geht es also vielleicht nicht so sehr darum, sich von repräsentationalen Analysen zugunsten Ästhetik, Materialität und Affekt abzuwenden, was auch bedeutet das Projekt der frühen feministischen Filmtheorie als überholt zu bewerten. Stattdessen wäre mit Chow Repräsentation nicht nur als Frage angemessener oder unangemessener Bilder zu diskutieren. Darüber hinausgehend wäre zu fragen, wie sich auf der Ebene des Ästhetischen, Materiellen und Affektiven ein indirektes Wissen um den gewaltförmigen Ursprung dieser oder jener Bilder zeigt.
Lässt sich noch mehr über 40 QM sagen, als dass er seine eigenen Produktionsbedingungen ausstellt? Für Göktürk besteht kein Unterschied zwischen Başers 40 QM und etwa Hark Bohms YASEMIN (BRD 1988), sie folgen den selben Förderungs- und Produktionsbestimmungen und stellen gleichermaßen die türkische Frau als doppeltes Opfer dar (ebd.: 336). 40 QM unterscheidet sich aber in vielerlei Hinsicht von thematisch ähnlichen Filmen. Er ist z.B. konsequent aus der Perspektive Turnas, der weiblichen Hauptfigur gedreht. Viel zu wenig beachtet wird auch seine groteske Absurdität, wenn etwa Turnas Ehemann Dursun am Ende noch als Toter den Weg in die Freiheit versperrt (seine nackte Leiche blockiert die Wohnungstür, die Turna unter enormer Kraftanstrengung überwindet). Überhaupt wird die Darstellung Turnas als stummes Opfer der Komplexität der Figur nicht gerecht. Auch eine genauere Betrachtung der klaustrophoben und visuell wie akustisch expressiven Ästhetik steht noch aus. Im Unterschied zu vergleichbaren Filmen hält die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft in 40 QM eine fragwürdige Freiheit bereit. Die Kritik konzentriert sich auf das Verhältnis zwischen Turna und Dursun und übersieht dabei die Interaktionen mit der mehrheitsgesellschaftlichen Umgebung, auf die schon der Titel hinweist. 40 QM DEUTSCHLAND können sowohl als von Deutschland isolierter Raum, wie auch als Teil eines in einem postmigrantischen Sinn ‚migrantisierten‘ und rassistisch strukturierten Deutschlands verstanden werden. Die weißen deutschen Figuren, die Turna durch Fenster und zwischenzeitlich geöffnete Türen erlebt, pöbeln und trinken. Ihre unmittelbaren Nachbar_innen, alleinstehende Senior_innen, sind auf andere Weise isoliert, sprachlos und immobil. Das Mädchen im Nachbarhaus, mit dem Turna sich durch Gesten verständigt (die einzige positive Begegnung im Film) ist ebenfalls ‚eingesperrt‘, es läuft mit Krücken und wird von der Mutter dazu angehalten, vom Fenster wegzugehen. Der Kontakt zu der fremden Frau im Nachbarhaus wird untersagt. Das Gefühl klaustrophobischer Bedrohung und Sprachlosigkeit, das den Film charakterisiert, entsteht nicht nur durch die Darstellung patriarchaler Gewalt, sondern auch durch die Darstellung dessen, was die 40 Quadratmeter umgibt, als space-off im Film angedeutet. Teresa de Lauretis’ Begriff, der die nicht im Filmbild enthaltene, aber davon ableitbare, für das Gezeigte konstitutive Umgebung (Kamera und Zuschauer_in) bezeichnet (de Lauretis 1987: 26), wäre um die Dimension der gesellschaftlichen Umgebung zu erweitern. 40 QM ist nicht nur, mit Chow, indirekt von einem Wissen um das Angesehen-Werden strukturiert, das sich in der stereotypen Darstellung des Geschlechterverhältnisses vermittelt. Er zeigt den objektivierenden Blick auch direkt.
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