Zur Materialität von Anschlagzetteln und Besetzungsbüchern am Schauspielhaus Düsseldorf (1905–1933)
Was neben Tintenklecksen und zwischen ausgestrichenen Namen steht und erstmal nur verwaltungsrelevant war, begegnete später den Besucher*innen des Schauspielhauses Düsseldorf beim Weg ins Theater: Besetzungslisten. Im Dumont-Lindemann-Archiv der Landeshauptstadt Düsseldorf (DLA), das dem Theatermuseum (TMD) angegliedert ist, befinden sich für die Jahre 1905 bis 1932 insgesamt sechs Besetzungsbücher, die für alle gespielten und geplanten Produktionen am von Louise Dumont und Gustav Lindemann 1904 gegründeten und 1905 eröffneten Schauspielhaus die jeweiligen Besetzungen, Doppelbesetzungen, Umbesetzungen etc. dokumentieren. Zugleich liegen im DLA nahezu alle Anschlagzettel der Spieltage des 1933 geschlossenen Theaters vor.1 Diese Theaterzettel2 waren unter anderem am Eingang des Schauspielhauses angeschlagen und gaben Auskunft über die Veranstaltungen am jeweiligen Tag. Darüber hinaus wiesen sie für die Inszenierungen die tagesaktuellen Besetzungen aus und bewarben Veranstaltungen der kommenden Tage. Sie adressierten somit nicht nur die Aufführungs-besucher*innen, sondern auch Passant*innen, die man noch zum Kartenkauf überreden musste.
Theaterzettel und Programmhefte sind zentral für die theaterhistorische Forschung. Oft werden sie dabei aber lediglich zur Auskunft über faktische Informationen verwendet. Für diese Perspektive theaterhistorischer Forschung dienen Besetzungslisten lediglich als Quelle für empirische Informationen: Wer spielte wann was? Die Theaterhistorikerin Jacky Bratton stellt daher ernüchtert fest: „playbills [Theaterzettel] are a very unimaginatively used resource.“ (2003: 39) Dabei ermögliche gerade ein frischer Umgang mit Theaterzetteln, den Erfahrungen der historischen Besucher*innen, den „expectations and disposition of the audience“, nachzuspüren (ebd.). Um Anschlag-, Besetzungs- und Theaterzettel jedoch als Zeitzeug*innen von theaterhistorischen Erfahrungen zu betrachten, ist es notwendig, sich von der allzu singulären Fokussierung auf die Theaterwissenschaft als einer Wissenschaft der Aufführung zu verabschieden. Wenn die Aufführung im Sinne Erika Fischer-Lichtes sich nur in der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur*innen und Publikum ereignet (Fischer-Lichte 2004), spielen Theaterzettel nur dann eine Rolle, wenn man sie im Dunkel der Aufführung studiert. An anderer Stelle habe ich daher vorgeschlagen, die Erfahrungen des Publikums als Erfahrungen von Theaterbesucher*innen zu betrachten (Förster 2025). Bei solch einer Perspektive wären die Vorbereitung auf den Abend, z.B. der Weg ins Theater, oder die Nachbereitung, z.B. die Lektüre des Programmhefts, ebenso analytisch zu betrachten wie die Erfahrungen während der Aufenthalte in den Foyers oder das Studieren und Betrachten von Besetzungslisten auf dem Heimweg. Von Interesse wäre dann auch, wann und wo Theaterbesucher*innen überhaupt mit Besetzungslisten in Berührung kommen: Zum Beispiel beim Weg ins Theater, beim Sichten des Anschlagzettels am Eingang oder bei der Lektüre des Abendzettels in der Pause.3
Diverse Formen von Besetzungslisten – vor allem im methodischen Zusammenspiel – lassen zudem Rückschlüsse auf institutionelle Praktiken und Prozesse zu. Von Interesse ist dabei die sie auszeichnende Temporalität: Besetzungsbücher entstehen vor Probenbeginn, danach lassen aufbewahrte Probenbücher wie diejenigen im DLA Rückschlüsse auf den Produktionsprozess zu. Die Anschlagzettel markieren den abgeschlossenen Produktionsprozess zur Premiere, öffnen die Abgeschlossenheit jedoch direkt wieder für Umbesetzungen zu späteren Zeitpunkten. Die Materialien gewähren somit Einblicke in einen historischen künstlerischen Verwaltungsapparat, für den sich die theaterhistorische Forschung bisher nur peripher interessierte. Da sich die Theaterwissenschaft seit einigen Jahren jedoch vermehrt institutionellen Fragen des Gegenwartstheaters zuwendet, können bisher vernachlässigte oder übersehene Materialien in Sammlungen und Archiven – wie die verschiedenen Formen von Besetzungslisten – neu in den Blick geraten.
In diesem Aufsatz werde ich einige Perspektiven des forschenden Umgangs mit Besetzungslisten darlegen. Die einzelnen Kapitel sind dabei eher als Skizzen zu verstehen, die zu neuen Methoden im Umgang mit den verschiedenen Formen, in denen Besetzungslisten an Theatermacher*innen und -besucher*innen vermittelt werden, anregen sollen. Im ersten Schritt werde ich die Besetzungsbücher in ihrer konkreten Materialität untersuchen: Mit welchen Stiften wurde in welche Bücher geschrieben und welche Fragen ergeben sich daraus zu historischen Praktiken? Im zweiten Schritt wende ich mich der Gestaltung und dem Aufbau der bis 1922 verwendeten Anschlagzettel am Schauspielhaus zu. Zentral wird hierbei die Perspektive der potentiellen Besucher*innen sein, die über die leichte Lesbarkeit der Zettel zum Besuch motiviert werden sollten. Im dritten Schritt bilden die verschiedenen Formen von Besetzungslisten den Ausgangspunkt, um bisher übersehene und vergessene Künstler*innen kennenzulernen. Ich werde mich dazu dem Schauspieler und Tänzer Ernst Heimrath widmen und seine Karriere zwischen Schauspielhaus und freiem Schaffen als Solotänzer im methodischen Dialog mit verschiedenen Spielarten von Besetzungslisten betrachten.
Das erste Besetzungsbuch des Schauspielhauses Düsseldorf grüßt die Nutzer*innen auf dem Schmutztitel mit einem großen „Mit Gott“. Obwohl der Gruß handschriftlich anmutet, handelt es sich um einen Druck, der standardmäßiger Teil der Notizbücher der Druckerei Edler & Krische aus Hannover war. Edler & Krische war auf Geschäftsbücher spezialisiert; das Schauspielhaus erstand das Buch wiederum bei C. G. Blanckertz auf der Königsallee oder in der Hubertusstraße. Vergleichbare Bücher wurden von der Schauspielhaus-Verwaltung auch für andere künstlerische und kaufmännische Verwaltungsvorgänge genutzt. Das Buch ist mit einer einfachen schwarzen Pappe eingeschlagen, darauf steht, handschriftlich ergänzt, „Besetzungsbuch“. Auf dem Buchrücken wurde später die Nummerierung ergänzt – vermutlich erst beim Übergang ins Archiv.
Obwohl das Schauspielhaus am 28. Oktober 1905 mit einer Inszenierung von Friedrich Hebbels Judith in der Regie von Lindemann eröffnet wurde, ist auf der ersten Seite die Besetzung für Friedrich Schillers Kabale und Liebe (Premiere: 30. Oktober 1905) gelistet. Alle Einträge sind handschriftlich. Über der ersten Zeile steht der Stücktitel, ungefähr doppelt so groß wie die anderen Informationen und mit schwarzer Tinte geschrieben. Rechts daneben, in Tinte, „Regie“, wiederum daneben, dies nun mit Bleistift, „Lindemann“. Die Seiten des Notizbuchs wurden liniert bedruckt geliefert. Für die Besetzung wurde aus der linierten Seite dank einer hinzugefügten vertikalen Linie in der Mitte der Seite eine strukturierte Liste. In der linken Spalte wurden mit Tinte die Rollen aus Schillers Stück notiert, in der rechten Spalte finden sich zu den Rollen jeweils Namen der Schauspieler*innen des Ensembles. Diese sind nur mit Bleistift vermerkt, um notfalls Korrekturen vornehmen zu können. Wie man der Vielfalt der Schriftbilder entnehmen kann, wurden die Besetzungseinträge von unterschiedlichen Mitarbeiter*innen vorgenommen. Für einige Schauspieler*innen waren zudem Zweitbesetzungen eingeplant, die in runden Klammern angegeben wurden (und später in einer nochmals separaten Spalte notiert wurden). Neben fünf Rollennamen sind kurze Linien zu erkennen, die eventuell zum Abhaken verwendet wurden. Der größte Buchstabe auf dieser Seite ist ein mit Bleistift geschriebenes „R“, gefolgt von einem Punkt. Diese Markierung findet sich bei nahezu allen Besetzungsplanungen und taucht erst in den letzten zwei Besetzungsbüchern nicht mehr auf. Dieses „R“ könnte für eine Art Abnahme oder Freigabe stehen und möglicherweise eine Abkürzung für das Wort „Regie“ sein.
Das Besetzungsbuch mag lediglich Listen enthalten und gewährt scheinbar nur Auskünfte über konkrete Informationen. In einer genauen Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es aus historischer Sicht ebenso viele Fragen wie Antworten enthält. Denn es war eingebunden in die institutionellen Praktiken der Organisation künstlerischer Arbeit am Schauspielhaus Düsseldorf. So kann die Nutzung der „R“-Markierung nur vermutet werden und auch die Verwendung verschiedener Farben an anderer Stelle mag früher Sinn ergeben haben, wirkt nun jedoch eher zufällig. Bestimmte Angaben fehlen seltsamerweise in den Besetzungsbüchern: Es gibt keine Premierendaten4, lange Zeit wird nur die Regie festgehalten, Angaben zum Bühnenbild gibt es erst im sechsten Besetzungsbuch, Kostümbildner*innen wurden jedoch nie genannt. Auch Zeitpunkte von Zweit- oder Umbesetzungen wurden nicht nachgehalten. Größtenteils wurden Wiederaufnahmen von Inszenierungen wie neue Inszenierungen behandelt und komplett neu gelistet. Über die Logik der Besetzungsbücher ist es deswegen nicht möglich, zwischen Neuinszenierungen und Wiederaufnahmen zu unterscheiden.
Die Besetzungsbücher geben zudem Auskunft über geplante Inszenierungen. So finden sich in den Büchern immer wieder Listen zu Stücken, bei denen dann keine Besetzung ergänzt wurde oder die sogar durchgestrichen wurden. Dank der Besetzungsbücher wird es möglich, die damals noch kurzfristigen Repertoire-Planungen zu erkennen. In manchen Listen fehlt sogar die Nennung der jeweiligen Regisseur*innen, was wiederum zeigt, dass am Schauspielhaus noch nicht im heutigen Verständnis Inszenierungen geplant wurden. Es gab eine bestimmte Menge an Regisseur*innen, auf die die Stücke aufgeteilt wurden. Welcher Einzelperson die Regie oblag, war für die Zuschauer*innen daher nicht so entscheidend wie heutzutage. Der Wandel hin zum Regietheater vollzog sich zwar parallel zur Geschichte des Schauspielhauses, ergriff dieses aber noch nicht. Denn die Auswahl der Stücke und ihre Darstellung mit talentierten Schauspieler*innen standen hier im Zentrum des Programms. Wie die durchgestrichenen Besetzungslisten jedoch zeigen, konnte auch diese Auswahl der Stücke jederzeit revidiert werden. Im Unterschied zu den Theaterzetteln, die heute im Archiv in Boxen verwahrt werden und einzeln genutzt werden können, verführen die Besetzungsbücher in ihrer Form der gesammelten Listen zum Betrachten von Zusammenhängen. Werden Besetzungsbücher beispielswiese als Alben von Besetzungslisten betrachtet, können sie als „uneinheitliche[s], zerfaserte[s] Gewebe von Kontingenzen“ (Kramer/Pelz 2013: 8) untersucht werden. Gleichzeitig sind sie aus historiografischer Sicht Teil eines materiellen Gewebes, das die komplexe Temporalität institutioneller Kunstproduktion nachvollziehbar macht.5 In ihrer Studie Documents of Performance hat Tiffany Stern darauf hingewiesen, dass die Zusammenstellung frühneuzeitlicher Stücktexte fluide war (2009: 255). Es bedarf daher eines historiografischen Blicks, der sich auf diesen fluiden Charakter einlässt und in den eigenen Betrachtungen entsprechend abbildet. Für die Untersuchung der verschiedenen materiellen Erscheinungsformen von Besetzungslisten im Theater ist es ebenso bedeutsam, Besetzungen als fluide zu verstehen. Das Besetzungsbuch ist Ausdruck einer Besetzungsidee, die in der Institution zirkuliert und sich im künstlerischen Prozess oder aufgrund pragmatischer Bedingungen verändern kann. Anschlagzettel wiederum lassen abgeschlossene Besetzungsprozesse vermuten. Allerdings können beispielsweise aufgrund von Krankheit Umbesetzungen notwendig werden, die wegen ihrer Kurzfristigkeit und der Produktionsprozesse der Zettel auf diesen nicht mehr berücksichtigt werden konnten; oder aber Schauspieler*innen verlassen das Ensemble und werden durch neue ersetzt, so dass Anschlagzettel späterer Aufführungen nicht deckungsgleich mit der Premiere sind. In der Gesamtschau aller Zettel einer Inszenierung wird somit deutlich, dass Besetzungslisten vor der allerletzten Aufführung nie wirklich abgeschlossen sind – und aufgrund ihrer verschiedenen Formate, und dann auch nur punktuell, lediglich den Eindruck von Abgeschlossenheit erwecken.
Die Schauspielerin und Tänzerin Maria „Ria“ Thiele legte zum Gedenken an ihre Karriere ein geradezu monumentales Erinnerungs- und Kritikenbuch an. Mit jungen 16 Jahren begann sie 1920 ihre Schauspielausbildung an der an das Schauspielhaus Düsseldorf angegliederten Hochschule für Bühnenkunst. Aus dieser Zeit stammt ein Gruppenfoto, das sie nachträglich in das Erinnerungs- und Kritikenbuch einklebte. Es zeigt das Schauspielhaus in einer seltenen Frontaufnahme vonseiten der Carl-Theodor-Straße. Die schweren Eingangstüren sind verschlossen, aber zwei große Fenster im ersten Stock sind weit geöffnet. Davor auf den schmalen Balkonen stehen neun junge Menschen – Ria Thiele und ihre Kommiliton*innen – und posieren für die Kamera. Sie ziehen den Blick direkt auf sich. Für zufällige Betrachter*innen der Fotoaktion, die nun herausfinden wollten, ob man diese jungen Menschen auch auf der Bühne bewundern könne, wurden die unscheinbaren Schaukästen zwischen den Eingangstüren interessant. Denn dort wurde man dank der Anschlagzettel über die abendliche Aufführung, ihre Besetzung sowie Aufführungen der kommenden Tage informiert.6 In den Zeitungen hätte man nur den Stücktitel mit zeitlichen Informationen, aber eben nicht die Besetzung, gefunden. Die Zettel sollten aber nicht nur informieren, sondern auch gestalterisch attraktiv sein.
Von 1905 bis 1922 prangte der kursiv gesetzte Schriftzug „Schauspielhaus Düsseldorf.“ in einem mit Blumen, kleinen Ornamenten und zwei griechischen Theatermasken grafisch ausgeschmückten Kasten über jedem Zettel. Der Begriff Zettel mag in Bezug auf die Größe verwirrend sein, denn jeder Anschlagzettel war 36 cm hoch und 24 cm breit. Obwohl die Zettel bei verschiedenen Druckereien gedruckt wurden7, veränderten sie sich im Aufbau nur minimal. Direkt unter dem Schauspielhaus-Logo befinden sich die Datums- und Zeitangaben. Ihnen folgt, in einer großen, fett gedruckten und von Zettel zu Zettel wechselnden Schriftart, der Stücktitel. Im Layout kommt dieser Information demnach die größte Bedeutung zu, schließlich sollte die Neugier auf das Stück den Besuchsgrund darstellen. Dem Stücktitel folgen dann in einer Antiqua der Untertitel mit Autor*in, Angaben zur Übersetzung oder Bearbeitung, manchmal zur Musik und dann, in schmalen Buchstaben, zur Regie oder zum Regieteam. Unter der Überschrift „Personen“ wird dann, meistens in zwei Spalten, die schauspielerische Besetzung der Aufführung aufgelistet. Wieder zentriert und einspaltig befinden sich unter der Besetzung Angaben zu den Schauplätzen und zu Statist*innenrollen sowie unregelmäßig Informationen zu Gestalter*innen und Hersteller*innen von Dekorationen und zur musikalischen Leitung. Eine markante Gerade trennt diesen Bereich von den folgenden Bereichen: Zunächst wurde über die Länge und den Zeitpunkt der Pause informiert, dann nach einer weiteren eingefügten Linie über Beginn und Ende der Vorstellung sowie über die Öffnung der Abendkasse. Bei einigen Zetteln folgen Preisangaben. Grundsätzlich schienen diese jedoch bekannt zu sein, so dass deren Angabe nicht durchgängig notwendig war. Mit diesen Angaben endeten die aufführungsspezifischen Informationen.
Von den wenigen Untersuchungen zu Theaterzetteln entstammen die meisten dem anglophonen Raum und befassen sich mit den „playbills“. Gordon Martin weist darauf hin, dass „Continental Europe never really understood the playbill and did not participate in its development. They considered them along with regular job printing and any typographic whimsy that came along was used in such notices.“ (1963: Abb. 34) Diese Untersuchungen können zwar zur Betrachtung von Zetteln im deutschsprachigen Theater herangezogen werden, allerdings müssen die kulturellen Differenzen mitbedacht werden.8 In seiner Doktorarbeit über Theaterzettel und Programmhefte hält David Robert Gowen beispielswiese fest, dass englische Zettel nach verschiedenen Experimenten der Drucker*innen und Theatermacher*innen ab dem 18. Jahrhundert in der Gestaltung der Zettel relativ konsistent blieben (1998: 56). Dies betraf zum einen die Menge der angegebenen Informationen und zum anderen die typografische Ausgestaltung. Mit der zunehmenden Menge neuer Schriftsätze ab dem 19. Jahrhundert wurden die Drucker*innen jedoch wieder kreativer. Diese Mischung aus Konsistenz und Kreativität, aus Gewohntem und Innovativem, charakterisiert auch die Anschlagzettel des Schauspielhauses.
Die Theaterhistorikerin Tracy C. Davis hat an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, dass sich die Theaterhistoriografie nicht nur mit dem Besonderen und Innovativen befassen sollte, sondern ebenso mit dem Gewöhnlichen (und für das historische Publikum Gewohntem) (2009 & 2012). Um ihre Perspektive zu veranschaulichen, nutzt sie den Repertoire-Begriff, den sie für ihren methodischen und historischen Zugriff definiert als:
repertoires are multiple circulating recombinative discourses of intelligibility that create a means by which audiences are habituated to understand one or more kinds or combinations of performative tropes and then recognise and interpret others that are unfamiliar, so that the new may be incorporated into repertoire. […] It accounts for durable meanings, not as memory per se but in the improvisation of naming which sustains intelligibility. (ebd.: 36 [Her-vorh. d. Verf.])
Gleichwohl sich Davis auf Bühnenästhetiken fokussiert, können ihre Gedanken für die Analyse von Anschlagzetteln produktiv gemacht werden – nicht nur weil sie materielle Abbildungen eines konkreten Theaterrepertoires sind, sondern weil für ihre erfolgreiche Adressierung des Publikums die von Davis zentral gesetzte Intelligibilität dank Repertoire bedeutsam ist. Beispielsweise sollten Passant*innen der Carl-Theodor-Straße die Anschlagzettel am Schauspielhaus direkt „lesen“ können, um für sich die wichtigsten Informationen zu finden (Welches Stück? Welche Uhrzeit? Welche Schauspieler*innen?) und bestenfalls an der Tageskasse Tickets zu kaufen. Weil diese potentiellen Besucher*innen das Schauspielhaus womöglich regelmäßig passierten, waren Abweichungen vom Gewöhnlichen – wie die typografische Gestaltung der Stücktitel – ebenso wichtig, um Aufmerksamkeit zu erregen, bevor dann im zweiten Schritt der Intelligibilität eine zentrale Vermittlungsrolle zukam. Eine weitere Abweichung von der Konsistenz waren Anschlagzettel für Premieren und besondere Aufführungen oder Gastspiele. Bei diesen wurde rote Druckfarbe als weiteres Gestaltungselement genutzt, beispielsweise für die Titel der Aufführungen oder für andere grafische Elemente wie Rahmen oder Blöcke. Am Schauspielhaus wurde dieses Gestaltungsprinzip ab den 1920er Jahren genutzt. (In dieser Zeit wurden die Gestaltungsprinzipien der Zettel reduziert, worauf ich unten eingehen werde.)
Das gestalterische Spiel mit Schriftarten blieb allerdings nicht auf die Stücktitel des Tagesprogramms beschränkt. Im unteren Drittel der Anschlagzettel wurde darüber hinaus auf kommende Aufführungen hingewiesen. Neben dem recht großen Stücktitel waren Wochentag, Datum und Uhrzeit gedruckt (diese wieder im gleichen Erscheinungsbild wie alle anderen faktischen Informationen). Manchmal wurden Stücktitel jeweils mit unterschiedlichen Schriftarten gesetzt, manchmal in der gleichen Schrift wie der abendlich angekündigte Titel. So fielen die zukünftigen Veranstaltungen den Betrachter*innen der Zettel direkt ins Auge. Über die Verweise auf andere Aufführungen besitzen die Zettel als Besetzungslisten darüber hinaus eine weitere Aussagekraft. Als Gesamtheit einer Spielzeit ergeben sie letztlich eine Liste des Schauspielhaus-Repertoires. In dieser Hinsicht wurden Zettel theaterhistorisch zwar immer wieder genutzt (Was wurde wann wie oft gespielt?), aus Perspektive der Besetzungsliste lassen die Zettel aber noch andere Rückschlüsse auf das Repertoire zu. Genauso wie Besetzungslisten von Hierarchien geprägt sind (Haupt- versus Nebenrollen, Regie und Autor*in vor dem Ensemble), können verschiedene Schwerpunktsetzungen im Repertoire aus den Zetteln herausgelesen werden. Manche Stücktitel der kommenden Tage wurden größer gesetzt als andere, die Einordnung „zum ersten Mal“ markiert Besonderheit, andere Titel sind mit Hinweisen auf Abonnement- oder Serienvorstellungen versehen. Mit diesen Serienvorstellungen bot das Schauspielhaus Menschen mit geringem Einkommen die Möglichkeit, Karten für Vorstellungen zu erwerben (Förster 2022). Über die Zettel lässt sich nachvollziehen, welche Inszenierungen das Schauspielhaus für dieses Angebot kultureller Teilhabe auswählte. Repertoire-Untersuchungen fokussieren oft nur die Eigenproduktionen eines Theaters. Über die Zettel wird jedoch die Bedeutung von Formen kultureller Teilhabe, Gastspielen und Morgenfeiern für das Gesamtprogramm deutlich. Sie charakterisieren das ästhetische Programm, das das Schauspielhaus dem Publikum vorstellen und in dessen Kräftefeld es sich verorten wollte. Auch die Studierenden der angegliederten Hochschule für Bühnenkunst konnten aus der besonderen Gesamtheit des Repertoires Impulse für die eigenen Laufbahnen erhalten.
Theaterzettel wurden in der theaterhistorischen Forschung immer wieder dazu genutzt, Namen und Rollen empirisch zu erfassen. Aus den Besetzungslisten der Zettel wurden dann also neue Listen generiert, die Auskunft über die Zusammenschau aller Zettel gaben. Die Namen der Schauspieler*innen werden somit letztlich wie Nummern behandelt, nicht wie Menschen mit ihren je eigenen Karrieren, Ambitionen und Schicksalen. Dadurch gerieten viele Künstler*innen in Vergessenheit. Die Theatergeschichte muss notwendigerweise vergessen, da pro Spielzeit zu viele Menschen auf und hinter der Bühne arbeiten, um alle erinnert und jemals erforscht zu werden. Das Problem mit dem Vergessen sind allerdings die ungeschriebenen Regeln, nach denen vergessen wird. Männer werden generell mehr erinnert als Frauen; wer mehr Hauptrollen gespielt hat, hat größere Chancen erinnert zu werden als jemand aus dem Ensemble oder gar Statist*innen; wer nicht direkt künstlerisch tätig ist (zum Beispiel die Beschäftigten in den Werkstätten, an der Kasse oder in der Verwaltung), wird ohnehin schnell aus dem Gedächtnis verdrängt. Dass die erinnerten Menschen grundsätzlich weiß, cis-geschlechtlich und heterosexuell sind, bildet letztlich das Fundament aller ungeschriebenen Regeln. Theatergeschichten sind daher immer auch Spiegel vorherrschender gesellschaftlicher Machtstrukturen und sollten daher nie einfach nur fortgeschrieben werden. Es stellt sich allen Historiograf*innen die Herausforderung, Inventur der engmaschigen Beziehungen der Regime von Macht und Geschichtsschreibung zu nehmen.
Die Zettel und Besetzungsbücher des Schauspielhauses Düsseldorf halten Besetzungen ohne solche Regeln fest. Wer besetzt wurde, stand auch im Besetzungsbuch – wobei Statist*innen und Chargen manchmal auf Theaterzetteln unterschlagen wurden. Dank der Besetzungsbücher wird beispielsweise das theaterhistorische Ignorieren von Inspizienz und Soufflage in Frage gestellt. Im Besetzungsbuch scheinen sie wichtiger als Kostümbildner*innen oder Musikalische Leiter*innen und genauso bedeutsam wie Regie, Bühnenbildner*in und Schauspieler*innen. Auf den Zetteln tauchten sie wiederum nicht mehr auf.
Auch der Name Ernst Heimrath (1905–1945) ist im Besetzungsbuch zu finden, taucht auf den Zetteln allerdings nur selten auf. Heimrath ist einer jener Schauspieler*innen und Tänzer*innen, die ohne einen archivarischen Zufall vergessen worden wären. Denn in verschiedenen Nachlässen des Heinrich-Heine-Instituts und Schumann-Hauses der Landeshauptstadt Düsseldorf haben sich Briefe Heimraths an Künstler*innen wie Ilna Ewers-Wunderwald und Marga Klinckenberg erhalten. In Kooperation mit dem Heine-Institut hatte das TMD sich gemeinsam mit dem Künstler Christoph Westermeier auf Spurensuche von Heimrath begeben. Daraus entstand die Ausstellung Die Pappel im Wind. Christoph Westermeier: Ernst Heimrath (28. März bis 15. September 2024) und das gleichnamige Künstlerbuch (Heinrich-Heine-Institut/Theatermuseum 2024).
Bevor Heimrath zum Tanz wechselte – laut Bühnen-Jahrbuch war er zwischen 1928 und 1930 zunächst im Tanzchor der Vereinigten Städtischen Theater Düsseldorf und dann der Städtischen Bühnen Köln engagiert –, studierte er von 1924 bis 1926 Schauspiel an der an das Schauspielhaus angebundenen Hochschule für Bühnenkunst und wurde anschließend für zwei Spielzeiten als Anfänger und Charge ans Schauspielhaus engagiert. Als Charge übernahm er kleine Rollen, in anderen Inszenierungen stand er mit Statist*innen auf der Bühne. Erstmals ließ sich Heimraths Name auf dem Anschlagzettel zum Weihnachtsmärchen 1926 finden, in dem er als 8. Werber in Karl von Felners Der Froschkönig sein Debüt auf der Schauspielhaus-Bühne gab. Am 17. Juli 1926 feierten die Schauspielstudierenden mit Monologen und kleineren Stücken ihren Hochschul-Abschluss im Schauspielhaus. Dort trat Heimrath auch erstmals als Tänzer auf. Tanz, beziehungsweise Rhythmische Gymnastik, wurde an der Hochschule für Bühnenkunst von Hilde Schewior unterrichtet, so dass angehende Schauspieler*innen früh mit Tanz als weiterem theatralen Ausdrucksmittel der Bühnendarstellung in Berührung kamen.
Das Erscheinungsbild der Anschlagzettel des Winters 1926 war mittlerweile ein anderes als der oben beschriebenen Zettel vor 1922. Nach einer, aufgrund ökonomischer Schwierigkeiten notwendig gewordenen, zweijährigen Schließzeit des Schauspielhauses wurden ab 1924 die Theatermasken und der geschwungene Schriftzug durch eine grafische Darstellung eines Hauses beziehungsweise Tempels sowie durch einen Schriftzug in Fraktur ersetzt. Während die Fraktur seltsam traditionell anmutete, reflektierte die Grafik die an geometrischen Formen interessierte Ästhetik der Moderne. Ein Dreieck, zwei Rechtecke und eine Gerade ergeben hier in der richtigen Anordnung die Symbolik eines Hauses oder vielmehr eines angedeuteten Tempels (Giebel auf zwei Säulen). Obgleich der Grafik ein spielerischer Charakter eigen ist, zeichnet sie sich vor allem durch eine visuelle Strenge aus, die auch die Gestaltung des restlichen Zettels prägt. Auf den Zetteln post-1924 wurden keine verschiedenen Schriftarten mehr genutzt. Alle textlichen Informationen wurden nun im gleichen Frakturschriftsatz gedruckt, lediglich mit verschiedenen Schnitten und Sperrungen wurde variiert. Andere grafische Elemente waren ausschließlich Kästen und Geraden. In seiner typografischen Untersuchung britischer und US-amerikanischer Theaterzettel hielt Gordon Martin fest:
As new typefaces and materials appeared they were employed in a unique manner that makes the playbill an inherent part of the period in which it developed – a forceful yet fanciful style of typography that is as much a part of the Victorian age as the Crystal Palace or the Great Eastern. (1963: o.S.)
Inwiefern Zettel ihre jeweilige Gegenwart zum Ausdruck bringen, hat allerdings nicht nur mit technischen Entwicklungen zu tun. Ihre Gestaltung ist ebenso abhängig von den jeweils vorherrschenden Moden und Geschmäckern. In den Anschlagzetteln des Schauspielhauses, auf denen Heimraths Name aufgelistet wurde, kreuzen sich zwei Moden der 1920er Jahre: Zum einen die Strenge der durch die Neue Sachlichkeit geprägten Visuellen Kultur, zum anderen die Hinwendung zu germanischen Mythen in Wechselwirkung auf deutsche Geschichte. (In der Negativausprägung speiste diese Hinwendung völkisches Gedankengut.) In Walter Gropius’ Manifest für das Bauhaus Weimar führte dies beispielswiese zur konzeptionellen Berufung auf die mittelalterliche Bauhütte. Am besprochenen Theaterzettel des Schauspielhauses brachte sich diese Interpretation deutscher Geschichte dann in der Verwendung der Frakturschrift zum Ausdruck. Die Gestaltung der Zettel spiegelt somit ein Stück weit die Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse einer Moderne, die eben nicht nur zukunftsgewandt war.
Heimraths Name lässt sich auf den Besetzungslisten zu nahezu 30 Inszenierungen ausfindig machen. Allerdings findet sich sein Name nicht bei all diesen Inszenierungen auch auf den Anschlagzetteln. So stand er laut Besetzungsbuch in Lindemanns Inszenierung von Schillers Kabale und Liebe (31. Oktober 1925) als einer von neun Herren auf der Bühne. In der entsprechenden Liste im Besetzungsbuch waren in der Rollen-Spalte mit Tinte zunächst lediglich „Verschiedene Nebenpersonen“ für die zu besetzenden Rollen vermerkt. Darunter wurden später mit Bleistift die konkreten Gruppen „Herren“ und „Damen“ sowie die Namen der jeweiligen Schauspieler*innen, darunter Heimraths, ergänzt. Entgegen des eigentlichen Systems wurden alle Personen in der Rollen-Spalte und nicht in den Besetzungsspalten genannt. Auf dem finalen Anschlagzettel für Kabale und Liebe wurde dennoch weiterhin die Bezeichnung „Verschiedene Nebenpersonen“ verwendet und zentriert unter der eigentlichen Rollen-Liste gedruckt. Während bei den einzelnen Rollen Namen folgen, ist der Punkt „Verschiedene Nebenpersonen“ nicht weiter ausgeführt, so dass Heimraths Name nicht auf dem Zettel auftaucht. Nun ließe sich einwenden, dass sein Auftritt kurz und von geringer künstlerischer Aussagekraft und daher theaterhistorisch uninteressant gewesen sein muss. Allerdings informiert das Besetzungsbuch über die Einsätze Heimraths und damit seines Arbeitsrepertoires am Schauspielhaus, lässt also seinen Alltag nachvollziehbar werden, und lässt vor allem in dieser prekären Dokumentationslage Rückschlüsse auf die Arbeit der als Anfänger*innen und Chargen verpflichteten Schauspieler*innen zu. Für manche Inszenierungen waren sie beispielsweise ‚Füllmaterial‘, das günstiger als Statist*innen war. Diese mussten schließlich separat engagiert und bezahlt werden, während die Anfänger*innen und Chargen für die komplette Spielzeit unter Vertrag standen und ohnehin monatlich entlohnt wurden. Der wenigen Korrespondenz Heimraths mit der Schauspielhaus-Verwaltung ist zu entnehmen, dass der junge Schauspieler und Tänzer auf prominentere Einsätze hoffte. Es mögen auch Situationen wie diese der fehlenden Sichtbarkeit auf dem Anschlagzettel zu Kabale und Liebe gewesen sein, die ihn zum Tanz brachten.
In einem seiner letzten Briefe vor seinem frühen Tod im März 1945 schrieb Heimrath an Ellie Unkelbach und Ilna Ewers-Wunderwald: „Oft möchte ich tanzen, bis ich tot umfalle.“ (Heimrath an Ewers-Wunderwald und Unkelbach, 03.01.1945) Es scheint, dass ihn der Tanz sein Leben lang auf besondere Weise umtrieb. Diese Lust am Tanzen wurde nicht nur im Tanzunterricht bei Schewior entfacht. Am Schauspielhaus hatte Heimrath die Chance, sich dank der verschiedenen Gastspiele für sein eigenes tänzerisches Schaffen inspirieren zu lassen. So informieren die Anschlagzettel – in roter Farbe, da einmalige Gelegenheiten – beispielsweise über Auftritte der Loheland-Gruppe, von Valeska Gert oder der Javanischen Tänze des Prinzen Raden Mas Jodjana. In einem Manuskript zur Frage „Wie entstehen Ihre eigenartigen Tänze?“ wird Heimrath unter anderem notieren: „So haben alle meine Tänze Gedanken, Gefühle, Erlebnisse aus der Zeit, in der ich lebe. Das zu gestalten, macht mir mehr Freude als im Rampenlicht schöne Kostüme zu tragen und kalte Formentänze dem Publikum zu zeigen, die hübsch sein können, aber kalt lassen, weil nichts mitschwingt, was menschlich ist.“ (Heimrath um 1933) Es zeigt sich hieran, dass die genannten Tanzgastspiele am Schauspielhaus prägende Spuren in seinem tänzerischen Schaffen hinterlassen haben. Denn diese waren von Reformgedanken angetrieben, die der Kultur des frühen 20. Jahrhunderts entschiedene Impulse gaben. Im Aufbrechen der Strukturen der Kaiserzeit sollte das Individuum befreit werden, was sich vor allem in Körperbildern und weiter Kleidung zeigte, aber auch im Aufkommen spiritueller Bewegungen. In dieser Gemengelage bildete sich der Ausdruckstanz mit seinen verschiedenen Spielarten heraus. Im Unterschied zu den uniformierten Körpern des Balletts – wobei auch die weltbekannte Ballerina Anna Pawlowa am Schauspielhaus auftrat – und ihrer behaupteten Leichtigkeit, setzte die neue Tanzästhetik auf den Ausdruck des Einzelnen über teils schwere, auf jeden Fall die Körperlichkeit betonende Bewegungen und konkrete Bezüge zur Realität.
Nachdem Heimraths Vertrag an den Städtischen Bühnen Köln nicht verlängert wurde, entschied er sich, den Schritt zur Arbeit als Freier Künstler zu wagen. Er entwickelte für seine eigene Karriere sogenannte „Tanzgestalten“, die als Soli funktionierten. Zur Bewerbung seines Repertoires ließ er ein Leporello drucken. Dort werden 27 Stücke als nummerierte Liste vorgestellt, angefangen beim Wegbereitenden Geist über Die Pappel im Wind und Der Tanzbär bis hin zu Mond unter Wolken. Leider existieren von diesen Solo-Abenden keine Zettel. Es lässt sich jedoch annehmen, dass das Publikum Zettel erhielt, deren Informationsgehalt weniger in der personellen Besetzung (schließlich kam man gerade wegen Heimrath) als in der konkreten Stück-Besetzung des Abends lag. Vergleichbar mit Theaterzetteln des 18. und 19. Jahrhunderts wäre die Abfolge des abendlichen Programms der Informationszweck des Zettels gewesen.
Auf einem Privatfoto ist Heimrath vor einem riesigen Plakat zu sehen, das sein Gastspiel in Utrecht bewirbt. Es informiert darüber, dass am 21. März 20.15 Uhr – nach großen Erfolgen in England, Frankreich, Deutschland und Amsterdam – zum ersten Mal in Utrecht seine „Dans-Compositie“ zu sehen seien. Im unteren Bildanschnitt ist zu erkennen, dass verschiedene Stücktitel seines Programms benannt wurden. Heimraths Gesicht ist in dem Foto auf einer Höhe mit seinem Namen, daher ist anzunehmen, dass die plakatierte Werbung mindestens zwei Meter hoch war. Im oberen Bildausschnitt ist außerdem die Ankündigung eines Auftritts der Cembalistin und Pianistin Wanda Landowska zu sehen. Die Überschrift des Plakats ist außerhalb des Bildes – was genau hier beworben wurde, ein Veranstaltungsort oder ein Wochenprogramm oder etwas anderes, erschließt sich über das Foto daher nicht. Der Begriff Plakat ist allerdings irreführend, denn das auf eine Wand aufgetragene Papier wirkt wie ein überdimensionaler Anschlagzettel. Neben der Größe ist auch die grafische Gestaltung deutlich vorangeschrittener als bei den früheren Anschlagzetteln. Es wurde mit Farben, Schriftarten, Sperrungen und Abständen gespielt, um das Plakat visuell spannender zu machen. Die Buchstaben von Heimraths Namen sind fast so groß wie sein Gesicht, der kurze Ankündigungstext wurde in der Platzierung am Nachnamen des Tänzers ausgerichtet. Scheinbar war die Werbung erfolgreich, denn über eine Woche vorher schrieb Heimrath an Ewers-Wunderwald: „Bin seit 2 Tagen in Utrecht am Vorbereiten. Es sind im Vorverkauf bereits über 100 Plätze verkauft. Das Theater fasst 250.“ (Heimrath an Ewers-Wunderwald, 11.03.1935)
Im gleichen Brief erwähnte Heimrath auch Folgendes: „Morgen geht Jaap hier ins Krankenhaus zur gründl. Untersuchung.“ (ebd.) Jaap war Heimraths Partner und litt an einer schweren Krankheit. Anderen Briefen lässt sich wiederum entnehmen, dass die Beziehung mit Jaap vor allem wegen dessen Untreue nicht immer einfach war. Hinter den Namen auf Theaterzetteln verbergen sich vielfältige Geschichten – und eben auch Geschichten von Menschen, die aufgrund von Sexualität, Geschlecht, Ethnizität, race, Behinderung oder anderen Diskriminierungsgründen keinen Eingang in offizielle Geschichtsschreibungen gefunden haben, auch weil sie die Dokumente ihrer Lebensgeschichten im Nazi-Deutschland vernichten mussten. Das Beispiel Heimrath zeigt, dass die Namen auf Theaterzetteln und Besetzungslisten eben immer auch Menschen repräsentieren. Jeder aufgelistete Name ist somit letztlich eine Spur vergangener Leben und Schicksale. Die Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman hat mit Wayward Lives, Beautiful Experiments ein inspirierendes Buch vorgelegt, das aus verstreuten Spuren – in ihrem Falle über in Slums lebende und missachtete Schwarze Frauen in Akten und soziologischen Studien – Menschen mit ihren absichtlich übersehenen Geschichten hervortreten lässt. Die ihr vorliegenden Dokumente ließen sie kalt, da diese die Schicksale der Schwarzen Frauen einerseits nur negativ betrachteten und sie andererseits nicht als Geschichten mit aktiven Handlungspotentialen erzählten (Hartman 2019: 19f.). Besetzungslisten dokumentieren nicht negativ, aber hierarchisierend. Wer als Schauspieler*in immer wieder am Ende einer Liste auftaucht, scheint für die Theatergeschichte nicht bedeutsam. Auch diese Dokumente können kalt lassen und wurden bisher nur als objektive Quellen, aus denen man tabellarische Aufstellungen von Theatermacher*innen und Spielplänen zog, behandelt. Methodisch musste Hartman im Umgang mit den zur Verfügung stehenden Dokumenten sowie den Lücken und Leerstellen der defizitären Dokumentenlage neue Wege gehen: „It required me to speculate, listen intently, read between the lines, attend to the disorder and mess of the archive, and to honor the silence.“ (ebd.: 34) Sollen Geschichten übersehener oder gesellschaftlich ausgeschlossener Künstler*innen erzählt werden, kann es notwendig sein, Regelbrüche mit historischen Methoden zu wagen. Zu spekulieren ermöglicht es, überhaupt ins Erzählen zu kommen – obschon sich dies zunächst nicht mit Objektivitätsideen konventioneller Historiografien überein bringen lässt. Wichtig ist dennoch die Fortsetzung von Hartmans methodischer Beschreibung: Denn das genaue Zuhören und Zwischen-den-Zeilen-Lesen sowie der respektvolle Umgang mit der Stille regeln das Spekulieren. Um den Quellen zuhören und zwischen ihren Zeilen lesen zu können, bedarf es eines reichhaltigen Kontextwissens. Mit Neugier und Kontexten können dann aber diverse Formen von Besetzungslisten zum Spekulieren dienlich sein.
Ab 1939 musste Heimrath als Obergefreiter seinen Kriegseinsatz im Fliegerhorst Münster-Handorf leisten. Dort war er hauptsächlich als Putzer und selbst erklärtes „Mädchen für Alles“ (Heimrath an Ewers-Wunderwald, 22.11.1941) tätig und konnte der Verlegung an die Front entgehen. Während er seine Kostüme bei der Mutter im heimischen Düsseldorf einlagern musste, hoffte er auf eine neue Betätigung als Rezitator. So kam ihm im Krieg seine Ausbildung an der Hochschule für Bühnenkunst zugute, obgleich er seiner Sehnsucht nach dem Tanzen nicht nachgehen konnte. Seine Briefe aus dem Fliegerhorst offenbaren damit die Geschichte eines Menschen, der nicht wirklich zu realisieren schien, was um ihn herum geschah und der – durchaus naiv – an den Konsequenzen litt:
Oft denke ich [...], daß ich schon Jahre weg bin und wenn dann Post kommt, fällt mir denn ein, daß es ja wohl etwas gibt, was eigentlich mein ganzes Sein erfüllt hat, aber es ist ein Sein, was nun genau wie meine Kostüme zwar nicht eingemottet, aber wohl geborgen in einem kleinen Behälter aufbewahrt wird. Sicher wird es herrlich sein, wenn eines Tages das alles wieder da sein wird. (Heimrath an Ewers-Wunderwald und Unkelbach, 26.07.1940)
Am 21. März 1945 starb Heimrath aufgrund einer von einer Bombe verursachten Druckwelle.
Auch heute noch sind Besetzungslisten Teil von Theater. Für die theaterinterne Kommunikation der Besetzung von Inszenierungen schaut man allerdings mittlerweile ins Intranet. In der Vermittlung von Besetzungen an die Besucher*innen wiederum lassen sich die Besetzungslisten auf den Webseiten der Theater finden und dort vor allem auf den Unterseiten der jeweiligen Produktionen. Über die Verlinkung der beteiligten Künstler*innen können Interessierte dann direkt weitere Informationen, teilweise sogar über Hinweise auf externe Profile, sammeln. Das Interesse des Publikums an konkreten Besetzungen hat dennoch in manchen Sparten des deutschsprachigen Theaters in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Vor allem im Schauspiel geht das Publikum heutzutage wegen der Regie in bestimmte Inszenierungen und lässt sich dann vom Ensemble überraschen. In der Oper oder auch im Ballett sind tagesaktuelle Besetzungslisten, die am jeweiligen Abend kostenlos als gedruckter Zettel ausgegeben werden, hingegen noch eine zentrale Komponente des Theaterbesuchs. Im Musical wird über die Show-Besetzung oft direkt am Eingang über Bildschirme informiert – manchmal, zur Enttäuschung des Publikums, ist die berühmte Erstbesetzung dann leider nicht zu sehen. (Im anglophonen Bereich gibt es diese Praxis auch für Sprechtheater-Inszenierungen, wenn diese im West End oder am Broadway laufen.) Besetzungslisten existieren hier oft nicht mehr als materielle Objekte, werden vom Publikum daher auch nicht mehr aufgehoben und spielen somit manchmal gar keine Rolle mehr beim Theaterbesuch. Je unüblicher die gegenwärtige Praxis wird, desto größer die Gefahr, auch im historischen Forschen diese für Theaterbesuch und -praxis wichtigen Materialien aus dem Blick zu verlieren. Nicht nur aus Sicht der Sammlungen und Archive, sondern auch aus Sicht einer an konkreten Zusammenhängen und Situationen interessierten theaterhistorischen Forschung wäre dies zu bedauern. Besetzungslisten können als materielle Zeitzeug*innen von Theatergeschichte befragt werden: Sie waren dabei, als Inszenierungen geplant wurden, Passant*innen sich für den Theaterbesuch entschieden und voller Vorfreude auf den Abend vorbereiteten oder unzufriedene Zuschauer*innen nach der Aufführung über die Inszenierung geschimpft haben. Es bedarf jedoch methodischer Neugier, um diese Materialien in ihrer Zeitzeugenschaft zum Sprechen zu bringen. Dafür sollten die Listen nicht nur Grundlagen für weitere Listen bilden, sondern auch Aspekte von Erzählungen werden.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten musste Gustav Lindemann, der als Sohn jüdischer Eltern geboren wurde und später zum Katholizismus konvertierte, das Schauspielhaus an die Vereinigten Städtischen Bühnen Düsseldorf zwangsverpachten. Louise Dumont war bereits 1932 verstorben. In der Spielzeit 1932/33 fusionierte das Schauspielhaus aufgrund ökonomischer Herausforderungen mit dem Schauspielhaus der Städtischen Bühnen Köln zum Deutschen Theater am Rhein. Daher gibt es für diese Spielzeit vermutlich kein Besetzungsbuch im DLA.
Unter dem Begriff „Theaterzettel“ werden verschiedene Formen gedruckter Besetzungslisten verstanden, ohne dass diese bisher nachhaltig typologisiert wurden. In diesem Aufsatz fokussiere ich mich auf die Zettel aus dem Bestand des DLA, die die Schauspielhaus-Verwaltung selbst als „Anschlagzettel“ bezeichnet hat (Schauspielhaus-Verwaltung an Rheinische Buchdruckerei, 09.04.1925).
Besetzungslisten wie Theaterzettel und Programmhefte haben daher unter anderem Ähnlichkeit mit Filmstandbildern, über die Winfried Pauleit schreibt: „Gemeinsam mit den Filmstandbildern ist ihm [dem Filmtitel, S.F.] die Existenz außerhalb des Kinosaals.“ (Pauleit 2004: 29)
Konkrete Zeitdimensionen prägen dann wiederum die separaten Probenbücher.
Bereits Paul S. Ulrich hat deutlich gemacht, wie beispielsweise die Untersuchung von Theaterzetteln (und Theateralmanachen) auch zur Geschichtsschreibung der Veränderungen betrieblicher Strukturen von Theatern produktiv gemacht werden können (Ulrich 2012). Die Besetzungsbücher geben nochmal mehr Einblick in den individuellen Maschinenraum eines Theaters.
Für die Spielzeiten 1930/31–1931/32 gibt es im Bestand des DLA keine Anschlagzettel mehr, dafür dann jedoch zu simplen A5-Heften gefaltete Programmzettel. Aufgeschlagen informierten sie querformatig die Besetzung der Inszenierung, auf den Außenseiten gab es hochformatige Informationen zu Preisen und weitere Angaben zum Spielplan der Woche.
Das Schauspielhaus Düsseldorf ließ seine Anschlagzettel sowie andere Drucksachen wie die Zeitschrift Masken unter anderem bei folgenden Druckereien drucken: Buchdruckerei Ohligschläger, Düsseldorfer Zeitung Aktien-Gesellschaft, Rheinische Buchdruckerei. Im DLA gibt es wenige Durchschläge der Korrespondenz mit den Druckereien, wobei vor allem Kostenvoranschläge angefragt wurden. Die Wechsel der Druckereien haben daher vermutlich nur mit Spargründen, nicht mit gestalterischen Aspekten zu tun. Da die Informationen durchgängig in einer Antiqua oder später in einer Fraktur gedruckt wurden, sind die Wechsel zwischen den Druckereien in der Gestaltung der Zettel nicht aufgefallen. Die Druckereien wurden in den Fußzeilen benannt.
Das Wiener Don Juan Archiv widmet sich seit einigen Jahren ausführlich der Auswertung und Erschließung von Theaterzetteln und verwandten Materialien im deutschsprachigen Raum (Pernerstorfer 2012). Dort werden Zettel m.E. jedoch weniger im Gesamtzusammenhang von Produktion und Institution und nicht im Zusammenspiel mit anderen Materialien aus den jeweiligen Theatern betrachtet.
Bratton, Jacky (2003) New Readings in Theatre History. Cambridge et al.: Cambridge University Press.
Davis, Tracy C. (2012) Introduction: Repertoire, in: Dies. (Hg.): The Broadview Anthology of Nineteenth Century British Performance, Peterborough: Broadview Press, S. 13–26.
Davis, Tracy C. (2009) Nineteenth-Century Repertoire, in: Nineteenth Century Theatre & Film, 36, Heft 2, 2009, S. 6–28.
Fischer-Lichte, Erika (2004) Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Förster, Sascha (2022) Kreons Tempel zwischen Messehalle und Naturbühne. Zu den ästhetischen und sozialen Reformen des Schauspielhauses Düsseldorf am Beispiel der Jahre 1909 bis 1911, in: Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf (Hg.): Inventur eines Theaterarchivs. Perspektiven auf die Objekte des Schauspielhauses Düsseldorf (Dumont-Lindemann), 1904 bis 1947, Düsseldorf: Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf 2022, S. 26–47.
Förster, Sascha (2025) Zeitgeist und die Szenen der Imagination. Stadt- und Theaterräume der Moderne in Berlin und London (1918–2011). Stuttgart: J.B. Metzler.
Gowen, David Robert (1998) Studies in the History and Function of the British Theatre Playbill and Programm 1564–1914. Oxford: Oxford University [Univ.-Diss.].
Heinrich-Heine-Institut/Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf (Hg.) (2024) Die Pappel im Wind. Christoph Westermeier: Ernst Heimrath. Düsseldorf: Heinrich-Heine-Institut/Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf.
Kramer, Anke/Pelz, Annegret (2013) Einleitung in: Dies. (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz. Göttingen: Wallstein, S. 7–22.
Martin, Gordon (1963) The Playbill. The Development of its Typographical Style. Chicago: Press of The Institute of Design.
Pauleit, Winfried (2004) Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld.
Pernerstorfer, Matthias J. (2012) (Hg.) Theater – Zettel – Sammlungen. Erschließung, Digitalisierung, Forschung. Wien: Hollitzer Wissenschaftsverlag.
Stern, Tiffany (2012) Documents of Performance in Early Modern England. Cambridge et al.: Cambridge University Press.
Ulrich, Paul S. (2012) Theaterzettel und Theateralmanache – Quellenkritische Anmerkungen, in: Pernerstorfer, Matthias J. (Hg.) Theater – Zettel – Sammlungen. Erschließung, Digitalisierung, Forschung. Wien: Hollitzer Wissenschaftsverlag 2012, 3–26.