Credits im Forschungsfilm
Filme lassen sich nicht von einem Punkt ihrer Geschichte aus erfassen. 1927 führte der deutsche Ingenieur Ludwig Prandtl erstmals Filmaufnahmen aus seinem hydrodynamischen Labor in Göttingen bei einem Vortrag in London vor. Doch die Geschichte der Aufnahmen begann bereits lange vor der Filmpremiere und schrieb sich auch später weiter fort. Die Aufnahmen erhielten 1929 einen „Director“, einen Titel, Vorspann und Zwischentitel und wurden so zu dem Film ENTSTEHUNG VON WIRBELN BEI IN WASSER BEWEGTEN KÖRPERN (R: Ludwig Prandtl, D 1936) (Clip 1). Auch dieser Film wurde zahlreiche Male umgearbeitet, umgeschnitten, angeeignet, de- und rekontextualisiert: er erhielt andere Vorspanne, andere Titel und verlor seinen „Director“ wieder.
Seit nun sechs Jahren erarbeiten wir die Geschichte dieses wissenschaftlichen Films (Schulze/Waltenspül 2021, 2025). Bis zu der Einladung zu der Vortragsreihe „Film Credits und Listen“ hatten wir uns nicht bewusst auf die Credits der zahlreichen Versionen des Films konzentriert. Erst dann realisierten wir, dass wir uns schon immer damit beschäftigt hatten, was auch mit dem Genre des wissenschaftlichen Films zu tun hat. Bei wissenschaftlichen Filmen – verstanden hier als Filme, die Forschung/Wissen in mehr oder weniger aufbereiteter Form anderen Forschenden oder Studierenden zugänglich macht – spielt Autor*innenschaft und Urheber*innenschaft eine ebenso zentrale Rolle, wie es bei ‚journal articles‘ oder Monografien der Fall ist (Csizar 2018). Dabei ist nicht nur wichtig, von wem der Film gemacht respektive der Text geschrieben wurde, sondern auch, wer sonst noch bei dieser Forschung mitgedacht und mitgewirkt hat und wessen Forschung und Wissen hinzugezogen wurde und entsprechend referenziert werden muss. Die Titelsequenz und Abspanne, die Credits und die Paratexte wissenschaftlicher Filme entsprechen den Titeln, Danksagungen, Fußnoten und Bibliografien wissenschaftlicher Texte. Die Art und Weise, wie diese Angaben in den jeweiligen Medien gemacht werden können, unterscheidet sich jedoch grundlegend. Zwar können Regisseur*innen und am Film Mitwirkende in Titelsequenz und/oder Abspann vergleichbar mit Autor*innen auf dem Buchtitel genannt werden. Schwieriger wird es jedoch bei der Übernahme von oder der Bezugnahme auf Gedanken, Bilder oder Filme. Wie können Teile aus einem anderen Film gleich einem Zitat verwendet werden? Was ist das filmische Äquivalent zu Fußnoten?
Ausgehend von einer kurzen methodischen Einführung tauchen wir in die Geschichte des Films ein und folgen den unterschiedlichen Aneignungsformen des Films durch Wissenschaftler, Künstler (jeweils kein generisches Maskulinum) und/oder Institutionen und fragen nach dem Erscheinen und Verschwinden zentraler Akteure in den Credits. Die Credits, unabhängig davon ob sie in der Titelsequenz, im Abspann, oder in den Paratexten zum Film vorkommen, interpretieren wir als ‚Kontaktzonen‘ zwischen dem Filmmaterial und den Orten, Institutionen und Personen, die seiner habhaft wurden. Mit Kontaktzonen schließen wir hier an das vielzitierte ethnographische Konzept der contact zones an, mit denen Mary Louise Pratt jene Orte beschrieben hat, „where cultures meet, clash and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power.“ (1991: 34) Die Credits sind auch solche Begegnungszonen, in denen verschiedene Ansprüche an die Filmaufnahmen sich treffen, aufeinanderprallen und neu ausgehandelt werden müssen. Und wir zeigen exemplarisch, wie anhand dieser wichtigen Quellen der (Film-)Geschichtsschreibung Fragen der Urheberschaft, des politisch-ökonomischen Status der Aufnahmen sowie deren epistemische Funktion adressierbar werden.
Die Idee, einem (je nach Fassung) neun- bis dreizehnminütigen Film unsere Forschung zu widmen, entstand im Laufe des Jahres 2018. Ausschnitte des Films, der für uns damals noch im Singular existierte und noch nicht in einer Vielzahl von Fassungen, Formaten und Wiederverwendungen, geisterte bereits einige Zeit davor als potentielles Forschungsmaterial herum. Allerdings als einer unter vielen wissenschaftlichen Filmen – jenen Bewegtbildern an den Rändern der Film- und Wissenschaftsgeschichte, die für visuelle Evidenz und Anschauung stehen und wahlweise zur Erkenntnisgewinnung, -vermittlung und zur Datifizierung gereichen. Genauer war der Film ein Beispiel für das Genre von Strömungsfilmen. Denn Kameras waren und sind bevorzugte Messinstrumente in der Strömungsforschung. Sie ermöglichen es, das Verhalten der untersuchten Fluide (nebst Gasen wie Luft, auch Flüssigkeiten oder Plasma) berührungslos aufzuzeichnen, wohingegen andere Messverfahren selbst Verwirbelungen produzieren. Wir fragten uns zu Beginn unserer Forschungen, was die bis dato weitgehend vernachlässigte Rolle der Kameras bei der Fabrikation von jenem Wissen war, das für einige Schlüsseltechnologien des 20. Jahrhunderts anleitend wurde, konkret bei der selten friedlichen Eroberung der Lüfte, Meere und des Weltalls.
Je mehr wir in den Archiven, Datenbanken oder schlicht im Internet suchten, desto mehr überraschende Verwendungen des Films fanden wir: 1929 brachte Prandtl den Film als Gastgeschenk zum Weltingenieurskongress in Tokio mit; ein paar Monate später wurde eine Filmrolle auf dem Detroiter Bahnsteig gestohlen. 1977 musste eine 16mm-Kopie aus dem National Aeronautical Lab in Bangalore durch die indische Filmzensur. Eine U-Matic (frühes Videoformat) entdeckten wir dagegen zufällig beim Gang durch das Bildarchiv der ETH Zürich in einer Schublade. Einige schlecht aufgelöste Ausschnitte finden sich auf YouTube, kommentiert durch @counterflow5719 mit „seeing is understanding“.
Diese vielen materiellen und visuellen Funde standen jedoch in Kontrast zu den wenigen Funden in der Forschungsliteratur: in keinem Filmlexikon, in keinem wissenschaftshistorischen oder filmwissenschaftlichen Artikel fanden sich Hinweise zu dem Film. Nur in der hervorragenden wissenschaftlichen Biographie Ludwig Prandtls von Michael Eckert wird dieser erwähnt (2017: 166). Je mehr wir suchten und fanden respektive nicht fanden, desto klaffender erschien uns die Diskrepanz zwischen Materialfülle einerseits und dürrer Sekundärliteratur andererseits. Wir fragten uns: Warum waren die Aufnahmen der Forschung entgangen? Könnte dieser Film ein Schlüssel sein, mehr über das Verhältnis von Bewegtbildern und Strömungsforschung oder sogar über Film und Wissen zu erfahren?
Von da an folgten wir den Aufnahmen in möglichst vielen ihrer Verästelungen und schrieben deren – um im Bilde zu bleiben – turbulente Geschichte. Die Aufnahmen mussten zunächst die Mauern des Labors verlassen, hinein in Konferenzsäle, Sitzungszimmer von Rüstungsfirmen, Klassenzimmer und Kinosäle. Auch über Ländergrenzen hinweg ging die Reise vom Deutschen Reich nach Großbritannien, in die Sowjetunion, ins Japanische Kaiserreich, in die USA und so weiter. Die Strömungsaufnahmen wanderten innerhalb des militärisch-industriell-akademischen Komplexes hin und her bis in die sogenannte „Military-Industrial-Avantgarde“ hinein (Beck/Bishop 2020). Sie führten uns jedoch auch in Sackgassen: So fanden wir nicht heraus, wie sie ins National Aeronautical Lab von Bangalore gelangten. Ebenso fanden wir trotz zahlreicher Bemühungen nie exakt die Premierenversion, quasi das ‚Original’, das Prandtl 1927 bei der Royal Aeronautical Society vorgeführt hatte. Unser Begehren nach einem ‚Ursprung‘ blieb damit unbefriedigt – und wir blieben unruhig. Also untersuchten wir die fortlaufenden analogen wie digitalen Wiederverwendungen der Aufnahmen in ihrer wechselnden Materialität (von 35-mm-Nitrofilm über 16-mm-Sicherheitsfilm bis hin zu verschiedenen Dateiformaten) und Visualität (vom Rohschnitt über nachbearbeitetes Found-Footage-Material bis hin zu digitaler Farbkorrektur und Rauschreduktion) sowie in ihren wechselnden epistemischen Funktionen (zwischen Messung, Forschung, Lehre und Erinnerung). In dem Zuge widmeten wir uns auch den verschiedenen Abspannen und Credits des Films.
Mit dem Ansatz, den vielfachen Wiederverwendungen nachzugehen, knüpften wir an bestehende Konzepte zur Beschreibung von Wissenszirkulationen an. Zunächst orientierten wir uns an der prominenten Methode der Objektbiographie. Die Idee, dass nicht nur Personen, sondern auch ‚unbelebte‘ Objekte eine Biographie haben, wurde bereits auf verschiedenste Objekte und Medien übertragen: zum Beispiel auf wissenschaftliche Bilder, auf Daten, Städte oder Medienereignisse.1 Auch die Biographien einzelner Filme wurden erforscht. Sylvie Lindepergs ausgezeichnete Studie „Nuit et Brouillard“. Un film dans l’histoire über Alain Resnais Shoah-Film kann als Referenz für unser Buch gesehen werden (Lindeperg 2010).2
Die Stärke der biographischen Ansätze liegt darin, dass sie – mit ihrem Fokus auf die Mobilitäten einzelner Objekte sowie ihrem Funktions- und Bedeutungswandel – die Frage danach aufwerfen, wer oder was eigentlich Handlungsmacht oder agency besitzt. Sie rütteln an Vorstellungen, die ausschließlich sinnbeladenes menschliches Tun mit in Weltentwürfe einbeziehen. Stattdessen geraten angesichts der ständigen Transformationen von Objekten, lokale und globale Machtunterschiede und Politiken in den Fokus. Eine Schwäche des Ansatzes ist, dass auch und insbesondere wissenschaftliche Filme kein ‚Bios‘ besitzen und auch keine klar bestimmbare Identität. Einzelne Filmrollen sind zwar materielle Objekte, die durch Zeit und Raum wandern oder vom Essigsyndrom befallen werden und zerfallen. Sie sind aber mehrfach reproduzierbar: materiell als Kopien und Versionen, und visuell in ihrer Realisation bei der Vorführung. Sie sind, um ein Bonmot von John Law zu entlehnen, „more than one, less than many“ (2002: 3). Die in Biografien implizierte Linearität wird diesen Medienspezifika nicht gerecht.
Statt des ‚Bios‘ passt die Metapher des Fluiden besser zu unserer Geschichte. Die Geschichte der Filmaufnahmen folgt doch eher den mäandrierenden Verläufen eines (nicht begradigten) Flusses, der sich teilt und wieder zusammenfließt oder eben versickert. Diese Fließmetapher liefert einen Ansatz hin zu einer relationalen Geschichte von mitunter entbehrlichen Elementen. Unsere Geschichte des Strömungsfilms ist eine solche Geschichte der Relationen, der Abstoßungen und der Attraktionen. Welche dieser Relationen kommen in den Credits des Films als Kontaktzonen zwischen dem Material und den Personen und Institutionen, die seiner habhaft wurden, zum Ausdruck?
Prandtl hatte bereits über mindestens 16 Jahre hinweg verschiedentlich mit Fotografie und Film experimentiert, bevor er erstmals die Aufnahmen vorführte. Als er die Aufnahmen zum ersten Mal zeigte, 1927 in London bei der Royal Aeronautical Society, hatten sie weder Titel noch Abspann und entsprechend keine Credits. Prandtl war als erster Deutscher eingeladen worden, die Prestigeträchtige Wilbur Wright Memorial Lecture zu halten.3 Da er darauf bestand, einen Film zu zeigen, musste in das Little Theater ausgewichen werden. Die Reaktionen auf die Aufnahmen fielen teilweise euphorisch aus. Prandtl zeigte sie in Folge immer wieder bei seinen Vorträgen und entwickelte eine, wie wir es nennen würden, Choreografie der Evidenz, in Anlehnung an die „choreography of truth“ (Morus 2010: 777), bei der er als Showman auftrat (Gunning 2006 [1986/1990]). Dafür wurde aus einer Aneinanderreihung von Aufnahmen ein Film mit Vorspann und Zwischentiteln. Diesen Film nahm er 1929/30 auf seine Weltreise mit, die ihn über Moskau an den Weltingenieurskongress nach Japan und durch die USA führte, wo er an allen Stationen die wichtigsten Aerodynamischen Forschungsstätten besuchte und dort Vorträge hielt.
In dem Moment, in dem die Aufnahmen zu einem Film mit Credits wurden, musste auch die Autorschaft für das internationale Publikum markiert werden. Die Weltreise-Version des Films beginnt mit dem englischen Titel PRODUCTION OF VORTICES BY BODIES TRAVELLING IN WATER. Auf derselben Folie ist Prandtl als „Director“ aufgeführt – nicht genannt ist hingegen der wissenschaftliche Assistent Prandtls, Oskar Tietjens (Abb. 1). Auch auf dem Zwischentitel, der die Methode zur Herstellung der Aufnahmen erklärt, taucht nur der Name Friedrich Ahlborn auf. Ahlborn hatte als erster Filmaufnahmen von Strömungsvorgängen um Objekte gemacht, die durch einen Wasserkanal geschleppt werden. Sein Experimentalsetting diente Prandtl und Tietjens als Vorbild für ihre Strömungsaufnahmen und wird als solches zitiert.
Oskar Tietjens hingegen kam eine zentrale Rolle bei der Erstellung der Aufnahmen zu. Er war es, der die Kameras organisiert und bedient hatte. Er hatte das Experimentalsystem gemeinsam mit Prandtl aufgebaut. In frühen Veröffentlichungen zu den Versuchen am Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung in Göttingen mit Film wurde er noch als Co-Autor aufgeführt (Prandtls/Tietjens 1925). Tietjens hatte zudem als erster Mitarbeiter des Instituts Filmaufnahmen aus dem Wasserkanal bei der Internationalen Verkehrsausstellung in München 1925 vorgeführt. Zu diesem Zeitpunkt schien Prandtl noch nicht auf seine Autorenschaft zu bestehen. Doch in dem Moment, in dem die Aufnahmen 1929 zu einem Film mit Titel und Zwischentiteln wurden, verschwindet Tietjens aus den Credits und der Institutsdirektor Prandtl wird zum „Director“ des Films. Tietjens hingegen wird zum „invisible technician“, wie sie von Steven Shapin beschrieben wurden, zu einer jener zahlreichen Menschen, die im Labor wichtige (nicht nur händische) Arbeit geleistet haben, die aber keine Autor*innenschaft für das in diesem Labor produzierte Wissen reklamieren konnten oder sollten (1989). Bemerkenswerterweise wird Tietjens in späteren Versionen des Films wieder als Kameramann genannt.
Mehr noch als in anderen Phasen war der Film in der Zeit nach seiner Erstaufführung und der Weltreise ein ‚instabiles Objekt‘, das zwischen Singulärem und Multiplem, zwischen Einheit und Vielheit schwankte, bevor er dann zu dem kohärenten Objekt werden sollte, das Bestand bis in unsere Gegenwart haben wird.
In einer späteren Version erhielt der Film eine neue Titelsequenz: Weiß auf dunklem Grund steht da „Reichsstelle für den Unterrichtsfilm“ (RfdU). Kreisförmig umschließt der Schriftzug ein großes „R“. Visuell legt das Logo oder Siegel den Schwerpunkt auf das Reich und nimmt so vorweg, dass der Lehrfilm im Nationalsozialismus zur wichtigen Aufgabe des neuen Unrechtsstaates wurde. Die RfdU-Titelsequenz erhielten die Strömungsaufnahmen im Jahre 1936, ab 1940 wurden sie durch das Siegel der Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht ersetzt (Abb. 2). Was bedeuten diese neuen Siegel vor den nun schon fast 10 Jahre alten Filmaufnahmen? Welchen Unterschied machen sie? Welche Kontaktzonen ergeben sich zwischen dem Filmmaterial und den Orten, Institutionen und Personen, die seiner habhaft wurden? Zunächst lässt sich festhalten, dass der Film erstmals in eine Institution einging, in der Prandtl nicht selbst tätig war. Genau diese Inbesitznahme des Films durch die RfdU zeigt sich am Siegel und wird bei jeder Vorführung vor den insgesamt wohl Hunderttausenden von Zuschauer*innen, die den Film über die Jahre hinweggesehen haben müssen, wiederholt: Zunächst ist das Siegel zu sehen, dann erst die Prandtl’sche Strömung. Die RfdU, die sich diese und viele weitere Aufnahmen vereinnahmt hat, wurde 1934 gegründet und unterstand dem von Bernhard Rust geleiteten Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Obwohl die RfdU nicht durch Goebbels Propagandaministerium gesteuert wurde, dem die Kontrolle und Lenkung der Presse, des Radios und des Films oblag, war sie dennoch ein Mittel zum gezielten Einsatz des Mediums Film für die NS-Pädagogik und Politik. Ziel der RfdU war es, ein flächendeckendes Verleih- und Vertriebssystem für Schulen und wenig später auch für Hochschulen aufzubauen, um gemäß Rust die „Einheitlichkeit des deutschen Bildungswesens“ zu sichern (Rust 1935).
Die Einführung von Film als Lehrmittel war mit einigen konkreten technischen, organisatorischen und finanziellen Herausforderungen verbunden, die die RfdU anzugehen wusste. Sie verwendete 16mm-Sicherheitsfilm anstelle von 35mm-Nitrozellulose, führte den sogenannten Lehrmittelbeitrag zur Finanzierung ein, und baute ein komplexes Verleihsystem mit einer zentralen Stelle in Berlin auf (Tolle 1961: 13). Der Wirkungsbereich der RfdU blieb nicht lange auf die Klassenzimmer der allgemeinbildenden Schulen beschränkt, sondern weitete sich bald auf die Hörsäle in Hochschulen aus. 1935 wurden in einem Zusatzerlass die „grossen Möglichkeiten, die der Film gerade für Forschung und Lehre in den Hochschulen bietet“, betont und die Abteilung Hochschulfilm gegründet (Rust 1935). Da noch keine Eigenproduktionen vorlagen, musste die RfdU zunächst auf Filme zurückgreifen, die großteils aus der Weimarer Republik stammten. Erst die Übernahme des Bestandes der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Filme (DEGEWI) garantierte einen ausreichend großen Filmbestand bei der Gründung. Die DEGEWI war 1931 von dem jüdischen Unternehmer Max Liebermann gegründet worden und bestand aus Filmen des Verlags wissenschaftlicher Filme, insbesondere aus medizinischen Aufnahmen aus der Charité. Aufgrund juristischer Hürden gelang die Übernahme erst durch das Eingreifen der Gestapo und hochrangiger NS-Beamter 1936 (Schmidt 2002).
Die Institution machte es sich zur generellen Strategie, unerwünschte Namen, wie die von jüdischen Autor*innen, zu tilgen. 1938 entdeckte die RfdU, dass sie mindestens zwei Filme von jüdischen Urhebern veröffentlicht hatte. Der Leiter der Hochschulabteilung, Rassenhygieniker und spätere RWU-Präsident Kurt Gauger schlug vor, die Filme „sofort“ zu streichen und anstelle der entsprechenden Karteikarten blanke Karten einzufügen. Bei den Filmen, bei denen jüdische Mitarbeiter*innen beteiligt waren, wurden ebenso die Titel gekürzt.4
Parallel zur DEGEWI-Enteignung begann die RfdU, Filme aus dem Besitz von Hochschulen oder Hochschulinstituten zu prüfen.5 Aus diesen Filmen – und nicht aus den DEGEWI-Filmen – wählte die RfdU dann fünf Filme aus, die ab Januar 1936 aus dem Katalog der Abteilung Hochschulfilm zu bestellen waren. An erster Stelle standen Prandtls Filme in zwei Teilen als C1 und C2 – „C“ steht für die Hochschulfilme – mit dem leicht abgewandelten Titel ENTSTEHUNG VON WIRBELN BEI WASSERSTRÖMUNGEN. Der Veröffentlichung gingen zahlreiche Überarbeitungsschritte und diverse Seiten Korrespondenz zwischen Prandtl und der RfdU voraus.6 Zusammenfassend für den Strömungsfilm lässt sich sagen: Bei seiner ersten öffentlichen Vorführung 1927 in London bestand der Film aus einer Aneinanderreihung von einzelnen Filmsequenzen ohne Zwischentitel und ohne klare Dramaturgie, danach wurden die Aufnahmen in einen Film mit Titel, Titelsequenz und Zwischentitel umgearbeitet. Später, für die RfdU, wurden sie gestalterisch neu angepasst. Abgesehen vom Siegel hatte sich im Vergleich zur vorherigen Version nicht sehr viel geändert. Aber gerade diese minimale Änderung bedeutete sehr viel: Die RfdU hat ihren Filmkatalog in den ersten Jahren weitgehend auf wiederverwendete Filme aufgebaut – eine Strategie, die durch die Medienspezifika von Film möglich wurde: Zelluloid ließ sich umschneiden, Vorspanne ließen sich ersetzen. Die RfdU eignete sich existierende Filme an und wertete diese um, indem sie sie in einen neuen Kontext stellte, um sie entsprechend ihrer politischen Ziele der ‚Gleichschaltung‘ zu nutzen. Die Strömungsaufnahmen – als Gründungsdokumente – waren eine wichtige Ressource bei der „medialen Mobilmachung“ des NS-Staates (Segeberg 2004) – und zwar unabhängig davon, ob mit ihnen konkrete ideologische Inhalte transportiert wurden oder nicht.
Der Begriff der Ressource ist hier dem Vorschlag von Mitchell Ash entlehnt, anstelle einer „Indienstnahme“ oder eines „Missbrauch[s]“ der Wissenschaft durch die Politik – alles Rhetoriken, die von „unreflektierte[n] Moralisierungen“ geprägt sind – von einer gegenseitigen Mobilisierbarkeit der Ressourcen aus den jeweiligen Sphären zu sprechen (Ash 2002: 32f). So hatte auch Prandtl und sein Institut massiv von der Aufrüstung profitiert.7
Nach dem Krieg blieben die Filme gefragt, sie bedurften jedoch einer neuen Rahmung. 1952 wurde Prandtl durch Gotthard Wolf kontaktiert, Leiter der Hochschulabteilung des Nachfolgeinstituts FWU und baldiger Gründer des Instituts für den wissenschaftlichen Film, IWF. Wolf schrieb aus der Bunsenstraße 10 in Göttingen an Prandtl in die Bunsenstraße 10 in Göttingen, und bedankte sich für die Aushändigung der Originalnegative von C1 und C2. Er betont dabei, dass Prandtls Filme „noch immer zu den meistgefragtesten Unterrichtsfilmen überhaupt“ gehören würden.8 Die Strömungsfilme behielten nach dem Krieg ihre Führungsrolle als C1 und C2. Auch die Nachbarschaften zu anderen Filmen blieben mehrheitlich dieselben. Allerdings wurde das Zelluloid mit dem RfdU- oder RWU-Siegel, die sie über zehn Jahre eingeführt hatten, in der Nachkriegszeit ersetzt. In den 1950er Jahren erhielten sie schließlich eine neue, doch sehr ähnliche Titelsequenz, die sie bis heute tragen: Von einem weißen Kreis eingefasst waren nun die Buchstaben IWF, was für das Institut für den wissenschaftlichen Film stand. Nicht mehr Reich, sondern Institut, nicht mehr Unrechtsstaat, sondern überstaatliche und ideologiefreie Wissenschaft war der neue Bedeutungshof.
Im selben Jahr der Korrespondenz mit Prandtl gründete Wolf die Encyclopaedia Cinematographica und versah deren Filme mit ähnlichem Siegel. Mit der EC riss er ein Projekt an sich, das mitunter der (heute in Vergessenheit geratene) Biologe Otto Storch zuvor bei der International Scientific Film Association vorgestellt hatte. Auch Storchs Name verschwand aus der Geschichte der EC. Die EC etablierte sich als bundesrepublikanisches Vorzeigeprojekte; das IWF als in seiner Größe und vor allem seinen Ambitionen international vergleichsloses Institut, das Filme von Forschenden für Forschende und Studierende produzierte, verlieh und verkaufte (Waltenspül 2024).
Was die neue Titelsequenz vergessen machen möchte, ist dass das IWF die Nachfolgeinstitution der Hochschulabteilung respektive der wehrwichtigen Geheimabteilung Technischer Forschungsfilm der RWU war. Gotthard Wolf als Leiter der Abteilung hatte während des Krieges die Trajektorie von Geschossen mittels Film untersucht oder plante die Erforschung der Wirkung und Ausbreitung von Kampfgas in engen Räumen. Nach dem Krieg schlug er die Tilgung von Namen von in Nürnberg angeklagten Kriegsverbrechern vor, um deren Filme weiterverwenden zu können, ließ die Hakenkreuze abkratzen und wegschneiden und nahm die durch die US-Besatzung verbotenen Filme wieder in den Katalog auf. Was Wolf nebst den Filmen und dem Personal im IWF auch wiederverwendete, waren die Gestaltungs- und Theoretisierungsprinzipen der Forschungsfilme der NS-Vorgängerinstitution (Waltenspül 2021 und 2024).
Die IWF-Version des Strömungsfilms mit dem IWF-Vorspann – sowie die verbotenen Filme von Geschossen und Kriegsverbrechern sind heute auf dem AV-Portal der Technischen Informationsbibliothek Hannover zu finden.
Auch auf der anderen Seite des Atlantiks fügten sich die Göttinger Strömungsaufnahmen scheinbar mühelos in ein Großprojekt filmischen Wissens ein. Zwischen 1959 und 1969, während der entscheidenden Phase des space race, veröffentlichte das US-amerikanische National Committee for Fluid Mechanics Films, kurz NCFMF, 22 16mm-Tonfilme. Das NCFMF ist damit das umfassendste Lehrfilmprogramm zur Fluiddynamik im 20. Jahrhundert. Die ersten drei veröffentlichten Lehrfilme (FLUID DYNAMICS OF DRAG, 1959, VORTICITY, 1961, UND FLOW VISUALIZATION, 1963) beinhalten Sequenzen, die bereits in Prandtls Film aus den 1920er Jahren auftauchen. Des Weiteren produzierte das NCFMF 133 Super-8-Kassetten mit Stummfilmen von zwei bis vier Minuten Länge, von denen sieben ausschließlich aus den Göttinger Strömungsaufnahmen bestehen.
Das NCFMF war Teil einer neuen Wissenschaftsdiplomatie des Kalten Krieges. Hunderte Millionen Dollar flossen in neue Curricula an high schools und colleges – nicht nur in Physik und Fluiddynamik, sondern auch Biologie, Chemie und andere Fächern (Rudolph 2002). Zentraler Teil dieser Curricula waren 16mm-Filme, die national und international distribuiert wurden. Die Filme sollten Wissenschaftler*innen für die militärisch-industriell-akademische Großforschung rekrutieren. Und sie sollten ein Bild der Wissenschaft präsentieren, das ideologiefrei, rational und freiheitlich war – und damit ein Gegenbild zur Wissenschaft des Ostblocks liefern, die als ideologisch und politisch gesteuert gesehen wurde. Das Vorhaben war also nicht ohne Widersprüche: die Ideologiefreiheit war politisch gesteuert und finanziert vom US-Geheimdienst (Schulze 2020). Diese Wiederverwendung der Strömungsaufnahmen ist zunächst interessant, weil die politische Elastizität und internationale Mobilität der Ressource wissenschaftlicher Film befragbar wird – insbesondere nach der Episode zur RfdU und zum IWF. An diesem Beispiel lässt sich nachvollziehen, wie wissenschaftlicher Film Grenzen überwinden konnte, wie flexibel er dabei einsetzbar war, mit welchen Interessen und von wem filmisches Strömungswissen eingesetzt wurde und warum sich vielleicht gerade ein solcher referenzloser Film, der keine Verortung des Labors zulässt, zur Rekrutierung eignete (Schulze 2024).
Im Hinblick auf Credits wirft diese Aneignung die Frage auf, wo und wie Prandtl, Tietjens oder die bis dato an der Distribution des Films beteiligten Institutionen im Rahmen dieses umfassenden Lehrfilmprojekts genannt oder eben ausgelassen wurden. Dafür ist es zunächst wichtig zu verstehen, wie die Strömungsaufnahmen konkret in die Lehrfilme integriert wurden. Das lässt sich anhand des Films VORTICITY aus dem Jahr 1961 veranschaulichen (Abb. 3). Dieser beginnt damit, wie der MIT Professor für Maschinenbau Ascher Shapiro ruhig in die Kamera spricht. Im Anzug mit Krawatte sitzt er am Schreibtisch. Im weiteren Verlauf führt uns Shapiro durch die grundlegenden Theoreme zu Wirbelbewegungen. Wir sehen Close-ups seiner von ihm geschriebenen Formeln und Bleistiftzeichnungen. Vor allem aber können wir fluiddynamische Experimente verfolgen, die im Studio in Watertown, Massachusetts, unweit des MIT Campus inszeniert wurden. Etwa 17 Minuten nach Beginn sind plötzlich Ausschnitte aus dem Strömungsfilm zu sehen. Es gibt keinen Hinweis auf die Herkunft der Aufnahmen, auch Prandtl wird nicht erwähnt, wenngleich sein Konzept der Grenzschicht den ganzen Film durchwirkt. Einige Minuten später kommen nochmals Aufnahmen aus dem Strömungsfilm, diesmal von Tragflügeln, die Shapiro per Voiceover erläutert. Schließlich wird der Film zum Standbild und dieses wird mit Grafiken überlagert. Die Grafiken schlagen eine Brücke zwischen Theorie und Filmbild und vermitteln visuell zwischen dem Labormaterial Prandtls aus den 1920er Jahren und der Lehrfilmästhetik der 1960er Jahre. Mit anderen Worten: Die Aneignung wird im Film selbst unsichtbar gemacht. Insgesamt stammen 3 Minuten des 44 Minuten langen Films aus Göttingen und nicht aus Massachusetts.
In Analogie zum wissenschaftlichen Text lässt sich festhalten, dass Shapiro sich das filmische Material Prandtls und Tietjens auf eine Weise aneignet, als würde er sie zitieren und dann auf dem Zitat aufbauend argumentieren, ohne sie jedoch im Text selbst zu nennen, was einem Plagiat gleichkäme. Die Frage ist demnach: Was wäre das filmische Pendant zur Fußnote in diesem Fall, jener üblichen Form der Anerkennung von Vorgänger*innen, Verbündeten oder Vorbildern im Wissenschaftsbetrieb, die den Lesefluss selbst nicht unterbricht? Zum Status von solchen Aneignungen wissenschaftlichen Filmmaterials ist in der Filmwissenschaft bisher wenig bekannt, auch wenn nach Christa Blümlinger die „Verwendung von Vorgefundenem im Film [...] dem Medium durch Montage und Reproduktivität eingeschrieben ist“ und sich die Filmwissenschaft schon lange mit Found Footage beschäftigt (2009: 9). Die Rolle der Fußnote übernimmt im ersten Film der Reihe, FLUID DYNAMICS OF DRAG, der Schlusstitel. Dort heißt es noch ausführlich: „Special acknowledgment to L. Prandtl for excerpts from ‚Production of Vortices‘“. Bei den weiteren Filmen verschwindet die Zitation im Laufe der Zeit: Beim zweiten Film VORTICITY sind nur noch „Scenes from ‚Production of Vortices‘ by L. Prandtl“ aufgelistet. Bei FLOW VISUALIZATION, dem dritten Film, der immerhin mit ikonischen Bildern aus Prandtls Film einsteigt, findet sich am Ende gar kein Hinweis mehr. Und auch beim MIT Video Course, den Shapiro in den 1980er Jahren produzierte und mit Göttinger Filmmaterial anreicherte (womit das Göttinger Filmmaterial den nächsten Medienwechsel durchmachte), findet sich kein Hinweis auf die Herkunft des Materials. Prandtls Material wird folglich immer mehr als eigenes gerahmt und schließlich vereinnahmt.
Während die Quellenangabe (zumindest in den ersten Filmen) im Abspann versteckt wurde, findet sich eine ausführliche Anerkennung des Filmmaterials in dem wichtigsten Paratext zum ersten NCFMF Film. Darin wird deutlich, wie zentral die Göttinger Schnipsel für Shapiro waren. Im Vorwort zum Buch Shape and Flow – das interessanterweise als „the film in print“ bezeichnet wird – schreibt Shapiro explizit: „I am indebted [...] to the late Ludwig Prandtl for classic film sequences now thirty years old as well as the inspiration of his style [...].“ (Shapiro 1961). Shapiro konstruiert eine patrilineare Ahnenreihe, wie es für die Wissenschaften typisch ist, um wechselseitig sein eigenes wie auch das Filmprojekt Prandtls aufzuwerten. Er hebt außerdem die Filmsequenzen in den Status des Klassischen und er rekurriert auf den Stil, jenen vielsagenden Vermittlungsbegriff zwischen Form und Inhalt, der in der Kunst- wie in der Wissenschaftsgeschichte zentral ist (man denke an Ludwik Flecks Denkstil).
Vergleicht man Shapiros unterschiedliche Credits, so ergibt sich kein klares Bild: Die Verwendung von Prandtls Material im Film macht den Eindruck einer bruch- und referenzlosen Aneignung, die Angaben in den Abspannen schwanken zwischen Bibliografie und Plagiat, und die Paratexte erinnern an typische Ahnenkonstruktionen. Shapiros Vereinnahmung von Prandtls Material schien keiner bewussten Strategie zu folgen, sondern sich vielmehr aus der medialen Affordanz des Films ergeben zu haben.
2004 kuratierte der Experimentalfilmer Joost Rekveld nach einer Residency am niederländischen Filmmuseum (das heute Eye Filmmuseum heißt) ein umfassendes Film- und Ausstellungsprogramm. In diesem Programm, das Rekveld 4D nannte, ging es darum, die Sammlung des Museums mit seinen eigenen Werken und den Werken László Moholy-Nagys in Verbindung zu bringen. Teil des Eröffnungsprogramms und eines thematischen Programms zu particles and crystals war auch der Prandtl’sche Film – genauer eine 35mm Nitro-Version, die Prandtl 1930/31 für den internationalen Luftfahrt-Kongress in Den Haag erstellt hatte.9 Somit erhielt der alte Film im Jahre 2004 neue Nachbarschaften. Er wird Teil des Kanons des Experimentalfilmschaffens: Nicht nur neben Moholy-Nagy, sondern auch neben Henri Chomette, Len Lye, Stan Brakhage und vielen weiteren. In einer Zeitungsrezension zum Programm wird der Strömungsfilm zum „betörend schönen Film“ und damit gewissermaßen zum Kunstwerk erhoben (van Delft 2004).
In dieser Episode erhielt der Göttinger Film keine neuen Titelsequenzen. Aber der Film wurde in Programmlisten eingebaut. Interessant ist, dass in diesen Prandtls Name entweder gar nicht auftaucht oder falsch geschrieben ist: „L. Prandh“ heißt der neue Urheber des Films, der kein Ingenieur, aber vielleicht ein Künstler war? Entgegen der Ahnenreihe eines Sehstils wie beim NCFMF können wir in diesem Fall also eine radikale Entkontextualisierung konstatieren.
Interessanterweise wird der falsch geschriebene Name in anderen Programmen weitertradiert, die auf die Version im Eye zurückgehen und in denen der Film neben weiteren Experimentalfilmklassikern auftaucht – etwa am Avanto Filmfestival in Helsinki (Abb. 4). In einem Programm des Nederlands Silent Film Festival von 2019 wiederum, in denen Prandtls Name gar nicht auftaucht und der Filmtitel mit „Korp“ statt „Körpern“ endet, wird er sogar als niederländischer Film angekündigt. Bei einem Filmprogramm am CCCB in Barcelona wiederum wird Prandtl zwar richtig geschrieben, aber – wohl aufgrund der Webseitenlogiken – zum aktiven Teilnehmer an einem Filmprogramm zu „Phantasmagorien“ von 2012 erklärt.
In all diesen Programmen und den sie begleitenden Texten findet sich keine Spur davon, dass der Film eine wichtige Rolle für die Durchsetzung der Grenzschichttheorie spielte, keine Spur von seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, von seiner Verwendung im Kalten Krieg. Die abstrakte Ästhetik des Films, in der das Prinzip der Bewegung auf harte monochrome Kontraste von Punkten, Strichen und geometrischen Formen reduziert ist, gerät in den Vordergrund – eine Ästhetik die sich mit jener der Filmavantgarden trifft. Der Film wird zur ästhetischen Erfahrung und zur kuratorischen Ressource – so wie wissenschaftliche Filme in der Filmgeschichte immer wieder zur Ressource für die künstlerische und kuratorische Inspiration wurden.
Die Geschichte des Films endet nicht mit seiner Wiederaufführung im Rahmen von Experimentalfilmprogrammen. Es gibt weitere Episoden, denn wie der Titel dieses Textes vorwegnimmt: Es ist ein Film mit vielen Enden. Ein Film, dessen Geschichte so liquide ist, wie sein Inhalt. Seine Zirkulationen, genauso wie sein Versickern machen den Film zu einem exemplarischen Untersuchungsgegenstand der wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und vor allem auch politischen Wirksamkeit wissenschaftlicher Filme.
Mit Blick auf die Credits lässt sich zunächst festhalten, dass sich in ihnen die liquide Geschichte des Films oder zumindest einzelne Aspekte dieser wie im Brennglas bündelt. Die Credits können als Erzählstrang dienen, die Zirkulationsgeschichte des Films zu schreiben. Insbesondere der Vergleich der Credits von einer Version zur nächsten verdeutlicht den Wechsel der Logiken der jeweiligen Verwendung. Im Labor selbst brauchte es keine Titel, keine Zuweisung von Autor*innenschaft. Dort stand das Tun im Vordergrund, die Offenheit für das und die Unsicherheit darum, was der Film vom Experiment zeigt. Der Kontakt mit der internationalen Forschungscommunity zwingt zur Angabe derer, die als Urheber des filmischen Wissens zu gelten haben. Als Kontaktzonen zwischen dem Filmmaterial und den Personen und Institutionen, die ihn verwenden, lässt sich im Vergleich der Credits von einer Verwendung zur nächsten jeweils die Agenda der Aneignung erkennen. Auf der Ebene des Filmmaterials hat sich im Nationalsozialismus die RfdU eine Vielzahl von Filmen – so auch den Strömungsfilm – mittels Siegel angeeignet. Selbiges tat die bundesrepublikanische Nachfolgeinstitution, allerdings veränderte sie das Siegel, um die nationalsozialistische Vergangenheit zum Verschwinden zu bringen und politisch neu (neutraler, unbelasteter, objektiver) zu besetzen.
Aber die Credits haben die uns bekannte Geschichte des Films nicht nur widergespiegelt, sondern unseren Blick auf einzelne Aspekte gelenkt, die die Geschichte in ein neues Licht rücken. Wann verschwand Oskar Tietjens, inwieweit wurde er unsichtbar gemacht? Prandtls Vereinnahmung des Filmmaterials als „Director“ und das damit einhergehende Verschwinden von Tietjens hin zum „invisible technician“ wird erst an den Titelsequenzen ables- und dokumentierbar. Auch bei der Verwendung der Strömungsaufnahmen in den US-amerikanischen Wissenschaftsfilmen des Kalten Krieges wird erst bei einem Blick auf die Angabe der Credits deutlich, dass sich eindeutige Formen des Zitierens von Film in Filmen und in Paratexten nicht etabliert hatten (und bis heute nicht etabliert sind). Jenseits der Fragen nach den ideologischen Zielen der Aneignung rücken die Credits die Medienspezifika von Film- und Textzitat in den Blick. Bei der Neuprogrammierung des Films im Kunst- und Museumskontext lohnte ein genauerer Blick auf die Listen: Es gingen Urheber und Titel verloren oder es wurden sogar neue erfunden wie L. Prandh. Die damit einhergehende Entkontextualisierung ist es, die den Film zur ästhetischen Erfahrung werden lässt, losgelöst von der Last der Personen, Theorien, Politiken und Geschichte. Damit kann der Film weiterfließen.
Begriffsprägend war Kopytoff 1986. Vgl. für eine rezente Übersicht zur Methode: Vogel 2022.
Explizit als „film biography“ bezeichnet der Theologe Dwight Friesen seine Analysen dazu, wie biblische Filme im täglichen Leben von Christ*innen funktionieren (2018). Die Filmwissenschaftler Barry Maurer und Davis Morton schreiben eine „cinematic biography“ über wenige Minuten Filmmaterial von einer Cable-Car Fahrt durch San Francisco kurz vor dem Erdbeben 1906 (2022). Metaphorisch spricht der Historiker Bill Niven in seiner Rezeptionsstudie zu JUD SÜSS, einem Dauerbrenner in den Studien zum NS-Film, vom langen Leben des Propagandafilms (2022).
Vgl. Prandtl, Ludwig (1927): The Generation of Vortices in Fluids of Small Viscosity. Wilbur Wright Memorial Lecture, 16. Mai 1927, Journal of the Royal Aeronautical Society 33/198, 720–741.
Mommsen-Spiess an Schwarz, 22.7.1938, BArch R-169-15 fol. 3–4.
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Siehe Korrespondenz Prandtl/RfdU, AMPG I/44/1305.
Die Bewertungen von Prantdls Person oder seinem Verhalten reichen von „[contradictory]
political attitudes“ (Eckert 2005: 130), über „either the ‚Nazi‘ or the ‚resistance fighter‘“ zur „gray area in between“ (Hentschel 1996: xvi-xvii), bis hin zum Optimismus bei der Machtergreifung (Epple/Schmaltz 2010: 155).
Wolf an Prandtl, 07.06.1952, AMPG III/61/739.
Vgl. zum kuratorischen Programm Rekvelds: Programma A-Z, in: Zine. Filmmuseum-magazine No.7, September 2004, sowie Rekveld, Joost (2004/2006) 4D. Introduction to the program, in: http://www.joostrekveld.net/wp/?p=488 (21.3.2023).
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