Mark Romanek, ONE HOUR PHOTO
In einer Szene, gleich am Anfang des Films, erzählt die Lieblingskundin des Fotolaboranten Sy Parrish, ihr Mann habe ihr geraten, den alten Apparat endlich aufzugeben und sich eine Digitalkamera zu kaufen. Natürlich wird Sy diesen Vorschlag missbilligen und sie fürs erste davon abbringen, aber das ändert nichts daran, dass Mark Romaneks ONE HOUR PHOTO spätestens von dieser Szene an als ein Film über eine aussterbende Technik und ein Medium im Prozess des Verschwindens markiert ist. Aus analog wird digital, aus Abzügen werden Ausdrucke, und eines Tages, in nicht zu ferner Zukunft, wird der Beruf des Fotolaboranten nicht mehr existieren, wird man für Sy Parrishs und seinesgleichen keine Verwendung mehr haben. Tatsächlich trägt der Protagonist von ONE HOUR PHOTO das Verschwinden (to perish) bereits im Namen - vielleicht das deutlichste Zeichen, dass dieser Film seine Geschichte aus der Perspektive des Abschieds erzählt.
Die Fotografie: Was sie war, wozu man sie verwendete, unter welchen Vorzeichen man sie wahrgenommen hat. Wie bei letzten Blicken manchmal der Fall, hat auch dieser etwas Enzyklopädisches und ein wenig erinnert er an jene Aufzählung der fotografischen Gebrauchsweisen, die Susan Sontag im vorletzten Kapitel ihres Buches Über Fotografie vorgenommen hat. "Mit Hilfe der Fotografie", so Sontag, "lassen sich Passbilder und Wetteraufnahmen machen, pornografische Bilder, Röntgenaufnahmen, Hochzeitsfotos und Atgets Paris" (Sontag 1980: 144). Romanek adaptiert diese Liste auf seine Weise, doch erzählt auch sein Film davon, dass mit Hilfe der Fotografie Porträtaufnahmen gemacht werden können, pornografische Bilder, Bilder von Haustieren, Verkehrsunfällen und Kinderfesten, Bilder zu Werbezwecken, Bilder für das Verbrecheralbum, Bilder für den privaten Gebrauch und solche, die ganz und gar für die Außendarstellung gemacht sind. Hinter der Theke des Foto-Service, dort, wo die Abzüge zur Abholung bereitliegen, kennt man die Spielarten fotografischer Betätigung nur zu gut; alle Arten und einige Abarten, was für die Laboranten mehr oder weniger dasselbe bedeutet.
Ebenso verhält es sich mit den Gesten. Auch von diesen setzt der Film eine ganze Reihe in Szene, oder besser: er inszeniert die fotografische Geste aufgefächert zu einem Spektrum, in dem sie mal Geste der Aneignung ist, mal Drohgebärde, mal kompensatorischer Akt, ein Versuch der Teilhabe oder eine Bewegung der Transgression. In ONE HOUR PHOTO fotografiert man, um zu zeigen, dass man da war, um festzuhalten, dass etwas stattgefunden hat, um zu bekommen, was man sonst nicht bekommen würde, um dabei zu sein, um zu erinnern, um zu bestrafen, um Angst zu machen und um sich als Augenzeugen auszuweisen. Nicht alle Deutungsmuster, die in der Geschichte der Foto-Theorie ausgebildet worden sind, finden sich hier vertreten, aber doch eine gewisse Bandbreite: so und so viele Variationen einer Bewegung, die stets etwas mehr impliziert zu haben scheint als nur den Druck auf den Auslöser.
Um es einem Satz zu sagen: Dieser Film sammelt. Sammelt Ideen zum Gebrauch der Fotografie, sammelt Interpretationen der fotografischen Aktivität, sammelt Diskurse, sammelt Theoreme. Das Ganze natürlich nicht sorgfältig abgestimmt (es geht hier alles mögliche durcheinander), aber doch formatiert zu einer Geschichte, die nicht zuletzt davon handelt, dass 'Die Fotografie', von der Roland Barthes einmal sagte, sie existiere nicht im Modus des 'an sich' (Barthes 1989: 12), im wesentlichen das ist, was man daraus macht. Nennen Sie es: einen Querschnitt, vielleicht auch, warum nicht, ein Album – Sammelalbum der Foto-Konzeptionen, Reminiszenz an eine durchaus vielstellige Theorie-Geschichte.
Reminiszenz an eine Profession ist ONE HOUR PHOTO außerdem; das heißt: an die Gestalten, um die das Kino den Mythos der fotografischen Profession bereichert hat. In der Geschichte des Films figurieren die Fotografen als Folterknechte (TWO EVIL EYES), als Seher (EYES OF LAURA MARS), als Detektive (REAR WINDOW, BLOW UP), als Augenzeugen (CITY OF GOD und LIFE ACCORDING TO AGFA), als Kriegshelden (UNDER FIRE, aber auch WAR PHOTOGRAPHER), als Künstler mit einem Hang zur Selbstzerstörung (HIGH ART). Was die meisten dieser Figuren kennzeichnet, ist eine gewisse Nähe zur Gefahr, wobei der Mann mit der Kamera (ein paar Frauen gibt es natürlich auch) auf beiden Seiten anzutreffen sein kann. Fotografen bezeugen Verbrechen, sehen Verbrechen voraus, kommen Verbrechen auf die Spur oder halten sie im Bild fest. Manchmal indes begehen sie auch Verbrechen oder sehen dabei zu, wie sie verübt werden, und wo die kriminologische Dimension fehlt, stellt das Kino sie immer noch als problematische Figuren dar, abgründig oder zum mindesten gefährdet.
Eine verdächtige Profession, vielleicht lässt es sich in diese Formel fassen. Zugleich ist es eine gründlich mythifizierte, aber das ändert nichts an ihrer Ambivalenz, sondern geht eher damit einher. Diese Figuren scheinen immer kurz davor oder nahe daran, sich schuldig zu machen (der unzulässigen Neugierde, des aufdringlichen Blicks, des Voyeurismus oder anderer Formen der Transgression), und Romanek schließt in ONE HOUR PHOTO an diese Tradition an, indem er gleich den ersten Auftritt seines Protagonisten auf das Polizeirevier verlegt. Er ist verhaftet, man weiß noch nicht warum, er hat etwas getan, man weiß noch nicht was, nur dass die erste Szene nichts anderes zum Inhalt hat als Mr Parrishs Aufnahme in das Verbrecheralbum.
Sy Parrish, Fotolaborant. Zu irgendetwas ist er fähig gewesen. Das überrascht, denn was in der folgenden Rückblende (eigentlich während der ganzen ersten Stunde des Films) gezeigt wird, sieht eher danach aus, als sei ihm kaum etwas zuzutrauen außer den paar Handgriffen, die seine Arbeit an den Apparaten des Labors erfordert. Mit den bekannten Faszinationsfiguren des Foto-Kinos hat Romaneks Anti-Held auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam - gar nichts eigentlich, außer eben den Umgang mit fotografischen Bildern, nur besteht Sys Job hinter der Foto-Theke im wesentlichen darin, die fotografische Produktion anderer in Gang zu halten.
Hilfsarbeiten. Eben daraus setzt sich der 8-Stunden-Tag dieses Protagonisten zusammen, und was an Material durch seine Hände geht, ist kaum geeignet, seine Arbeit wenigstens indirekt mit etwas Glanz auszustatten. Die Aufnahmen, die Sy Parrish entgegennimmt und aushändigt, gehören eher zu dem, was man "Massenware" nennt: automatisch generiert, automatisch prozessiert, in Stapeln sortiert, eingetütet und den Seriennummern entsprechend wieder ausgehändigt. Fotografie bei Romanek ist Fotografie im Zeitalter der automatisierten Verfahren, der Annahmeschalter, 24-Stunden-Dienste, Schnelldurchläufe und Rabattpreise, sein Protagonist ein Operator, dessen Tätigkeit auf das Register von Sekundärtätigkeiten reduziert worden ist. Dennoch, und das könnte ein erster Hinweis darauf sein, dass man ihn nicht unterschätzen sollte, erweist sich Mr. Parrish als einer jener Angestellten, die ihre Aufgabe ernst nehmen, sehr ernst sogar, was eine gewisse Konfliktbereitschaft einschließt.
Er ist ein anstrengender Mitarbeiter, das zweifellos, aber als man ihn schließlich hinauswirft, geschieht es nicht wegen seiner gelegentlichen Ausfälle, sondern wegen der verschwundenen Prints. Hunderte von Prints, sagt der Manager des Supermarkts, alle im Zählwerk des Prozessors erfasst, alle wie von der Bildfläche verschwunden und alle, aber das weiß der Manager nicht, mit Aufnahmen derselben Familie, die seit vielen Jahren die Foto-Theke des Supermarkts frequentiert. Parrishs Familie: Sie ist es und sie ist es nicht, für den Laboranten ein Gegenstand der Faszination und Sehnsucht und in jedem Fall ein lohnendes Studienobjekt, wo es um die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie geht. Was die Familie Yorkin (Mutter Nina, Vater Will, Sohn Jake) interessant macht, lange bevor die Geschichte von den entwendeten Prints die Züge eines Dramas annimmt, ist, dass ihre fotografischen Aktivitäten ziemlich exakt jenen Operationen korrespondieren, die Pierre Bourdieu in seiner bekannten Studie untersucht hat (Bourdieu 1990: 13-72).
Familien, dies die zentrale These Bourdieus, machen Fotos, um sich ihrer selbst zu versichern und um ihren Zusammenhalt in Szene zu setzen, und wo ein solcher Zusammenhalt nicht mehr gegeben ist (dies die zweite These), wird die fotografische Aktivität nur um so bedeutender, diesmal als Symptom einer Krise. Eben dies wäre in ONE HOUR PHOTO zu studieren: Fotografie als kompensatorische Praxis, die einen Prozess der Desintegration eher begleitet als konterkariert. Die Familie jedenfalls, deren Bilder Sy Parrish mit so viel Eifer in seinen Besitz überführt hat, ist zu dem Zeitpunkt, da der Film einsetzt, bereits schwer angeschlagen. Ihren Fotos sieht man das noch nicht an, doch scheint das erste Anzeichen bereits in der Häufigkeit gegeben, mit der sie sich der Kamera bedient.
"You are one of our best costumers", sagt Sy. Und wirklich ist der fotografische Output der Yorkins sehr beachtlich. Bilder von Jake, Bilder von Nina, Bilder von Nina und Jake und Vater Will, dazu Aufnahmen von Sommernachmittagen und Skiferien, von gemeinsamen Mahlzeiten und von der ganzen Familie unter dem Weihnachtsbaum. Mit dem Aufbau einer Fassade ('schöner Schein' vs. 'hässliche Wahrheit') hat das übrigens wenig zu tun. Fotografie, wie sie hier praktiziert wird, ist keine Sache der Außenwirkung, das heißt: der Diavorführungen, Fotoalben und ständig mitgeführten Kinderporträts. Diese Familie fotografiert nicht zum Zweck der Vorspiegelung, sondern als eine Art Abwehrzauber: eine etwas verzweifelte Aktivität, denn in manchen Momenten sieht es tatsächlich so aus, als sei ihre Integrität nurmehr unter fotografischen Bedingungen zu garantieren.
Verzweifelt oder panisch oder einfach: als wäre nichts geschehen. Entscheidend bei all dem ist nicht die Produktion eines bestimmten Anblicks, sondern die Reproduktion einer bestimmten Geste, die zwar auch eine Reihe von Aufnahmen hervorbringt, ihre eigentlichen Qualitäten aber aus dem Vorgang der Wiederholung gewinnt. Noch machen sie Fotos, noch finden sie sich dafür zusammen, noch ist das Ritual der Selbstdokumentation nicht ausgesetzt; noch zirkulieren ihre Bilder. Eine Formel gibt es, die geeignet sein könnte, den heroischen ebenso wie den insistenten Charakter dieser anhaltenden Bilderproduktion zu fassen, i.e. der Aktivität der Yorkins etwas wie eine Parole zu geben. 'We are still here' / 'wir sind noch da' / 'noch nicht erledigt', lautet ein Lieblingssatz der amerikanischen Kinos, und was ONE HOUR PHOTO demonstriert, ist unter anderem, dass die Fotografie zu ihm in einem besonderen Verhältnis steht.
Sie betrügen nicht; sie versuchen nur, ein Wunder zu wirken. Betrugsmanöver, sofern ONE HOUR PHOTO sich überhaupt damit befasst, fallen eher in die Zuständigkeit von Sy Parrish, der fotografische Abzüge entwendet oder auf Flohmärkten erwirbt, um sie dann als Bilder seiner Familie auszugeben. Eine Aufnahme Jake Yorkins präsentiert er als Bild seines "kleinen Neffen", ein Foto, das er aus irgend einem Karton gefischt hat, als Porträt seiner Mutter, und beide Male führt Romanek vor, dass sich die Hochstapelei seines Protagonisten auf viel mehr erstreckt als nur die Besitzrechte an zwei Abzügen – auf eine Familie, die er nicht hat; eine Vorgeschichte, die er ebenfalls nicht hat, aber zu besitzen vorgibt; einen Anschein von Vergangenheit, eine Andeutung von sozialer Verbundenheit, in gewisser Hinsicht sogar eine Idee von Glück, wie er sie gelegentlich in den Fotos seiner Kunden festgehalten glaubt. Letztlich funktioniert das eine wie das andere Foto hier als eine Art Anteil- oder Optionsschein; und dabei handelt es sich nicht einmal um Zweckentfremdung des Bildes, sondern lediglich um einen Fall von angemaßter (i.e. illegitimer) Teilhabe.
"Get a life" sagt man im amerikanischen Kino gelegentlich zu Personen, deren Präsenz als allzu aufdringlich empfunden wird. Sy Parrish verschafft sich ein Leben mit Hilfe von zwei Bildern aus dem Apparat und einer Geste (eben der des Vorzeigens), die er bislang nur anderen beobachtet hat. Dieser Geste korrespondiert eine zweite: jene Bewegung gleich zu Anfang des Films, mit der Sy nach Nina Yorkins Kamera greift und das letzte Bild eines Films dazu verwendet, sich selbst zu fotografieren. Er tut dies, wie man so sagt, &Mac226;vor ihren Augen’, womit hier wie anderswo ein kleiner Skandal beschrieben ist, denn wirklich eignet seiner Handlung etwas Erschreckendes, beinahe Obszönes, einfach weil sich darin ein Begehren vollkommen unverstellt artikuliert. Auf den Film-Streifen und damit in ihre Nähe: Die Reaktionen der anderen Seite zeigen, dass Sys Antrag auf Aufnahme in das Familienalbum als das verstanden wird, was er ist, eine Transgression. "How did this one get in?", fragt Will Yorkin, als er den Fremden auf dem Abzug erblickt, und diese Frage kann sowohl bedeuten: 'Wie kommt das (i.e. diese Aufnahme) da rein (i.e. in diesen Stapel)', als auch: 'Wie kommt der (i.e. dieser Typ) hier rein (i.e. in unsere Nähe)'? Über das weitere Schicksal des Bildes gibt der Film keine Auskunft, doch zeigt ein späterer Tagtraum Sys, wo er es am liebsten sähe: unter anderen Familienfotos am Kühlschrank, wo es, gleichsam vorgreifend installiert, seine Aufnahme in die Welt der Yorkins signalisiert. Und warum sollten sie nicht wenigstens ein Foto von ihm in ihrem Umfeld dulden, da er den ihren in seiner Wohnung so viel Platz eingeräumt hat?
Es ist sehr viel Platz: fast eine ganze Wand mit zwanzig oder dreißig Reihen lückenlos aneinander gefügter Abzüge, fast die gesamte fotografische Produktion aus zehn Jahren des Familienlebens. Er, Sy, hat sie gesammelt, mehr oder weniger vom ersten Tag; er hat sie nach Hause getragen und in seinem Wohnzimmer installiert und von einigen, seinen Lieblingsbildern, einen zweiten Abzug im Großformat angefertigt. Die Wohnung des Fotolaboranten Parrish (aseptisch, farblos, was man sich eben so als Heimstatt einer einsamen Existenz vorstellt) ist ein Ort, an dem keine Spuren von Privatleben zu sehen sind, außer eben die jenes anderen, andernorts geführten, an dem er seit so und so viel Jahren fotografisch partizipiert, und seine Fototapete ein Gebilde, das von allen, die es in Augenschein nehmen, mit einer Mischung aus Horror und Faszination betrachtet wird.
Serienkiller basteln solche Installationen; genauer: Serienkiller basteln Installationen, die der im Wohnzimmer des Mr Parrish auf den ersten Blick sehr ähnlich scheinen: viele kleine Ausschnitte (Press-Cuts, Ausdrucke, Bildmaterial), die über einen langen Zeitraum zusammengetragen und zu einem Gebilde zusammengesetzt werden, wie es beispielsweise in Jonathan Demmes THE SILENCE OF THE LAMBS (1990) oder in Jim Gillespies I KNOW WHAT YOU DID LAST SUMMER (1997) zu finden ist. Dass diese Text-Bild-Collagen gewöhnlich erst in den letzten Szenen des Films auftauchen, hat damit zu tun, dass nach ihrer Entdeckung meist nicht mehr viel zu ermitteln übrig bleibt, eben weil sie mit einem Schlag alles erzählen, auch: alles zeigen, die ganze Geschichte auf einen Blick, in ihren Details ebenso wie in ihrem großen Zusammenhang.
Was die Installation in ONE HOUR PHOTO von solchen Gebilden unterscheidet, ist erstens, dass sie keinerlei Textpartikel enthält, und zweitens, dass sie ungeachtet ihrer Vielstelligkeit nicht wirklich in ein Narrativ zu übersetzet werden kann. Dieser Bildteppich ordnet sich nicht zu einer Story, und was es hier zu sehen gibt, ließe sich letztlich in einem einzigen Satz zusammenfassen, der dann nurmehr repetiert werden könnte. Von Bild zu Bild, von Reihe zu Reihe, erzählt die Fototapete davon, dass die Familie Yorkin ein glückliches Leben führt, und weil dies nichts anderes beschreibt als ein Phantasma, wäre der Satz wohl dahingehend zu präzisieren, dass die Fototapete von Sys Obsession erzählt, die Yorkins als glückliche Familie zu betrachten. Mr Parrish, ein Serientäter der etwas anderen Art, hat Hunderte von Abzügen in seinen Besitz gebracht, nicht um mit ihrer Hilfe eine Geschichte zu konstruieren, sondern um in jedem von ihnen dasselbe aufzufinden. Ebenso wie für die fotografisch hyperaktiven Yorkins ist es für ihn ziemlich bedeutungslos, was das Foto zeigt, vorausgesetzt, dass es nicht aus der Reihe der immer neuen, immer gleichen Aufnahmen herausfällt. Solange in dem einen Haushalt Fotos gemacht werden und man sie in dem anderen auf die Wand kleben kann, mag die Welt brüchig sein, wie sie will, sie fällt immerhin nicht auseinander. Und wenn sie es am Ende doch tut, wird der Zusammenbruch genau dadurch eingeleitet, dass Mr Parrish beschließt, sich ein Bild aus der Tapete etwas genauer zu betrachten.
Es ist eine enigmatische Szene. Eines Tages gerät der Mann vor dem Bilderteppich in Unruhe, greift zur Lupe und findet auf einem der vier- oder fünfhundert Fotos ein Gesicht. Nichts als ein Gesicht: Es ist wichtig zu betonen, dass Sy Parrish bei seiner Betrachtung nichts weiter unter die Augen kommt (keine verfänglichen Szenen, keine verräterische Handlung); dennoch hat es ganz den Anschein, als reichte der eine Anblick völlig aus und als sei alles, was ihm danach an fotografischen Zeugnissen noch begegnet, im Register des post scriptum angesiedelt. The things we fear the most have already happened to us, heißt es in einem Ratgeber, aus dem in ONE HOUR PHOTO zitiert wird. Für Mr. Parrish bedeutet dies, dass sich in seiner Foto-Installation neben den vielen Aufnahmen der geliebten Gestalten noch eine weitere befindet, in der er mit einem Mal, ganz ohne Anleitung oder Erklärung, die Geliebte von Will Yorkin erkennt.
Er sieht es sich an, er weiß Bescheid; danach fährt er ins Labor und entdeckt dort einen Satz eben entwickelter Aufnahmen, die Will und die Geliebte beim Ehebruch zeigen. Das Beweismaterial wird sozusagen umgehend nachgeliefert, aber das ändert nichts daran, dass die Entdeckung bereits stattgefunden hat, und dass sie sich auf anderes Material stützt als das kleine Paket konventionell verräterischer Bilder, das Sy wenig später der betrogenen Ehefrau zuspielt. Dies ist das Rätsel, das eigentliche Ereignis in ONE HOUR PHOTO: dass dem Laboranten Parrish seine Erkenntnis anhand eines Fotos zuteil wird, auf dem im Grunde nichts zu sehen ist, jedenfalls nicht mehr und nichts anderes als das, was ihm schon die ganze Zeit vor Augen gestanden hat. Plötzlich genügt ein Blick, und dieser Blick ist nicht derselbe wie der jener Betrachter, die erst das eine oder andere in Erfahrung bringen müssen, bevor sie ein bestimmtes Foto zu interpretieren verstehen. Sy Parrish, Foto-Parasit, Foto-Liebhaber, auf seine Weise ein Experte in fotografischen Fragen, ist nicht der Protagonist eines Ermittlungsprozesses, sondern Adressat einer fotografischen Enthüllung.
Zwei Dinge sind es, die Sy vor der beklebten Wand in seinem Wohnzimmer erkennt. Zum einen, dass es um das Glück der geliebten Familie nicht so steht, wie er gerne glauben wollte; zum anderen, dass der Bilderteppich, den er zur Kontemplation dieses Glücks installiert hatte, immer schon versehrt war, das heißt: mit einer empfindlichen Stelle versehen. Das Gesicht auf dem Gruppenfoto scheint unauffällig (auch: insignifikant) genug und ist doch zugleich Schauplatz einer Irritation, die das homogene Feld der Fototapete durcheinander bringt: ein Riss im Gefüge, wenn man so will, oder, mit einem Begriff, der dem fotografischen Medium sehr viel näher ist: eine Punktierung.
Es war Roland Barthes, der den Begriff der Punktierung in die Fototheorie eingeführt hat: Punctum heißt bekanntlich jenes analytisch schwer fassbare Element innerhalb des fotografischen Feldes, das der Autor der Hellen Kammer als eines beschrieb, das "mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)" (Barthes 1989: 36).
"In dem meist einförmigen Raum zieht mich bisweilen (...) ein 'Detail' an. Ich spüre, dass bereits seine bloße Anwesenheit meine Betrachtung verändert, dass es eine neue Photographie (sic) ist, die ich betrachte, eine, die in meinen Augen durch einen höheren Wert hervorsticht" (Barthes 1989: 52).
Ein höherer Wert, ein andere Betrachtung. Mit Sicherheit ein höherer Grad von Insistenz, denn das mit einem punctum versehene Foto ist eines, das seinem Betrachter nicht mehr aus dem Kopf geht, obwohl oder gerade weil sich an ihm nicht aufzeigen lässt, warum es vor allen anderen ausgezeichnet scheint. Für die Fotos, die Barthes in seinem Buch versammelt, gilt dies ebenso wie für den Abzug aus Sy Parrishs Foto-Installation, auf dem nichts festgehalten wurde und doch alles offenbar ist - eine neue Form von Evidenz, intrikater als jedes Konzept der unmittelbaren Anschauung. Was in dem Film ONE HOUR PHOTO vorgeführt wird, ist nicht der Blick auf ein mehr oder weniger beweiskräftiges Abbild; es ist der Schock einer Erkenntnis, die auf dem Bild noch gar keinen Gegenstand hat, aber ausgelöst wird durch seine Betrachtung.
Die Formel, in die Barthes (und vor und nach ihm Autoren wie Jacques Lacan, Philippe Dubois, etc.) diese Erfahrung zwischen Trauma und Gewissheit gefasst hat, lautet: "Ca me regarde" - das geht mich / blickt mich an, immer schon, jetzt erst, mit einem Mal, ein durchaus unheimliches Erlebnis, wenn auch berückend in seiner Eindringlichkeit. Mark Romanek, der in seinem Film insgesamt eine gewisse Tendenz zur Literalisierung zeigt, übersetzt das Ca me regarde in einen Blick, der den Laboranten Parrish aus seiner Fototapete wie eine Herausforderung erreicht, und was auch immer ONE HOUR PHOTO auf diese Szene folgen lassen wird (der Film dauert danach noch 20 oder 25 Minuten), erscheint nurmehr als Nachspiel einer in der Struktur des Mediums angelegten Verstörung.
Barthes, Roland (1989) Die helle Kammer, Frankfurt/Main: Suhrkamp TB
Bourdieu, Pierre (1990) A Middle-brow Art, Stanford: Stanford UP
Sontag, Susan (1980) Über Fotografie, Frankfurt/Main: Fischer