Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche. (Freud 1923: 253)
In Hitchcocks PSYCHO (USA 1966) taucht die Stimme der Mutter als vom Körper und zugleich vom Filmbild abgetrenntes Element der Erzählung auf. Gegen Ende des Horror-Klassikers sind losgelöste Stimme und Körper im Filmbild vereint und passen dennoch nicht zusammen. Wir sehen in der Szene den psychotischen Norman Bates in einer Zelle sitzen. Er spricht mit der Stimme seiner Mutter und irritiert damit ein letztes Mal die Zuschauer. Laut der Filmwissenschaftlerin Linda Williams löste diese Szene damals beim Publikum aufgrund der Unbestimmtheit der Figur – männlicher Körper und weibliche Stimme – einen Schock aus. (Williams 2000: 361) Die unermüdliche Wiederholung des Films und die Vielzahl von Slasher-Filmen, die nach dem Vorbild von PSYCHO gedreht wurden, bewahrt heutige Zuschauer vielleicht vor einem solchen Schock. Dennoch verfehlt Hitchcocks Inszenierung der abgespaltenen Stimme nicht ihre unheimliche Wirkung. Die Filmtechnik hat hier ganze Arbeit am Wahnsinn geleistet. Soundtechnologie hat die Stimme derart bearbeitet, dass sie aus dem eigentlichen Erzähl- und Klangraum des Films herausgenommen ist und ganz eigenen Gesetzen unterliegt. Durch die Unterfütterung mit Halleffekten erscheint sie nicht nur isoliert, sondern einem Raum anzugehören, der im Film unsichtbar verhandelt wird und erst am Ende als der psychotische Körperraum von Bates deutlich wird.
Der folgende Beitrag widmet sich im ersten Teil der Stimme als fremdes, abgespaltenes Phänomen des Körpers. Unter Verwendung von Jacques Lacans Arbeit zum Anrufungstrieb wird der Versuch unternommen, die Funktion der Stimme zunächst als Phänomen des Körpers und des Subjekts zu verstehen. Im zweiten Teil wird mit Bezug auf die Filmtheorien von Mary Ann Doane und Christian Metz Lacans Modell ergänzt. Die Frage nach der Stimme in ihrem Verhältnis zum Raum des Kinos und zum Körper des Publikums steht im Vordergrund. Der letzte Abschnitt widmet sich dem speziell für den Kinoraum entwickelten Verfahren von George Lucas. Sein THX-System steuert und kontrolliert einerseits die akustischen Daten des Films und bindet andererseits die Zuschauer gezielt in das Kinogeschehen ein.
Für Lacan erscheint die Basis der Struktur des menschlichen Begehrens – sein Drama – in Form von einem Rest, den er Objekt a nennt. Dieses Objekt ist abgetrennt oder sogar getilgt und erscheint daher nie am selben Ort wie das Begehren. Als Struktur lässt es sich, so Lacan, am ehesten auf der Ebene des Auges nachvollziehen. Das Phantasma greift dort als visuelles Phänomen. Seine Struktur befriedigt, laut Lacan, die Funktion des Begehrens am meisten. (Lacan 1963a: 240) Ebenfalls angesiedelt auf der Ebene des Auges sieht Lacan das Verhältnis zwischen Körper und Raum. Die Funktion des Raumes geht aus dem Körper hervor, und der Raum erscheint dem Auge homogen. Nichts in ihm ist dem Anschein nach abgetrennt. (Lacan 1963a: 241) Vielmehr widersetzt sich der stets als vertraut wahrgenommene Raum dem Schnitt oder der Spaltung. Raum- und Körperwahrnehmung können daher nicht den Rest oder das Objekt a spiegeln.
Im Schönheitsfleck (grain de beauté) hingegen flackert für Lacan jener Rest auf. Der Fleck unterbricht die räumliche Homogenität, indem er die visuelle Einheit stört. Die menschliche Reaktion auf diese Störung ist die Angst. Angst davor, „jedes Lebewesen stets nur als das zu erfassen, erfassen zu können, was es im reinen Feld des visuellen Signals ist“: Dummy, Puppe, Erscheinung oder Täuschung. (Lacan 1963a: 142)
Die Angst (angoisse) wählt Lacan dann schließlich auch zum Ausgangspunkt seiner Vorlesungen zwischen 1962 und 1963.1 Von ihr ausgehend thematisiert er in verschiedenen Sitzungen den für meine Fragestellungen spannenden Aspekt der Stimme. Sie verhält sich in einem bestimmten Bezug zum Begehren. In Form des Anrufungstriebs wirkt die Stimme mit am Prozess der Subjektwerdung.
Die vom Körper abgetrennte Stimme erzeugt ein Subjekt, das sich nicht nur im Sprechen, sondern auch im Hören des eigenen Sprechens verankert. Diese doppelte Bewegung ist unentrinnbar jedem Sprechen, das zugleich Hören ist eingeschrieben. Die akustischen Äußerungen des Kindes führen Jacques Lacan zu einer These, die sein ganzes Werk durchziehen wird: Das Unbewusste ist sprachlich strukturiert. In seinen frühen Ausführungen zum Spiegelstadium (1949), das die Filmtheorie als Schlüsselfunktion für die Identifikation über den Blick aufgegriffen hat, gerät jedoch der akustische Anteil zugunsten des Blicks ins Abseits. In den Vorlesungen zur Angst erhält die Stimme eine uranfängliche Funktion, die sich das Subjekt erst einverleiben muss. Im Ursprung hat das Subjekt, so Lacan, nichts zu kommunizieren. Vielmehr liegt die Kommunikation auf dem Feld des Anderen. Von dort empfängt das Subjekt ein, wie Lacan es nennt, Du bist ohne Attribut. Daraus ergibt sich für Lacan und sein Modell der Subjektwerdung die Konsequenz, dass das Subjekt seine Botschaften immer vom Anderen empfängt. (Lacan 1963b: 256)
Im Verweis auf eine Erwähnung von Otto Isakower2 liefert Lacan ein schönes Beispiel für diesen Vorgang der Einverleibung der Stimme des Anderen. Er erzählt seinen Zuhörern von den seltsamen Aktivitäten des Wasserflohs (Daphnia), der sich zur Gewinnung des Gleichgewichts Sandkörner in seine Utricula schüttet. Das garnelenartige Tier verleibt sich gezielt etwas von Außen ein, um seinen Organismus zum Funktionieren zu bringen. Übertragen auf den Menschen äußert sich das Phänomen der stimmlichen Einverleibung am Einschlafmonolog des Kindes. Das Plappern des Kleinkindes vor dem Übergang zum Schlaf bricht ab im Moment des Erscheinens einer weiteren Person im Raum. Für Lacan lässt sich der Monolog daher nur mit Hilfe eines Tonbands festhalten. Damit wird das technische Medium einziger Träger dessen, was Lacan als Objekt a oder als den Rest versteht. Und genau diesen Rest sucht seine Theorie – und dieser Beitrag – in der vom Träger abgelösten Stimme.
In Anlehnung an die Trieblehre von Freud nennt Lacan vier Triebe, denen er die objets a in Form von vier Triebobjekten zur Seite stellt: So erhält der Oraltrieb die Brust zum Triebobjekt, der Analtrieb den Kot, der Schautrieb den Blick und der Anrufungstrieb (pulsion invoquante) die Stimme. Das Triebobjekt Stimme richtet sich auf den Anderen und kann zugleich auch als Antwort vom Anderen an das Subjekt zurückkehren. Zusätzlich ausgestattet mit einer Funktion der Erinnerung ist die Stimme das Bindeglied zwischen Subjekt und Anderem. Ihr Ruf als Aufforderung, sich zu erinnern, eröffnet einen Zugang zum Unbewussten, den Lacan in seinem Vortrag über den Namen des Vaters erläutert: „Dank der Stimme, jenes vom Organ der Rede zurückbleibenden Objekts, ist der Andere der Ort, wo es spricht.“3 Hier wird wieder auf die oben schon genannte Formel verwiesen, dass die Stimme als Fremdes von außen oder vom Anderen herkommend einverleibt werden muss. Die Rede ist bei Lacan aber nicht ausschließlich auf die menschliche Stimme reduziert. Die akustischen Äußerungen können jede Form annehmen, bis hin zum Schweigen.
In der Vorlesung zur Angst greift Lacan zur näheren Bestimmung der Stimme als Triebobjekt auf die Ausführungen von Theodor Reik (Reik 1919: 192-193) zurück. Sein Text behandelt die drei Töne des Schofar, des jüdischen Instruments, das zum Neujahrsfest geblasen wird. Die Töne verkörpern in Reiks Analyse den Widderruf und erinnern an den Vatergottesmord und seine Motive. Lacan greift Reiks Überlegungen auf und verwandelt den Ruf des Schofar/Widder in die erinnernde Stimme des Anderen. Als partielles Triebobjekt übernimmt sie die Funktion der Erinnerung an den Ur-Vorfall und schützt damit zugleich auch im Namen des Vaters vor der jouissance de l' Autre, dem präödipalen Inzestwunsch des Kindes, sich mit der Mutter zu vereinen. In der Stimme bleibt dieses Begehren als Aufschub eingeschlossen. Für das Baby, das sich mit der Mutter identisch setzt und damit eine phantasmatische Verbindung schafft, wird die Stimme der Mutter zur Realität der eigenen Stimme, mit der es sich selbst im/als/aus/durch (den) Anderen hört. Zugleich übernimmt die Stimme die Aufgabe, die Leere oder den Mangel im Subjekt zu modellieren. Damit ist auch wieder an den Aspekt der Angst angeknüpft, Lacans Ausgangpunkt der Vorlesungen. Die Stimme modelliert im Subjekt den Ort seiner/ihrer Angst, d.h. sie verdeckt die Angst des Subjekts. (Lacan 1963b: 260) Um das Gelingen dieser Operation zu gewährleisten, muss sie fremd und abgespalten sein vom Feld des eigenen Begehrens. Nur so lässt sich das eigene Begehren aufbewahren und der Angst entkommen.
Die besondere Neigung der Stimme zu krankhaften Ausformungen wie der Psychose oder dem Gehorsam liegen für Lacan „der Erfahrung des Unbewussten am nächsten“. So spricht etwa Paul Schreber in den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von den verselbständigten Stimmen, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Er kann sie nur durch aktiv produzierte Sounds wie Lautsprechen, Lärmen und Toben oder Klavierspielen abwehren. (Schreber 1995: 228) Auf der Seite des Gewissens sieht Lacan die Stimme in einen Imperativ verwandelt, der, auf der Basis von Sprache und Sprechen, Gehorsam und Folgsamkeit erwartet: „Worte hören, ihnen die hörende Aufmerksamkeit schenken, das ist schon fast ein Gehorchen.“4
In der Figur von Norman Bates lässt sich die mütterliche Stimme als Imperativ wieder erkennen. Sie taucht auf, sobald die psychotische Einheit – Bates / Mutter – gestört wird. Betritt eine Frau als potentielles Sexualobjekt das Terrain dieser Einheit, muss Bates morden. Gleichzeitig ist die Stimme Erinnerung. Einerseits erinnert sie Bates an seinen Konflikt, andererseits die Zuhörer im Kino an den blinden Fleck auf der Leinwand. Die Stimme befindet sich im toten Winkel der Kamera bis die Leinwand das Bild der Mutter freigibt. Es offenbart am Ende des Films die Verkörperung der Lacanschen Angst: Die tote Mutter ist Täuschung, Dummy, eine leblose Puppe.
Lacans Modell der Einverleibung der Stimme von außen kann auf die Kinosituation übertragen werden. Das Kino fungiert ähnlich dem Lacanschen Tonband, das den Einschlafmonolog des Kindes einfängt, als Träger von Resten oder Objekten a. Anhand der theoretischen Konzepte von Mary Ann Doane und Christian Metz lässt sich Lacans Modell ergänzen und erweitern.
In ihrem Aufsatz The Voice in Cinema: The Articulation of Body and Space (Doane 1985: 162-176) geht Doane von drei verschiedenen Raumkategorien im Kino aus. Als erstes nennt Doane den Raum des Films, der sowohl optische, akustische als auch haptische und olfaktorische Sinneseindrücke simuliert; der Leinwandraum, mit seiner rein optischen Ausrichtung, bildet die zweite Kategorie; der Kinoraum, von Doane als rein akustischer Raum begriffen, umfasst die dritte Kategorie. Mit einer vierten Kategorie soll nun Doanes Konzept erweitert werden. Die verschiedenen Körperräume des Publikums können als eigene Raumkategorie begriffen werden. Sie erhalten im Zusammenhang mit Lacans Modell der Einverleibung der Stimme und den weiteren Überlegungen von Doane eine bedeutende Funktion.
Die Herleitung der Räume erfolgt bei Doane über die Stimme der Mutter als Klanghülle. Diese Vorstellung ist nicht nur zur Trope der psychoanalytischen Filmtheorie geworden, sie ist auch mit Kaja Silvermans The Acoustic Mirror (Silverman 1988) als eine der mächtigsten kulturellen Fantasien enthüllt und kritisiert worden. Dennoch verleiht Doane der kinematischen Stimme in ihrem Modell eine interessante Bedeutung. Sie spricht von ihr als einer „hallucination of power over space“ (Doane 1985: 170), also von einer halluzinierten Macht über den Raum. Ich möchte diese Bedeutung der Stimme, die im Kino durch ästhetische Strategien und zugleich technische Verfahren, wie etwa das voice-over oder voice-off umgesetzt werden, aufgreifen und auf die gesamte akustische Dimension des Kinos anwenden. Die halluzinierte Macht über den Raum soll als Funktion nicht allein der Stimme gelten, sondern allen Sounds im Kino zugeschrieben werden.
Alles, was für die Stimme gilt, ist auch für Sound im Allgemeinen gültig. Die Stimme kann sowohl als Geräusch sowie auch als Musik wahrgenommen werden. Der Effekt der Halluzination lässt sich damit allen Sounds zuweisen. Doane leitet ihn aus den verräumlichenden Qualitäten der Stimme als einem Prinzip akustischer Spiegelung her. Wir äußern Laute, die wir zugleich auch selber hören. Als Phänomen unterliegt dieses Sichselbersprechenhören einer besonderen Vertraulichkeit, die dem Willen des Subjekts gehorcht. Das heißt nichts anderes, als dass die Sounds nach Belieben des Subjekts gewendet, gedreht oder bevorzugt und verworfen werden können. (Doane 1985: 170)
Das Kino eignet sich für die Struktur der Halluzination, da das, was es zeigt, abwesend ist und zugleich ein Publikum angenommen wird, das diese Tatsache verkennt. Stimme oder Sound und Gehör bilden aufgrund ihrer Struktur eine Art akustisches Interface, das nach selbstentworfenen Regeln – oder anders gesagt – nach halluzinatorischen Grundsätzen betrieben werden kann. Es geht in dieser dreifachen Bewegung von selber sprechen, das Selbstgesprochene hören und gleichzeitig andere sprechen hören um die Kontrolle oder zumindest den Versuch einer Kontrolle des Subjekts über diese Bewegungen von innen nach außen und umgekehrt. Die Struktur der Halluzination ist insofern nahe liegend, da Sound diese Einbildung oder Ausbildung vornehmen kann, also von innen nach außen oder von außen nach innen dringen kann.
Doane hatte ihr Raumkonzept über die vom Körper losgelöste Stimme konstruiert. Es ging ihr dabei um die besondere Grenzüberschreitung einer Stimme, der keine sichtbare Quelle auf der Leinwand zuzuordnen ist, und die sich allein dem Raum des Kinos und der Zuhörer und Zuhörerinnen anvertraut. Ein Blick auf die Unterschiede zwischen Bild und Ton erhellt noch einmal, warum Sound generell in diesem grenzüberschreitenden Sinne verstanden werden soll.
Wie wirkt sich das Modell einer halluzinatorischen Raummacht des Kinos auf die zeitgenössische Situation des Mediums aus? Lässt es sich an die Körperräume des Publikums anbinden?
Eine Antwort gibt Christian Metz mit seinen Überlegungen zur paradoxen Halluzination. Sein Aufsatz Der fiktionale Film und sein Zuschauer thematisiert die kinematischen Träumereien des stummen und unbeweglichen Zuschauers, der immer wieder mal für kurze Momente abtaucht. Dieses Abtauchen passiert aufgrund der Bewegungslosigkeit, die schließlich, so Metz, zu einer stärkeren perzeptiven Übertragung führt. Aus ihr resultiert dann eine paradoxe Halluzination. Dabei handelt es sich um das Verwechseln von Realitätsebenen: „Das Subjekt hat diesmal halluziniert, was wirklich da war, was es im selben Augenblick tatsächlich wahrnahm: die Bilder und Töne des Films.“ (Metz 1994: 1007)
An zwei Zuständen, die sich in unterschiedlichen Räumen ereignen, macht Metz die Kinoerfahrung des Publikums fest: das Wachsein im Kino und das Schlafen im Traum. Er fügt jedoch hinzu, dass sich jene Zustände auch vermischen und kreuzen können: „Filmzustand und Traumzustand haben die Tendenz zusammenzufallen, wenn der Zuschauer einzuschlafen beginnt ... oder wenn der Träumende aufzuwachen beginnt.“ In diesem Dazwischen oder dem Changieren zwischen, wie er behauptet, Variante(n) von vielen Wachzuständen, ist also laut Metz der Filmzustand anzusiedeln. Daraus lässt sich dann für ihn auch seine Tendenz zur Halluzination ableiten, d.h. die Filmfiguren werden vom Publikum als real verkannt und das technische Material der Apparatur verleugnet.
Die paradoxe Halluzination trifft auch für die zeitgenössische Kinoerfahrung als einer von mehreren verschiedenen Zuständen zu. Dennoch möchte ich behaupten, dass ein wesentlicher Faktor hinzugekommen ist, der das Paradox der Verkennung des Mediums als real durchbricht.
Im zeitgenössischen Kino werden die akustischen Elemente des Films – Soundeffekte und Musik – immer stärker vermischt. Die ursprüngliche Trennung von Geräusch und Musik ist aufgehoben. Ein weiteres vielleicht noch viel entscheidenderes Kriterium ist der Sound-Schnitt. Durch den akustischen Filmschnitt ist ein Abtauchen in verschiedenen Stufen nicht mehr in der Art gegeben, wie Metz den Prozess beschreibt. Vielmehr wird, was die Vermischung der Ebenen von Geräusch, Musik und auch Stimme betrifft, ein kontinuierliches Durchbrechen oder Zerstören der von Metz als traumähnlich angenommenen Zustände erreicht. Gleichzeitig lässt sich aufgrund einer kontrastreichen Schnitttechnik in Sekundenschnelle ein Wechsel vom halb wachen ins hellwache erreichen. Diese Hollywood-Soundpraxis verabschiedet den Dämmerzustand. Aus diesem Grund muss auch der festzementierte Topos der Film- und Medienwissenschaft vom Kino, das seine technische Apparatur verschleiert – was wiederum von Metz als paradoxe Halluzination verstanden wird – neu beschrieben werden.
Im zeitgenössischen Kino mit aktueller Soundtechnologie und THX-Raumphilosophie werden die feinen Übergänge innerhalb von Wach- oder Dämmerzuständen durch harte, oft auch in den Körper fahrende Schnitte ersetzt. Zuhörer und Zuhörerinnen werden somit ständig auch an die Apparatur des Mediums erinnert. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird gesteuert und eine stärkere Kontrolle über seinen Körper ausgeübt. Der Soundschnitt erhält in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Durch ihn lässt sich buchstäblich in den Körper der Zuhörer eingreifen. Mit soundtechnischer Dynamik kann er die Hautgrenze überwinden und in die Tiefe gehen. Der Kulturtheoretiker Sean Cubitt beschreibt diese Grenzüberschreitung treffend: „Soundereignisse erzeugen einen Raum, ohne Respekt vor der geheiligten oder unverletzlichen Epidermis westlicher Philosophie.“5
Sound dekonstruiert einen westlichen Diskurs, der den Körper meint verleugnen zu können. Die Stimme, die Theodor Reik als die Stimme Gottes in den Tönen des Schofar erkennt und die Lacan als einverleibtes Triebobjekt im Subjekt platziert, bestimmt in Doanes Konzept den Kinoraum in Form der Halluzination. Metz schließlich wendet die Kinoerfahrung in ein Paradox. Im letzten Abschnitt geht es um den Kinosaal, der für die halluzinatorischen Qualitäten von Sound präpariert ist.
Seit der Premiere von THE RETURN OF THE JEDI (USA 1983) ist das Kino bestrebt, die Differenz zwischen den Räumen der Postproduktion und der Wiedergabe im Kinosaal zu löschen. Die Zauberformel für diesen Annäherungsprozess heißt THX. Die Kriterien für einen Kinoraum mit idealen akustischen und visuellen Bedingungen legte damals George Lucas mit seinem Toningenieur Tomlinson Holman fest. Sie verminderten die Hintergrundgeräusche und verbesserten die Nachhalleigenschaften sowie den Sehwinkel und die Projektionsbedingungen von Kinosälen. Das Ziel dieser Arbeit am Raum besteht bis heute in dem Versuch, Transparenz zu erlangen. Ein schillernder Begriff, der eine lange Kette an Fragen eröffnet und direkt auf das Kernthema des Aufsatzes verweist.
Mit der Verordnung der Raumgröße, der Präparierung der Raumwände in Verbindung mit der Lautsprecherkonfiguration im Saal und der ausgewählten Abspieltechnik im Vorführraum ist eine Organisation von Wiedergabekriterien geschaffen, die dafür sorgen, dass sich die akustische Dimension im Kino den Aufnahmekriterien der Filmpostproduktion annähert. So hat im Hinblick auf die Geschichte des Kinos und mit der Patentierung von THX als Qualitätsstandard eine Umcodierung des Kinosaals stattgefunden, die eine wesentlich stärkere Kontrolle über die auditiven Daten und die Steuerung ihrer Wahrnehmung vornimmt.
Für den Toningenieur Tomlinson Holman - sowohl Namensgeber als auch Konstrukteur des THX-Standards6 - ist die Ära stets erweiterbarer Frequenzen und größerer dynamischer Umfänge an ein Ende gekommen. Vielmehr sieht er heute im Kino die räumliche Dimension im Zentrum soundtechnologischer Überlegungen. Ein vollständig transparentes System sei, so Holman, das Bestreben der Kinoindustrie.7
In der Durchlässigkeit akustisch reproduzierter und manipulierter Räume wird Hörern und Hörerinnen der Eintritt in die Realitäten des Mediums eröffnet. Während der THX-Raum die Kriterien für die präzise Verteilung der akustischen Daten bereit hält, verfügen die Töne über eigene Rauminformationen, die sich mit realen, alltäglichen Geräuschen nicht mehr messen lassen. Geräusche aus dem realen Umfeld können daher für Sound Designer wie Gary Rydstrom den Ansprüchen des Mediums nicht gerecht werden: „As with anything, making an effective sound means incorporating two, three, or four sounds.“ Kinosound muss für Rydstrom größer gemacht werden, als er im wirklichen Leben erscheint. Er sollte aus zwei, drei oder vier seiner Art bestehen.8 Filmsound wird für die Kinosituation räumlich aufgeladen und trifft im THX-Saal auf den Ort seiner Potenzierung.
In seinem Buch Digital Aesthetics beschreibt der Medientheoretiker Sean Cubitt den auditiven Wandel im Kino im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Realität und filmischer Virtualität:
... cinema has had to take its place, in its developement as a spatial art, as a supplement to the real, a material presence contesting the validity of the film/reality distinction not through the transformation of cinema, but through the invasion of the real, the material spaces of amplified playback and reflected light. (Cubitt 1998: 118)
Für Cubitt tritt der akustisch in Beschlag genommene Raum des zeitgenössischen Kinos in Konkurrenz zum doppelseitigen Realitätsanspruch des Mediums. Durch die Perfektionierung der Soundtechnologie und der Organisation auditiver Daten im Raum erhält das Bild einen Gegenspieler. Dieser Gegenspieler ist der Ton und sein Schallraum. Digitale Soundtechnologie erhält bei Cubitt den Status einer Raumkunst, die zwischen das alte Bündnis der filmischen Apparatur und seiner Herstellung von Realitätszeichen tritt. Der Kino-Hör-Raum bildet die Schnittstelle zwischen der medialen Virtualität des Leinwandgeschehens und der vom Tongeschehen komplett eingenommenen Realität des Zuhörerkörpers.
Die Präzisierung der akustischen Dimension des Kinos greift auf den Körper des Kinopublikums zu, indem sie sich immer stärker an seinen physischen Gegebenheiten orientiert. Über die Optimierung des Kinosaals anhand von THX-Kriterien lässt sich digitaler Filmsound gezielter an das Publikum richten. Nach der Einführung des neuen Soundsystems Dolby Surround EX, das Lucasfilm THX in Zusammenarbeit mit den Dolby Laboratories für STAR WARS: THE PHANTOM MENACE (USA 1999) entwickelt hatte, antwortet Gary Rydstrom auf die Frage nach dem Nutzen des neuen Surround-Kanals für die Rückwand des Kinos:
The current Left and Right Surrounds could never place sounds behind the audience, only by having a channel along the back wall can we encircle an audience with sound. Detailing specific elements all around us will be fantastic for ambience and for dramatic sound moments. Films emulate how we take in the world: We see a narrow field to the front of us, while we hear in 360 degrees. Dolby Surround EX will better simulate our perception of the world. And what better way to scare an audience than to have sound sneak up from behind?9
Ohne sichtbare Quelle im Filmbild entgeht Sound der Kontrolle des Kamera-Auges und verlässt die Grenzen der Leinwand. Rydstrom weiß um die beängstigende Wirkung von Sound, der die Zuhörer von hinten beschleicht. Der Verlust an visueller Kontrolle eröffnet dem Medium ein akustisches Experimentierfeld mit eigenem Kontrollsystem. THX-Raum und digitale Soundtechnologie ermöglichen den Stimmen ohne Körper, den Sounds ohne Bildquelle eine halluzinatorische Macht über die Körper der Zuhörer. Die Transparenz, die Tomlinson Holman dem heutigen Kino und dem Medium der Zukunft verspricht, war schon immer den Stimmen und Sounds eingeschrieben. Einverleibt vom Körper des Publikums und abgespalten durch technische Prozesse wird Sound zum idealen Instrument der Täuschung. Das Kino findet immer neue Wege, das Lacansche Objekt a im Medium zu bannen, etwa durch einen weiteren Surroundkanal an der Rückwand des Kinos. Im toten Winkel der Kamera wird die Angst geschürt und zugleich verdeckt.
Cubitt, Sean: Digital Aesthetic, London 1998.
Doane, Mary Ann: The Voice in Cinema: The Articulation of Body and Space, in: Elisabeth Weis und John Belton, Film Sound: Theory and Practice, New York 1985.
Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. 1923 in GW XIII.
Holman, Tomlinson: in: Vincent LoBrutto, Sound-On-Film, Westport, Connecticut - London 1994.
Isakower, Otto: On the Exceptional Position of the Auditory Sphere, in: International Journal of Psycho-Analysis, vol. XX, 1939, S. 340-348. Jacques Lacan, Die Angst, Sitzung XXI (5.6.1963).
Lacan, Jacques: Die Angst. Sitzung XIX (22.5.1963a).
Lacan, Jacques: Die Angst, Sitzung XXI (5.6.1963b).
Metz, Christian: Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung. In: Psyche, Nr. 11, November 1994.
Meyer-Kalkus, Reinhardt: Jacques Lacans Lehre von der Stimme als Triebobjekt, in: Wolfgang Raible (Hrsg.), Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse, Tübingen 1995.
Reik, Theodor: Probleme der Religionspsychologie, Bd. I: Das Ritual, Leipzig – Wien 1919.
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Berlin 1995.
Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror, Bloomington – Indianapolis 1988.
Williams, Linda: Discipline and fun: PSYCHO and postmodern cinema in: Christine Gledhill, Linda Williams (Hg.): Reinventing Film Studies. London, New York 2000.