Der Splatterfilm als Perspektive auf flexibilisierte medienkulturelle Subjektivität
Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der auf der Tagung ‚Bodies That Splatter‘ im April 2003 in der Akademie der Künste gehalten wurde.
Ich nehme meinen Ausgang ins einübende Ausrinnen bei einer Frage: ‚Lässt sich der Splatterkörper in einer akademischen kulturellen Auffanggeste domestizieren, oder bleibt er das nicht integrierbar Abstoßende?‘
In dieser Frage nach Auffangen, Abstoßung, Integration und Domestizierung glaube ich, dass der Splatterkörper gar nicht mehr so sehr einer akademisch-kulturellen Domestizierung, Einverleibung ins Heim, bedarf, sondern dass wir – als Splatterfilme rezipiert habende westliche Konsumkulturen – schon ein gutes Stück weit im Splatter daheim sind. Und ich glaube weiters, dass der Splatterkörper den Kulturwissenschaften, zumindest den Film Studies innerhalb deren Spektrum, heute weniger ein Abstoßendes denn ein Anstoßendes ist, also weniger anstößig denn ein Denk-Anstoß – eine affektive Begegnung oder Serie vielfältiger Begegnungen, die an den Film Studies oder vielmehr am Anteil, den das Film-Denken an ihnen hat, kleine Neuanfänge, Neubildungen, moderater gesagt: Perspektivwechsel, mit bewirkt haben. Sodass der Splatter-Körper heute manchen solchen Denkweisen einverleibt ist, das heißt, dass er an ihnen eine eigentümliche Leiblichkeit als Fleischlichkeit hervorgerufen hat und in manchen Film Studies-Schreibweisen ‚aufgeht‘: nicht als referenzielles Zentrum oder Paradigma, aber als ein prekäres Innen, das den wissenschaftlichen Diskurs zum Film auf ein Außen, auf etwas Neues, verweist oder vielmehr stößt.
Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Begegnung einer filmästhetischen Schreibweise mit einer Szene aus – nun, nicht gerade aus einem Splatterfilm, aber zumindest eine (filmhistorisch zwischen den ‚Verdinglichungs-Verschwörungen‘ des frühen Michael Crichton und dem stil- und diskursbildenden Erfolg von ALIEN (USA 1979) situierte) body horror-Szene aus dem Invasionsfilm-Remake INVASION OF THE BODY SNATCHERS / DIE KÖRPERFRESSER KOMMEN (R: Philipp Kaufman, USA 1978).1 Über diese Szene (bzw. die Begegnung mit ihr im Fernsehen) schreibt Michel Chion in seinem 1987 erstveröffentlichten Aufsatz zur Rendering-Ästhetik im postklassischen Film-Sound Design:
In der Nacht – der Film spielt in San Francisco, und man kann die Wärme förmlich spüren – öffnet sich ein pflanzenähnliches Ding und gebiert, begleitet von einem diskreten Geräusch, einen ausgewachsenen Menschen, noch feucht und unvollkommen. [...] Dieses Geräusch [...] des Aufblühens, des Entfaltens von Organen und Membranen, die sich voneinander lösen, und zugleich des Saugens, dieses reale und präzise Geräusch, klar und leise in den hohen Registern, greifbar, hört man, als würde man es anfassen, als streiche man mit der Hand über einen Pfirsich – wobei manche eine Gänsehaut bekämen. Es scheint, als hätte es das vor 15 Jahren noch nicht gegeben, eine so konkrete, so präsente, in den hohen Tonlagen klare und haptische, das heißt greifbare Wiedergabe, die die Wahrnehmung der Welt im Film verändert, sie unmittelbarer macht und Distanz verhindert... [...] [E]ine andere Materialität, eine andere Wiedergabe des Lebens, [ist] in die Filme eingezogen [,...eine] Mikro-Wiedergabe des Raunens der Welt, das den Film in den ultrapräsenten Indikativ versetzt und im extrem Konkreten dekliniert. Irgend etwas hat sich verschoben, und entsprechend den Substitutionen, von denen INVASION [OF THE BODY SNATCHERS] erzählt, vollzog sich ausgehend vom Ton eine Veränderung, die nirgends registriert wurde, und veränderte den Status des Bildes – eine sanfte Revolution. (Chion 1999: 35f.)
Von Chions Ansatz her, die Begegnung mit einem vielfältigen Geräusch zu beschwören und so das Beschreiben zum Sinnlichen hin zu öffnen, tritt das Synästhetische am Ausdruck ‚Splatterfilm‘ in den Vordergrund: die haptische (und implizit moralische) Empfindung des Aufplatzens, Spritzens, Besudelns, übertragen ins Lautbild eines onomatopoetischen Namens: Splatter. Mit Chions Bild einer sanften Revolution ist zunächst die Erschließung einer neuen, zumal mikrophysischen, Hörbarkeit angepeilt: der Film-Ton als Design haptischen Empfindens im postklassischen Kino, mithin die im heutigen Film-Denken zu erschließende Sound-Dimension von Film-Erfahrung insgesamt. Dieses Film-Denken kann sich schon deshalb nicht dem Erfolgsparadigma ‚Visual Studies‘ oder ‚Visual Culture Studies‘ einverleiben lassen, weil Film eben kein visuelles Medium ist, sondern ein audiovisuelles, vielmehr: Das Medium Film kultiviert Sichtbares und Aussagbares über den Riss im Wissen hinweg, das Hören und Sehen in ihrer prekären Verkörperung, die Sinne in ihrer transmodalen Verflechtung, die Wahrnehmung in Bezug aufs Handeln in und Erleiden von Kräfteverhältnissen. 2 Dies zu denken, treten seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt diverse neo- und post-phänomenologische Ansätze zur Film-Erfahrung als Körper-Erfahrung an.3
Solche Ansätze zehren in unterschiedlichem Ausmaß vom ‚Fleisch‘ Merleau-Pontys und seiner existenziellen Phänomenologie des sinnlich in die Welt eingefalteten Bewusstseins, und zugleich wird in manchen von ihnen die Begegnung mit dem Fleisch im Bild, zumal mit Splatterfilmen, zum Denk-Anstoß: Steven Shaviro nimmt u.a. Arbeiten von George A. Romero und David Cronenberg zum Anlass seiner mitunter geschmäcklerischen Feier proto-taktiler ‚visual fascination‘ gegenüber Projektil- und Ereignis-haften Filmbildern; Alison Landsberg geht in ihrem Konzept von Film als ‚Prothesen-Gedächtnis‘ und sinnlich-hautnaher Empathie just von der verselbständigten Hand in Wes Cravens NEW NIGHTMARE (USA 1994)4 aus. Es scheint, als wäre der Splatter begrifflich mitten unter uns, wenn die Filmwissenschaft nicht beim Zentral-Bewusstsein, sondern bei leiblichen Peripherien in ihrer Phänomenalität-als-Medialität ansetzt: bei der Haut etwa, wie Judith Halberstam in Bezug auf gothic horror, wie Laura Marks mit ihrer ‚taktilen Epistemologie‘ der Film-Wahrnehmung als ‚Kontakt-Wissen‘ und ‚thinking with your skin‘; oder bei ‚phänomenalen Dingen‘ wie ‚Scheiße‘, ‚Dreck‘ und ‚Haare‘, deren berührende Film-Bilder uns sinnträchtige Selbst-Erfahrungen als geschichtliche Subjekte ermöglichen – so Vivian Sobchack in Ausläufern ihrer existenziellen Phänomenologie von ‚film experience‘ als leiblich-synästhetischer Intersubjektivität.5 Zugegeben, bei Marks und Sobchack geht es nicht um Splatterfilme, sondern ums minoritäre Kino von Exil-Communities bzw. um FORREST GUMP (R: Robert Zemeckis, USA 1994) und BRAVEHEART (R: Mel Gibson, USA 1995). Aber halten wir fest: Dem implizit splatternden Film-Denken geht es heute mehr denn je um Berührungen zwischen Bild/Sound und (Gänse-)Haut – ja, es geht um Haut und Haar.
„With Skin and Hair“ heißt ein Aufsatz von Miriam Hansen über die frühen Entwürfe Siegfried Kracauers zu seiner Theorie des Films. (Hansen 1993) Der Film ergreife die Menschen „mit Haut und Haar“, heißt es in Kracauers Marseiller Notizen von 1940, und eben diesem Ergreifen (und Erretten) des Äußeren, Marginalen, Minoritären wendet sich die gegenwärtige Kracauer-Rezeption bei Gertrud Koch, Heide Schlüpmann und eben Miriam Hansen zu.6 An Kracauer ist im Splatter-Kontext zunächst interessant, wie sehr sich seine „sensualistische Ästhetik“ (Gertrud Koch) des Film-Zuschauens heute als Theorie des ‚Attraktionskinos‘ (im Anschluss an Tom Gunnings Begriffsintervention) lesen lässt. Hier noch zwei – im Sinn des Taktilen und Projektilen des Film-Bildes – ‚griffige‘ Zitate aus Kracauers Marseiller Notizen:
Die materiellen Elemente, die sich im Film darstellen, erregen direkt die materiellen Schichten des Menschen: seine Nerven, seine Sinne, seinen ganzen physiologischen Bestand." – "Das 'Ich' des dem Film zugewandten Menschen ist in ständiger Auflösung begriffen, wird unablässig von den materiellen Phänomenen gesprengt.7
Von solchen Keim-Formulierungen her lassen sich heute an der Theorie des Films andere argumentative Schichten aktualisieren, tritt unter, neben oder im Dialog mit einer normativen Ästhetik des (Neo-) Realismus Kracauers affirmative Phänomenologie eines Körper- und Affekt-betonten, zumal populären, Kinos hervor. Um den Slapstick als Lebenskunst im Unbestimmten geht es Kracauer ja schon als Filmkritiker; in der Theorie des Films lotet er auch etwa Kriegsfilme und Hitchcock-Thriller nach Erfahrungspotenzialen aus; und in einem kleinen Aufsatz aus dem Jahr 1940 (zeitgleich mit den Notizen zu seiner Rettungsästhetik-als-Ethik des Films) denkt er Das Grauen im Film, so der Titel, anhand von Katastrophenfilmen, sowie anhand eines Kinos der „Mordaffären“, „peinlich genau beschriebenen Torturen“ und „furchtbar entstellten Gesichter[n] in Großaufnahme“. Die „eingewurzelte Neigung des Films zu grauenerregenden Stoffen“ sei „ästhetisch durchaus legitim,“ so Kracauer, weil die Objektivierung des Schreckens im Bild Wahrnehmung als spielerisches Probehandeln ermöglicht – ein Erlernen von Zeugenschaft und „In-den-Griff-Bekommen“ gegenüber katastrophaler Wirklichkeit. (Kracauer 1974: 26f)
Kracauers Gedanken zu filmischen ‚Spiegelbildern des Grauens als Selbstzweck‘ kehren in der Theorie des Films wieder, nun unter Verweis auf Georges Franjus LE SANG DES BETES (F 1949) und Film-Bilder von Nazi-Konzentrationslagern, in einem Schlusskapitel, für das (Miriam Hansen zufolge) ursprünglich die Titel „The death's head“ bzw. „Death Day“ vorgesehen waren.8 Die Wendung vom ‚Totenkopf‘ und ‚Todestag‘ zum schlussendlichen Kapitel-Titel ‚Die Errettung der physischen Realität‘ entspricht der in der Theorie des Films umfassenden Wendung vom Film als kollektiver Reflexion menschlicher Endlichkeit zum Film als Erkundung des Lebens in seiner Materialität, Unbestimmtheit und Unerschöpflichkeit, sprich: im Werden. Der Tod ist hier ins prekäre Leben hineinversetzt, somit vitalistisch gefasst, ähnlich wie im Vorspann von Jörg Buttgereits TODESKING (BRD 1988), wo das Entrollen des Körpers aus der Embryo-Haltung ein Sterben ist, zugleich Entfaltung eines polymorphen Lebens, das der Verwesungsprozess der Leiche freisetzt.9
Der auf Haut und Haar abzielende Film als Freisetzung von Leben: Im Unterschied zu Bazins Realismus des Film-Bildes als Totenmaske und Mumifizierung der Veränderung denkt Kracauers Errettungs-Realismus Film nicht nur als Ab- und Ausdruck des Lebens in seiner vergänglichen Dauer, sondern auch in Beziehung zum historischen Prozess der Modernisierung. Dass im Kino die Kontingenz gesellschaftlicher Subjektivität für viele sinnlich erfahrbar wird, darin liegt auch das innovative ethische Potenzial medialisierter Massenkultur gegenüber einer traumatischen, disziplinarischen Moderne. Um andeutungshaft kurz vorzugreifen: Kracauer denkt Film-Bild und Kino-Öffentlichkeit nicht nur als jene nachholende Einübung in eine technisch fortgeschrittene Modernität, auf die sich Benjamins Emphase des Reproduktionsmediums mitunter beschränkt;10 sondern bei Kracauer ist jenes ausrinnende Einüben, dem Film ein Terrain bietet, auch als lernendes Denken und Werden perspektiviert, als Entstehung von Neuem, Fluchtlinie in ein Außen, oder, wie Kracauer es im Schlusssatz seines letzten Buches formuliert, ins „Utopia des Dazwischen“. (Kracauer 1971: 201)
Etwas Neues entsteht. Über Kracauer können wir nun die Splatterszene aus INVASION OF THE BODY SNATCHERS und Chions Ausführungen zur ‚sanften Revolution‘ neu bewerten. Den grundsätzlich allegorischen Aspekt, dass Film soziales Leben, Empfinden, Denken (in ihrer offenen, immateriellen Ganzheit) zum plastischen Bild machen kann, spitzt der Splatterfilm dahingehend krisenhaft zu, dass er zum einen ganz das Ruinöse und Trümmerhafte am Allegorischen hervorhebt – mithin Verkörperung in Form von Verdinglichung: soviele Bilder bewusstseinsträchtiger Leiber in ihrer Degradierung zu Objekten von Gewalt, Zerstörung, Besudelung, zum geschundenen Fleisch. Zum anderen aber lässt sich ein solches nihilistisches Splatter-Verständnis fast immer auch zur Affirmation des leidenschaftlichen Fleisches als Sinn-Milieu und Medium unserer Verflochtenheit mit der Welt wenden: Das allegorische Verständnis der Verkörperungen im Splatterbild gilt dann eher einer eruptiven Produktivität, einer physische wie soziale Organismen sprengenden Entstehung von Neuem – Revolution als Revolution bei Chion; Film als Potenzial einer nachträglich messianischen Ersatz-Revolution in Permanenz bei Kracauer; das Öffnen, Platzen, Bersten, Spritzen, Splattern als Geburt und Neu-Werdung in den BODY SNATCHERS, im TODESKING oder in einem fast schon kanonischen Splattermoment wie der knetmasseträchtigen fleischlichen Selbstentäußerung dreier Zombies in der vorletzten Szene von THE EVIL DEAD - TANZ DER TEUFEL (R: Sam Raimi, USA 1982).
Noch einmal zur Frage des Splatter-Körpers als Denk-Anstoß für die Film Studies: In Thomas Elsaessers Arbeiten zum postklassischen Hollywood figurieren gleich zwei Splatterfilm-Gestalten, zumal deren Körper, als Begriffspersonen bzw. Allegorien gegenwärtiger Film-Erfahrung. Zum einen interpretiert Elsaesser (auf teils ähnliche Weise wie Halberstam) Dr. Hannibal Lecter als denkenden Kannibalen und gefräßiges Gehirn, in dem sich das Kino als ‚verkörpertes Ereignis‘ inkarniert. Elsaessers handgreifliche Aneignung Deleuzescher Begriffe macht Kino zum Medium Lecters – zum Wahrnehmungs-Event, das immer neue Aufteilungen in Aktivität und Passivität, Sehen und Gesehen-Werden, erlaubt; zum Eindringen oder vielmehr Einfalten in Räume und Gehirne, das ein Außen ins Innere einstülpt; zur Vielfalt von Bewegungen, die nicht extensiv als organische Aktion verlaufen, sondern als Handlungskrisen, rhythmische Brüche, Intensitäten, Affekte, desorganisierende Metamorphosen von Körpern.11
Elsaessers andere Splatter-Allegorie des Kinos ist Graf Dracula als mit Dr. Lecter verwandtes ‚Medium‘ von Faszination, synästhetischer All-Wahrnehmung, Übertragung und Einverleibung, so wie er etwa in den dionysisch splatternden Momenten von Francis Ford Coppolas Bram Stoker-Adaption (USA 1992) erscheint. In diesem Verständnis ist Dracula vor allem als Begriffsperson einer Zeitlichkeit relevant, die historischer und kausal-linearer Narrativität zuwiderläuft: Vom Vampir als shape-shifter und Wiedergänger her zeichnet Elsaesser das postklassische Kino als Medium der Ansteckung und somatischen Immersion; als ein Recycling von Praktiken des klassischen Kinos, das gerade dessen Rand-Genres zentriert und dessen Ausnahmen auf Dauer stellt; als zutiefst untotes Bild, dessen permanente Wiederbelebung an die Stelle von Geschichte tritt.12
Im Anschluss an Elsaessers Studien zum postklassischen Kino lässt sich aus dem Splatterfilm – vor allem aus seinem Nachwirken, seinen Re-Artikulationen, seinem ‚re-membering‘ im gegenwärtigen Kino – eine Perspektive auf einen, wie ich meine, Schlüssel-Aspekt gegenwärtiger medienkultureller Erfahrung gewinnen. Ich spreche von Flexibilität bzw. vom Prozess einer Flexibilisierung, den es zunächst keinesfalls nostalgisch zu fassen gilt (also etwa nicht im Sinn einer Trauer um homogene Erwerbsbiografien und definitive soziale Identitäten, wie sie z.B. in Richard Sennetts Rede vom ‚flexiblen Menschen‘ mitschwingt). (Sennett 1998: Kapitel 1)
Im Gebrauch als Erkenntnis-Optik der Film Studies lässt der Splatterfilm Flexibilität in dreierlei Sinn hervortreten: zunächst im Sinn dessen, was Elsaesser anhand von Coppolas DRACULA-Pastiche (und unter Verweis auf eine frühe Studie Robert B. Rays) als ‚doppelte Einbeziehung‘ des Publikums in den vielspurigen Ereigniskontext postklassischer Hollywood-Filme beschreibt. Damit ist zunächst gemeint, dass diese Filme für eine naive Rezeptionshaltung ebenso Sinn machen wie für eine ironische, bzw. dass sie beide Subjektpositionen im raschen, unvermittelten Alternieren adressieren und involvieren. (Elsaesser 1998: 70f) Epistemologisch als Wechsel zwischen Faszination und Wissen formulierbar, räumlich als Wechsel zwischen Nähe und Distanz, ist solche Flexibilität im Verhältnis zum Film-Bild wohl schon in Walter Benjamins Konzept der Dialektik von Schock und Gewöhnung und der „zerstreuten Expertise“ angedacht. (Benjamin 1963) Akut wird die in diesem Sinn flexible Film-Erfahrung im Zeichen eines massenkulturellen Kinos, dessen Affektionen aus dem Container geschlossener Erzähl-Organismen und teleologischer Sinn-Vorgaben heraustreten und insofern prekär werden. Hier ist ein kurzer Blick auf die Geschichte, zumal Rezeptionsgeschichte, des Splatterfilms aufschlussreich: Zum einen haftet der Annahme eines Damals, als ‚wir‘ nichts als naiv und alle Körper-Bilder ausschließlich schockierend und eklig waren, etwas von einem rückprojizierten Ursprungsmythos an. Zum anderen stoßen wir beim Splatter nahezu ‚immer schon‘ auf Verflechtungen von Grauen, Lachen und Wissen, etwa jenes Wissen um intertextuelle Bezüge, auf das Janet Staigers Frage nach dem Lachen über THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (R: Tobe Hooper, USA 1974) abzielt.13 Die historische Rolle des Splatterfilms als Entstehungsort von Rezeptionsweisen, die auf dem Bescheid-Wissen und prüfenden Durch-Schauen von Fans und KultistInnen beruhen, ist so notorisch wie die spätestens mit BRAINDEAD (R: Peter Jackson, NZL 1991) ausformulierte Wandlung des Splatter zum Splatstick. Flexibilität von Film-Erfahrung, das meint in einem ersten Sinn jenes permanente Reflektieren im Empfinden von Schrecken oder Ekel, wie es uns die in Querverweis-Orgien ausrinnenden Körper in Tarantino-, Farrelly Brothers- oder Austin Powers-Filmen, in SCREAM (USA 1996, 1998, 2000) oder SHREK (USA 2001) nahe legen.
Zweitens erscheint im filmhistorischen Rückblick die Deformation und Öffnung von Körpern im Bild als splatternde Vorarbeit zu einer Flexibilisierung von Bild-Körpern, wie sie sich im Zeichen der Digitalisierung des Kinos vollzieht. In medienpragmatischer Sicht besteht die Flexibilität des postklassischen Kinos in seiner Intermedialität, im ständigen Ausrinnen des Kinos in andere Medien, im kontinuierlichen Übergang seiner Bilder zwischen Aggregatszuständen, Verwertungskontexten und Konsumtionsweisen. Der Splatterfilm war ein exemplarisches kulturelles Terrain für die Einübung des intermedialen Konsums etwa von Kinofilmen auf Video, in variablen Vorführsituationen und Versionen, unter Bedingungen jener Downloads, die damals noch Raubkopien hießen, unter unabweisbarer oder lustvoll zelebrierter Materialisierung des Bildes, sei es durch die Dropout-Rate und Körnung von Raubkopien der vierten Generation oder durch das rituelle Abtasten Splatter-typischer Spezialeffekt-Szenen per Einzelbildschaltung des Videorecorders (was wiederum die Dropout-Rate des Bandes erhöhte).
Vor allem aber leistet das biegsame Bild im digitalisierten Kino die Flexibilisierung der erscheinenden Körper mit einer geschmeidigen Mühelosigkeit, die sich zur schmerzvollen Zerstückelung fixer Organismen im Splatterfilm wie deren Widerlegung und zugleich Vollendung verhält. Das betrifft sowohl die bei Carol J. Clover oder Judith Halberstam theoretisierten Aspekte der Flexibilisierung von Gender-Identitäten14 als auch jene allgemeineren Rückschlüsse, die Sobchacks Phänomenologie des Morphs über den Splatterfilm nahelegt: Filmisches Morphing, so Sobchack, verfahre mit Bild-Körpern wie die plastische Chirurgie mit physischen Körpern; der gemorphte Realismus des ‚quick change‘ stehe in allegorischer Beziehung zur im gegenwärtigen Kapitalismus allseits verlangten Mobilität; und verglichen mit der Anmaßung jener kaum zu ertragenden Formbarkeit, die der Morph-Körper so reibungslos zum Bild macht, mutet der Splatterfilm wie ein "Bildungsroman" des verdinglichten Fleisches an.15 Etwas anders gesagt: Der geschmeidig-sprunghafte, feinwahrnehmende, alle Handlungspotenziale auslotende Buben-Tier-Körper in Sam Raimis SPIDER-MAN (USA 2002) erscheint als das komplementäre Subjekt in einem zwanzig Jahre lang aufgeschobenen Gegenschuss zu den dämonisch-flexiblen Point-of-View-Steadicam-Fahrten in Sam Raimis THE EVIL DEAD (USA 1982). Endlich erfahren wir, wer da immer so gierig, alles sehend und angreifend, hinter den Jugendlichen der Reagan-Ära her gerast ist: Es war die Hauptzielgruppe des Kinos von heute.
Einen dritten und letzten Sinn, in dem mir der Splatterfilm als Perspektive auf medienkulturelle Flexibilisierung nutzbar erscheint, möchte ich über den Begriff der ‚affektiven Arbeit‘ skizzieren, wie ihn Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Bestseller Empire verwenden. Die Innovations- und Produktivkraft affektiver Arbeit lässt sich dem gemäß zwischen dem ‚Anschlag‘ der Gegenkulturen der 60er und 70er Jahre auf das fordistische ‚Disziplinarregime‘ einerseits und der kooperativen Intelligenz informatisierter Dienstleistungs- und Netzwerk-Ökonomien andererseits situieren; zwischen der Erfindung und Behauptung neuer Lebensstile und Werte – „Mobilität, Flexibilität, Wissen, Kommunikation, Affekt“ – in der Politik kulturellen Experimentierens einerseits und der ökonomischen Leitkultur-Funktion von „creative industries“ anderseits. (Hardt; Negri 2002: 283ff) In der Terminologie des ‚knowledge management‘ formuliert, geht die Schlüsselpositionierung affektiver Arbeit im Postfordismus mit der Erschließung und Repräsentierbarkeit von informellen Kommunikationsweisen und bislang ‚implizitem Wissen‘ einher, zumal mit der Auslotung körperbasierten Produktionswissens, das die Effizienz- und Verhaltensstandards der fordistischen Disziplinen als unverwertbares marginalisiert haben.16 Bei Hardt und Negri ist affektive Arbeit als Produktion von „sozialen Netzwerken“ und „Formen von Gemeinschaft“ im Wege der „Erzeugung und Handhabung von Affekten“ charakterisiert: als fürsorgliche Reproduktionsarbeit, deren produktiver Charakter in feministischen Studien hervorgehoben wird, als „ins Somatische verstrickte“ Herstellung von „Behagen, Wohlergehen, Befriedigung, Erregung oder Leidenschaft“, für die Gesundheitsdienste ebenso wie die hochgradig flexiblen Services der Unterhaltungsindustrie paradigmatisch sind. (Hardt; Negri 2002: 304)
Zur Kennzeichnung der Rolle des Films, zumal des Splatterfilms, für die Zentrierung affektiver Arbeit in der postfordistischen gesellschaftlichen Produktion bietet sich ein Begriff an, der bei Gilles Deleuze verschiedene Themenkreise in Resonanz versetzt. Mit „Modulation“ bezeichnet Deleuze zum einen jene Art von Sozialisierung-als-Subjektivierung, die in postfordistischen „Kontrollgesellschaften“ an die Stelle der Disziplinierung tritt. Harte Übergänge zwischen den disziplinarischen „Einschließungsmilieus“, die Deleuze mit Gussformen bzw. Modulen vergleicht, werden von einem modulierenden Machttypus abgelöst, der sich der Gestreutheit, Mobilität und Veränderlichkeit der zu formenden Kräfte und Subjekte anschmiegt. Modulation heißt flexible Adaption der Macht ans Leben, kontinuierliche Variation der Form, etwa Ablösung geschlossener Schul-Milieus durch „lebenslanges Lernen“.17
In Deleuzens Studie zur Fleischlichkeit in Bacons Malerei ist der Begriff Modulation ein Stück weit mit Merleau-Pontys Konzept der ‚Synästhesie‘ gleichgesetzt – mit Übergängen zwischen Empfindungsweisen, die keiner Vermittlung durch Formen oder Codes bedürfen, insbesondere mit der Übersetzung von Sehen und Tasten ineinander. Im Zeichen von Bacons manuellem Einbruch ins gemalte Visuelle meint Modulation die Freisetzung eines „organlosen Körpers“ in der Sensation des Bildes – einen Körper im Werden, mit vorübergehenden, nicht festgelegten Organen, zumal die Entdeckung einer Tastfunktion im Blick, Wachstum einer Hand im Auge. (Deleuze 1993: Kap.6, 7, 12, 13, 17) In Deleuzens Kino-Philosophie schließlich ist dieses synästhetische, desorganisierende Potenzial dem filmischen Bewegungs-Bild insgesamt zugeordnet – weil es grundsätzlich die Bewegung, die universelle Veränderung, die Zeit aus den organischen Repräsentationen freisetzen kann; weil jedes Film-Bild Modulation ist, veränderliche, kontinuierliche, verzeitlichte Formung von Körpern, deren heterogener Dauer es sich als Abdruck anschmiegt. Das fotografische Bild hingegen ist für Deleuze eine fixierende Gussform, wirkt also gegenüber dem veränderlichen Leben eher disziplinierend. (Deleuze 1989: 41) Im Sinn der Korrespondenz dieser drei Gebrauchsweisen von „Modulation“ bei Deleuze könnte man sagen: Die Kontrollgesellschaft moduliert die Welt wie ein Bacon-Bild die Sinne und ein Bewegungs-Bild die Dauer moduliert; Kontrollen machen soziales Leben so synästhetisch, flexibel, vielfältig wie Fleisch-Bilder oder Film-Bilder.18
Es ist ein kulturwissenschaftlicher – vielleicht auch nur kulturpessimistischer – Gemeinplatz, die gegenwärtige Emphase des Körpers im Film und in Konsumkulturen lediglich als Kompensation einer umfassenden ‚Entkörperlichung‘ und Geringschätzung des Leibes in gesellschaftlichen Produktions- und Subjektivierungsprozessen zu betrachten. Ich glaube, dass dies zu kurz greift. So sehr Hardt und Negri auch den Stellenwert „affektiver Arbeit“ für die in ständiger Ankunft begriffene „Souveränität der Multitude“ überschätzen, kennzeichnet dieser Begriff doch recht gut die postfordistische Erkundung und Verwertung von Körper-Wissen in der Produktion, die zunehmende ökonomische Bedeutung von Flexibilität, undisziplinierter Kommunikation, sinnlicher Kreativität, die Entfaltung von ‚Gespür‘, differenzierendem Tastsinn als phänomenalem Leitmodus im auf lebenslängliche Dauer gestellten Lernen als zwangsflexibilisiertem Umlernen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Sozialisation durch filmische Affekte nicht so einfach als bloß trügerisches Authentizitätsversprechen einer entkörperlichenden Sozialisation durch das Kapital gegenüberstellen. In kontrollgesellschaftlichen Ökonomien affektiver Arbeit bekommt die bei Sobchack theoretisierte Film-Erfahrung des tastenden Sehens, das „Wissen der Finger“, und ebenso Marks' ‚Denken mit der Haut‘, einen mehr als bloß transgressiven oder romantischen Wert.19
Anders gesagt: So wie heutiges Film-Denken u. a. durch den Anstoß des Splatter-Körpers gelernt hat, den Wert fleischlicher Sinn-Stiftung zu schätzen, so ist der Splatter lehrreich für die Wert-Schätzung, das heißt Wert-Bildung affektiver Arbeit. Splatterfilm ist Einübung in die Produktivität des Affektiven. Das macht etwa Linda Williams deutlich in ihrer Studie über das ‚learning to scream‘, das kollektive Kreischen-Lernen des Kino-Publikums von Alfred Hitchcocks PSYCHO (USA 1960) anno 1960: Gelehrige Körper beim Kultivieren gemeinschaftlicher Affekte.20 Dabei geht es nicht nur um Einübung in neue konsumkulturelle Praktiken, sondern um Entfaltung von Produktivkräften, um die „zutiefst ökonomische Macht kultureller Bewegungen [...,] die wachsende Ununterscheidbarkeit ökonomischer und kultureller Phänomene“. (Hardt; Negri 2002: 285) Es gilt mithin, nicht nur die Industrialisierung von Kultur, sondern auch die Kulturalisierung der Ökonomie zu denken.
Von David Cronenberg etwa konnte man die Vermögen (zumal Flexibilität und Taktilität) vernetzter Kommunikation und informatisierter Produktion lernen. Aus der Telefonzellen-Szene in SCANNERS (CDN 1981), den ich ungefähr 1986 zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gelernt, dass es als Alltagskonvention denkbar ist, Computer zwecks Datenübertragung ans Telefonnetz anzuschließen; seit Mitte der 1990er Jahre ist diese Praxis unter dem Namen ‚Internet‘ geläufig. Aus dem Dialog und dem kulinarischen Test-Setting rund um das teleportierte Steak in Cronenbergs THE FLY (USA 1986) habe ich ungefähr zur selben Zeit über die Relevanz von etwas gelernt, das ich heute als erschließendes Management von affektivem Körper-Wissen bezeichnen würde – als Herstellung von Wohlbefinden, oder, mit Chion gesprochen, als ‚Rendering‘: Wie berechnet man Fleisch? Wie programmiert man im Computer die (so heißt es im Filmdialog) „Poesie eines Steaks“ – als Schritt auf dem Weg zu einer neuen Poetik des Körpers?
Brundle-Fly 1986, Spider-Man 2002. Zwei Insekten-Männer in zunächst skeptischer Freude an der Umwandlung ihres leiblichen oder vielmehr körperlich desorganisierten Selbst: ungewohnte Körper-Behaarung, geschwollene Haut und deren Ausscheidungen, das Klettern an Wänden. Wie verhalten sich THE FLY und SPIDER-MAN zueinander?
Der Frage sei gleich noch die Frage hinterher gesetzt, wie sich Sozialisierung in der Fabrik und Sozialisierung im Kino zueinander verhalten: „Der Form des Betriebs entspricht mit Notwendigkeit die des ‚Betriebs‘“, schrieb Kracauer 1926. (Kracauer 1963: 314) Bei Kracauer (und bei Agamben, wenn er heute Kracauer liest21) wird deutlich, dass Film, zumal der Splatter, den Körper als Ganzes fordert, mit Haut und Haar eben, als aus organischen und individualistischen Territorien von Identität herausgelöstes, nacktes Leben. Und dieses Leben reproduziert Film nur, indem er es immer auch ein bisschen als etwas anderes, Neues, mit-produziert (marxistisch gesprochen: erweitert reproduziert). Aus den Teleologien der disziplinarischen Moderne heraus weist Film ins ‚Utopia des Dazwischen‘, als Einübung ins Ausrinnen in ein Außen, in einen ‚Betrieb‘ der zumindest anders ist als die fordistische Fabrik, in eine tendenzielle Ununterscheidbarkeit und Verflechtung von Produktionsbetrieb und Amüsierbetrieb im Zeichen des Fleisch-verarbeitenden und dabei auch das Fleisch anregenden Betriebs.
Als säkularem Messianist der Massenkultur geht es Kracauer um einen Auszug in die Wüste, um Ansiedelung im Dazwischen; als Diagnostiker kontrollgesellschaftlicher Flexibilisierung denkt er bereits die ‚reelle Subsumtion‘ des sozialen Lebens durch das Kapital, wie sie Hardt und Negri der bloß formellen Subsumtion gegenüberstellen: Die Kontrollen des Empire annektieren nicht mehr extensiv Sphären, die außerhalb der kapitalistischen Produktionsweise liegen, sondern arbeiten den bereits kapitalisierten Bestand intensiver durch; reelle Subsumtion meint, dass „sich kein Zeichen, kein Subjekt, kein Wert keine Praxis mehr ausmachen [lassen], die ‚außerhalb‘ liegen“. (Hardt; Negri 2002: 266, 392) Es gilt hier, Globalisierung in einem nicht nur geopolitischen, sondern (lebens-)zeitlichen Sinn zu verstehen, mithin – wie Jonathan L. Beller das vorschlägt – das Kino als das paradigmatische ‚Kapital des 20. Jahrhunderts‘, entsprechend seinem Marx und Benjamin verkoppelnden todernsten Wortspiel im Aufsatztitel: Cinema, Capital of the 20th Century. Sozialisierung durch Kino und Medienkulturen schließlich als Hervorbringung neuer Affekte als Werte, als Auslotung/Erkundung der „Zwischenräume“ zwischen den bereits als produktive kapitalisierte Gesten und Praktiken.22 Kontrollgesellschaftliche Flexibilisierung als reelle Subsumtion erschließt das Utopia des Dazwischen, d.h.: Der ganze Körper wird zum Investitions-Standort, zum Ort, in dessen Totalität sich gesellschaftliche Wahrnehmung als Wert-Schätzung investieren lässt – nicht zuletzt im Sinn der von Cronenberg vorgeschlagenen Schönheitswettbewerbe auch für das Körper-Innere.23
Das Körper-Innere ist im Splatter nicht mehr als Privatheit, individuelles Privateigentum, abgegrenzt; insofern kulminiert im Splatter ein Gestus jener Durchsetzung von Öffentlichkeit am Leitfaden des Leibes und der affektiven Arbeit, die Kino heißt. Kino, verstanden als „weird privacy in public“, wie Cronenberg, beinah Schlüpman(n)isch, in einem Interview sagt.24 Kino insofern auch – durchaus im Sinne der vampiristisch-ahistorischen Zeitlichkeit bei Elsaesser oder einer Recycling-Ökonomie der Fleisch-Verarbeitung, die Halberstam an TEXAS CHAINSAW MASSACRE 2 (R: Tobe Hooper, USA 1986) bemerkt, und jedenfalls im Postfordismus (Halberstam 1995: 146f) – als Recycling von Abfall: Auferstehung der Wahrnehmung aus dem Ausrinnen, aus dem Abfluss – nämlich dem schwindelerregend in ein totes Auge modulierenden Abfluss der Dusche in PSYCHO (Williams 1999: 355) – und tastende Erkundung des Sozialen über seine Spuren und seinen Abfall im Sinn Kracauers oder einer Hermeneutik von Körpersäften, wie sie Aleida Assmann als Medienpraktik kulturellen Gedächtnisses beschreibt: „[W]as der einen Epoche als Abfall erscheint, wird der anderen zur Information.“ (Assmann 1996: 110)
Alles kann zur Information werden, alles kann gezeigt werden, alles kann Wert werden. Die Deformationen und Verdinglichungen von Organismen im Splatter lassen sich heute auch als Formen von Flexibilisierung und Produktivkraftentfaltung begreifen, die Leben als sozial und leiblich desorganisiertes, deterritorialisiertes „beliebiges Sein“ freisetzen25: unbestimmte ‚X-Men‘ mit vorübergehenden Organen, noch zu erkundenden Formen von Subjektivität, Produktivität, Gemeinschaft. Anders, und etwas zynisch, gesagt: „The nerds shall inherit the earth.“ Raimi und Jackson, die Splatter-Bastler von gestern, bauen heute die effizientesten Film-Globalisierungsmaschinen – SPIDER-MAN, LORD OF THE RINGS Teil 1 bis 3 (USA/NZL 2001, 2002, 2003). Splattern ist lehrreich, Splattern zahlt sich aus im postfordistischen Dauer-Situationismus, in dem Alltag zum permanenten Ausnahmezustand von Produktivität wird.
„Kino [kann] ganz grundsätzlich als Bedingung der Existenz der Menschen im 20. Jahrhundert verstanden werden,“ schreibt der Medienkulturtheoretiker Marc Ries. (Ries 2002: 119) Diese vom Kino mit bedingte, kontingente, prekäre soziale Existenz, das wäre eine mögliche, universalisierende Lesart jener „Immanenz des Monströsen“, die Halberstam in Skin Shows herausarbeitet: „We wear modern monsters like skin, they are us, they are on us and in us.“ (Halberstam 1995: 162) Modernisierung also als Erschließung unserer Monstrosität, das heißt: als unseres Gezeigt-Werdens, Kontrolliert-Werdens, unserer ständigen Wahrnehmbarkeit als Potenzialität von Selbstkontrolle. Kino und Medienkultur sind Existenzbedingungen, mithin Weisen von Vergesellschaftung und Gemeinschaftsbildung, und der Splatter sei ein Weg, die Organe verschiedener Körper miteinander kommunizieren zu lassen und sich dabei den Umweg über das Disziplinarsystem namens Individuum zu sparen, schreibt Linda Williams.26 „Join us!“ rufen die Untoten am Ende von THE EVIL DEAD. „Lasset uns Sterben!“ fordert der Selbstmord-Fanclub im TODESKING. Es geht dabei um Auslotung neuer, unbestimmter, vielleicht flexiblerer und affektiverer Formen von Gemeinschaft im Medium eines Bild-Werdens von Körpern und Empfindungen, das sich zu den desorganisierten sozialen Bio-Massen als Jacksonscher LORD OF THE RINGS oder Cameronscher KING OF THE WORLD verhalten mag, jedenfalls nicht als Todes-Souverän, sondern vielmehr als biopolitischer Lebensking, sprich: Splatter, sprich: Film.
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