Kinematografische Pirouetten in BLACK SWAN
Worum dreht sich BLACK SWAN (USA 2010)? Man wird hier wohl tautologisch antworten müssen: um die Drehung, um Pirouetten, Soutenus und Fouettés, um den kreiselnden, wirbelnden und rotierenden Körper. Es wimmelt in Darren Aronofskys Film nur so von Drehungen jeder Geschwindigkeit und Intensität, allen voran natürlich die berühmten zweiunddreißig ‚fouettés en tournant‘, die Tschaikowskys Schwanensee dem schwarzen Schwan abverlangt: zweiunddreißig infernalische Umdrehungen ohne Unterbrechung, angetrieben nur vom peitschenden Bein der Ballerina. Es ist diese Figur, die der Film unaufhörlich umkreist und mit der er seine Protagonistin Nina – eine talentierte Ballerina, die den weißen und den schwarzen Schwan in einer Person verkörpern soll – zum Äußersten treibt.
Auch wenn es also vor allem die tänzerischen Pirouetten sind, um die sich BLACK SWAN mit Vorliebe dreht, so vollführt der Film doch noch eine weitere Wendung, macht jenseits all der virtuosen Ballettfiguren auch den einen oder anderen heuristischen ‚turn‘. Der ‚turn‘ ist vermutlich die einzige genuin epistemologische Tanzfigur und erfreut sich in den Geistes- und Kulturwissenschaften bekanntlich schon seit geraumer Zeit ungebrochener Beliebtheit: Da folgen etwa ‚iconic‘, ‚performative‘, ‚affective‘ und ‚ontological turns‘ in schneller Folge aufeinander (Bachmann-Medick 2006). Jeder ‚turn‘ vollführt – mal elegant, mal eher ungelenk – eine Wendung des Blicks, die es erlaubt, die Dinge unter neuen epistemischen Vorzeichen zu betrachten. Dabei gilt es natürlich unter allen Umständen zu vermeiden, sich im Kreis zu drehen und wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Das konträre Gegenbild zum ‚turn‘ wäre deshalb genau die Figur der Pirouette, die trotz rasanter Bewegung letztlich auf der Stelle tritt. Im Gegensatz zum ‚turn‘ produziert die Pirouette niemals Neuorientierungen, nur endlose Wiederholungen.
Dennoch soll im Folgenden die Wette eingegangen werden, dass ausgerechnet die Pirouetten von BLACK SWAN zugleich einige veritable ‚turns‘ vollführen: In immer neuen Umdrehungen, so die These, wendet sich der Film der Frage zu, wie und unter welchen Bedingungen Ballett im bewegten Bild möglich ist. Dabei kehrt er mehrmals gewohnte Perspektiven und Verhältnisse um: In einem ersten Tanzschritt wird er zeigen, dass die Höhenflüge des Balletts letztlich in niederen Praktiken und irdischen Kräften verankert sind, dass sich also die Transzendenz des Körpers hochgradig materiellen und physischen Operationen verdankt. Auf diesen ‚material turn‘ lässt BLACK SWAN jedoch sogleich eine zweite, noch weitaus folgenreichere Umdrehung folgen: Durch sie konfrontiert er die Bewegungen des Balletts mit den technischen Bedingungen des bewegten Bildes, lässt sie folglich als direkte Effekte der kinematografischen Apparatur in Erscheinung treten. Aus diesem ‚media turn‘ ergibt sich abschließend die Frage nach dem Verhältnis des tanzenden Körpers zum kinematografischem Medium, auf die BLACK SWAN zwei gegenläufige Antworten bereithält.
Wahrscheinlich gibt es keine Kunstform, die sich in ihrem Selbstverständnis mehr von den Zwängen der Materie losgesagt und den Körper mehr der Schwerelosigkeit überantwortet hätte, als das Ballett. Es gilt gemeinhin als die sublime Kunst gewichtsloser Körper, in der vollendete Haltungen und Figuren ganz über die rohe Materie triumphieren. Entgegen diesen Klischees, so die erste These, stellt BLACK SWAN das Ballett kurzerhand vom Kopf auf die Füße. Er richtet den Blick auf die konkrete Bein- und Handarbeit, auf die materiellen, manuellen und physischen Aufwendungen, von denen das Spiel der Bewegungen getragen wird.
Vor diesem Hintergrund fällt auf, welches ausgiebige Interesse BLACK SWAN all den nebensächlichen Handgriffen entgegenbringt, mit denen die Ballerinas unaufhörlich ihre wichtigsten Utensilien, die rosa Spitzenschuhe, bearbeiten: Da wird Leder geknickt und zurechtgebogen, Sohlen mit Nägeln aufgeraut, abgeschabt und eingekerbt, feine Stoffe genäht, geflickt und mit zerstäubtem Wasser benetzt, Seidenbänder zurechtgeschnitten, Schleifen geknotet, überstehende Fäden abgefackelt und beschuhte Füße knirschend in körnigen Splittern gewälzt – unzählige kleine, technische, ja, handwerkliche Gesten, die von der Anmut des Tanzes denkbar weit entfernt sind.
Es ließe sich deshalb mit voller Berechtigung sagen, dass BLACK SWAN in aller Schlichtheit und Präzision die verborgenen Kulturtechniken oder Operationsketten des Balletts offenlegt (vgl. Schüttpelz 2007, Engell/Siegert 2010). Der Film würde dann so etwas wie einen kulturtechnischen Blick auf die materiellen Bedingungen des Spitzentanzes werfen, einen Blick, der den tanzenden Körper und seine grazilen Figuren nicht als fertige, naturgegebene Resultate hinnimmt, sondern an die zahllosen, manuellen Operationen zurückbindet, die in immer neuen Wiederholungschleifen das Ereignis des Tanzes überhaupt erst ermöglichen. Der ‚material turn‘ von BLACK SWAN bestünde dann darin, abseits der erhabenen Darbietungen, gleichsam an der Unter- oder Kehrseite des Balletts, an seinen Schuhsohlen und seinem Saum, die winzigen Rekursionen sichtbar zu machen, von denen die Pirouetten auf der Bühne konstitutiv abhängen.
Doch fügt der Film dieser Lesart noch etwas Entscheidendes hinzu, oder besser noch: fügt ihr etwas zu. Denn unübersehbar stellt er auch die brachiale Gewalt aus, mit der all die Handlungen ins Material eingreifen, die rabiaten Gesten, mit denen die Widerstände des Objekts gebrochen und die Forderungen der Geschmeidigkeit durchgesetzt werden, die zermürbenden, unendlichen Wiederholungen, mit denen jede dieser Techniken betrieben und an ihre Grenzen getrieben wird. BLACK SWAN erschöpft sich also bei weitem nicht in der bloßen Begutachtung von Operationsketten, sondern enthüllt an ihnen zugleich eine dunkle, fast feindselige Tendenz: den Drang, über jedes gesunde und funktionale Maß hinauszuschießen und letztlich exzessiven Charakter anzunehmen.
Mehr noch, der Film treibt die Praktiken des Balletts einem Punkt entgegen, den man vielleicht ihre ‚maligne Umkehrung‘ nennen könnte.1 Er verfolgt sie bis an den Moment, an dem die Operationen plötzlich destruktiv auf ihre Subjekte zurückschlagen, an dem sie mit verheerenden Wirkungen von den Gegenständen der Bearbeitung auf ihre Urheber überspringen. Genau eine solche maligne Wendung tritt in BLACK SWAN ein, wenn sich die Zurichtungen des Materials an den Körpern der Tänzerinnen wiederholen, wenn etwa die Gelenke der Ballerinas bei Dehnübungen geknickt, gebogen und geknetet werden wie zuvor das widerspenstige Schuhwerk. Am deutlichsten wird dieser Umschlag jedoch, als die Einstiche und Kratzer, mit denen Nina ihre Schuhsohlen traktiert hatte, plötzlich auf der Oberfläche ihrer Haut wiederkehren: Erschrocken muss sie feststellen, dass ihr Schulterblatt von unerklärlichen Kratzspuren übersät ist, zu denen sie ein unkontrollierter und unbewusster Impuls angetrieben hat. Die obsessiven Einkerbungen, die zunächst nur den Stoffen, Schuhen und Sohlen des Balletts gegolten hatten, haben sich umgewendet und den eigenen Körper befallen. Verzweifelt versucht Ninas Mutter, diese Verunstaltung der makellosen Haut aufzuhalten, indem sie Ninas Fingernägel mit Schere und Feile zurechtstutzt. Im Schneiden, Stutzen und Feilen der Fingernägel nimmt die Therapie jedoch ausgerechnet die Form des Übels an, das sie auszutreiben versucht.
BLACK SWAN entdeckt also so etwas wie eine auto-aggressive Wendung in den Kulturtechniken des Balletts, eine inhärente Neigung der Gesten, sich auf Kosten ihres Körpers pathologisch zu verselbstständigen. In Anlehnung an Freud ließe sich sagen, dass der Film am Grund oder im Abgrund der Operationsketten auf einen irritierenden „Wiederholungszwang“ (Freud 2002 [1920]) stößt, der ohne Unterlass und Unterbrechung die einmal angestoßenen Handgriffe auch dann noch fortsetzt, wenn sie ihre Trägerinnen zu Grunde richten. Schien BLACK SWAN also zunächst noch zu demonstrieren, inwiefern Ballett konstitutiv von materiellen Praktiken abhängt, sind es nun eben diese Praktiken, die zugleich von innen heraus die Bedingungen des Balletts – allen voran den intakten Körper – gefährden.
Doch bleibt BLACK SWAN nicht dabei stehen, die materiellen und körperlichen Prozeduren aufzudecken, die das Ballett im selben Moment ermöglichen und sabotieren. Wie bei einer Pirouette schließt sich hier sogleich eine weitere Umdrehung, ein weiterer ‚turn‘ an, der die Frage nach den Bedingungen des Balletts noch um eine Ebene tiefer legt.
Diese Wendung deutet sich an, als Nina zur Anprobe ihres Schwanenkostüms vor den Spiegel tritt. Für einen kurzen Moment entwickelt ihr Spiegelbild ein unheimliches Eigenleben und beginnt – völlig autonom – die eigene Schulter aufzukratzen. Zwei gegenüberliegende Spiegel werfen sich dieses Bild gegenseitig zu und multiplizieren es als „infinite image“ (Fisher/Jacobs 2011: 60) bis in die schwindelerregende Tiefe des Kaders. Durch die paradoxe Stellung der Spiegel wird also nicht mehr nur die zwanghafte Geste unendlich wiederholt, sondern auch das Bild selbst in einen infiniten Regress gestürzt. In einem permanenten ‚re-entry‘ tritt das Spiegelbild unaufhörlich ins eigene Spiegelbild ein. Hatten sich eben noch die repetitiven Praktiken vom Objekt auf den Körper übertragen und sich dort zu destruktiven Kreisläufen verselbstständigt, wird nun auch das Bild in eine nicht enden wollende Kaskade aus Wiederholungen gerissen.
Mit dieser Bilderfolge verweist uns BLACK SWAN, wenn auch zunächst nur unterschwellig und andeutungshaft, auf eine nicht mehr nur materielle oder körperliche, sondern eine dezidiert mediale Bedingung des Balletts. Denn die endlos in die Ferne laufenden, gerahmten Ausschnitte des Spiegelbildes erinnern bei genauerem Hinsehen doch frappierend an die unzähligen, hintereinander aufgereihten Frames eines Filmstreifens, bei dem jedes Bild in seiner Bewegungsphase nur geringfügig vom vorherigen abweicht. So wirft uns der Spiegel also heimlich auch die medialen, das heißt kinematografischen Bedingungen zurück, unter denen das gesamte Bewegungsspiel von BLACK SWAN stattfindet. Könnte es sein – so scheint die unendliche Serie von Spiegelbildern zu fragen –, dass sich BLACK SWAN inmitten all seiner Wiederholungen und Pirouetten auch und vor allem um sich selbst – als kinematografisches Bild – dreht?
Für diese Frage bietet es sich an, noch eine weitere Szene hinzuzuziehen: Um sich auf die größte Herausforderung ihrer Rolle, die zweiunddreißig ‚fouettés en tournant‘ des schwarzen Schwans, vorzubereiten, treibt Nina ihren Körper vor dem Panoramaspiegel des heimischen Wohnzimmers zu immer neuen Umdrehungen an. Dabei fixiert die Kamera zunächst Ninas Kopf und Oberkörper bei ihren wirbelnden Pirouetten. Während dabei ganz das physische Erleben und der kontinuierliche Erfahrungsstrom eines Subjekts im Fokus stehen, eröffnen Zwischenschnitte parallel dazu eine andere, davon streng geschiedene Ebene: Am Boden dreht Ninas vereinzelter Fuß seine Runden in ausgedehnter Zeitlupe, völlig separiert und unbeeindruckt vom übrigen Geschehen, wie ein rotierender Motor, der trotz ständiger Umdrehung an Ort und Stelle verharrt und dabei stets den immer gleichen Bewegungsablauf abrollt: Anheben, Eindrehen, Absetzen – ein stetiger Rhythmus aus Phasen der Bewegung und kurzen, diskreten Unterbrechungen, ganz im Gegensatz zum rasanten, kontinuierlichen Fluss von Ninas übrigem Körper.
Durch die schroffe Gegenüberstellung der beiden Ebenen – die fließende, mitreißende Bewegung Ninas einerseits und die unbeirrbare, diskrete Mechanik andererseits –, drängt sich der Eindruck auf, wir hätten es hier mit Bildern aus zwei unterschiedlichen Ordnungen zu tun, von denen das eine so etwas wie den Antrieb des anderen bildet: Das bewegte Bild der Tänzerin wäre dann abhängig von einem kreisenden Getriebe, von einer maschinellen Abfolge, der das menschliche Auge überhaupt nur in extremer Verlangsamung folgen kann. Man muss dieser Konstellation nicht allzu viel Gewalt antun, um in ihr eine verblüffende Chiffre der kinematografischen Anordnung zu erkennen: Denn ist es nicht gerade das fließende, gleitende filmische Bild, das von der automatischen Mechanik und konstanten Wiederholungsrate des Kinematografen abhängig ist? Ist es nicht der rhythmische, ruckartige Wechsel von Bewegung und Stillstand, der auch den Transport des Filmstreifens im kreisenden Malteserkreuz auszeichnet und so erst den kontinuierlichen Bilder- und Bewegungsstrom des Filmbildes ermöglicht? In einer neuerlichen Pirouette würde BLACK SWAN dann tatsächlich eine fundamentale Bedingung des Balletts freilegen, die nicht mehr einfach seine materiellen Praktiken oder körperlichen Zurichtungen beträfe, sondern die uns direkt in die Medialität des bewegten Bildes selbst führen würde, in die technische und apparative Funktionslogik des Kinematografen, der mit seinen repetitiven Automatismen zuallererst in einen fließenden Bewegungsstrom verwandelt, was ohne ihn nur stehende Bilder wären. Inmitten der zweiunddreißig ‚fouettés en tournant‘, der peitschenden Pirouetten, an denen Nina sich immer wieder versucht, vollführt BLACK SWAN also zugleich einen virtuosen ‚media turn‘, eine radikale Rückwendung auf das eigene Medium und damit auf denjenigen Ort, an dem das Ballett hier zur Erscheinung gelangt.2 Am winzigen Kontaktpunkt, an dem sich die drehende Fußspitze auf der Bodenfläche hält, berührt dann die tänzerische Bewegung zugleich ihre medialen Bedingungen.
Am Bild der Pirouette, so ließe sich festhalten, entwirft und erforscht BLACK SWAN also das Verhältnis des kinematografischen Mediums zur Bewegung des Tanzes. Er entwirft es genauer als Verhältnis zwischen einer repetitiven, technischen Apparatur, die den stetigen Wechsel der Bilder besorgt und einem kontinuierlichen Bewegungsfluss, der sich eben jenen kleinen Diskontinuitäten der Apparatur verdankt.
Doch schon der weitere Verlauf der betrachteten Szene zeigt, dass BLACK SWAN zwischen beiden Instanzen keineswegs ein harmonisches oder reibungsloses Verhältnis etabliert. Als wäre ihr mit einem Mal der Antrieb entzogen worden, wird Nina plötzlich aus der schwungvollen Bewegung geworfen, rutscht ab und reißt sich beim Aufschlag schmerzhaft den Zeh auf. Folgt man unserer Deutung, so wird mit diesem Sturz schlagartig deutlich, dass es sich bei der Beziehung zwischen dem tanzenden Bild und seinen medialen Bedingungen um eine äußerst prekäre Stabilisierung handelt, um eine hochanfällige Anordnung, die von präzisen Synchronisierungen und Balancen abhängig ist und daher jederzeit straucheln, abreißen oder zusammenbrechen kann. Nina – nicht als Figur im Film, sondern als filmische Figur – dreht sich nur genau so lange, wie sie vom permanenten Nachschub und konstanten Kreislauf der Bilder aufrechterhalten wird. Sobald die kinematografische Rotation aussetzt oder abreißt, bricht unweigerlich auch der Bewegungseindruck der Pirouette zusammen.
Doch während dieser Zusammenhang noch ganz unseren Erwartungen an die technischen Bedingungen der Filmprojektion entspricht, imaginiert BLACK SWAN einige Szenen später noch ein anderes, weitaus befremdlicheres Verhältnis zwischen der Bewegung des Tanzes und seinem kinematografischen Antrieb. Was wäre nämlich, wenn die eigentliche Katastrophe gar nicht im abrupten Ende der Wiederholungsmaschine bestünde, sondern vielmehr in ihrer unendlichen Fortsetzung, in einer autonom gewordenen, medialen Bewegung, die sich ganz über den tanzenden Körper hinwegsetzt und auch nach seinem Zusammenbruch noch unbeirrbar ihre Runden dreht?
Nachdem sich Nina am Vorabend der Premiere von Schwanensee eine heftige, handgreifliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter geliefert und sich daraufhin panisch im eigenen Zimmer verschanzt hat, überfällt sie eine plötzliche Ohnmacht. Erst taumelt ihr Körper einige Schritte rückwärts, dann brechen mit markerschütterndem Krachen ihre Beine grotesk entzwei und zwingen den fragilen Ballettkörper schlagartig in die Knie. Ninas vormals so bewegungstüchtiger und -süchtiger Körper ist mit einem Mal bewegungsunfähig geworden. Dieser Zusammenbruch scheint zunächst das definitive Ende all der Umdrehungen und Wiederholungsfiguren von BLACK SWAN zu markieren: Das Versagen der Beine entzieht der Pirouette ihr tragendes Skelett und lässt jede weitere Umdrehung unmöglich werden.
Dennoch – und gerade dies macht den Spuk der Szene aus – nimmt das ‚turning‘ noch immer kein Ende. Nach einer kurzen Schwarzblende folgt nämlich die Nahaufnahme einer kleinen, grazilen Ballerina aus Porzellan, die normalerweise Ninas Spieluhr ziert und jeden Abend zur Melodie von Schwanensee auf ihrem Nachtschränkchen kreist. Obwohl Nina die Spieluhr bereits einige Szenen zuvor auf dem Boden zerschmettert hatte, dreht sich jetzt noch immer ein stehengebliebener Stumpf, ein einzelnes, verstümmeltes Bein, das – getrennt von seinem restlichen Porzellankörper – auf unheimliche Weise fortlebt. Doch nicht nur das Bein, auch das Bild selbst steht hier seltsam isoliert: Es fehlt ihm jede Motivierung durch vorhergehende oder nachfolgende Einstellungen und weder lässt sich sagen, wessen Blick die Einstellung einnimmt, noch wer die Bewegung der Figur in Gang gesetzt haben soll. Es wirkt wie das gespenstische Zwischenspiel einer autonom gewordenen Apparatur.
Unwillkürlich wird man sich von diesem einsam zirkulierenden Körperteil an Ninas Pirouetten-Übung erinnert fühlen. War dort jedoch das rotierende Standbein noch untrennbar an Ninas Körperbewegungen gebunden, hat sich der Torso auf der Spieluhr vom übrigen Körper vollständig losgelöst und zirkuliert ohne jede Rückbindung an ein tanzendes Subjekt. Wenn es vorhin richtig war, die kreisende Motorik von Ninas Bein mit der Mechanik des Kinematografen zu identifizieren, dann hat sich dieser Antrieb hier radikal verselbstständigt: Nachdem Nina zusammengebrochen ist, hält der Automatismus seine Kreisbewegung unbeeindruckt aufrecht und setzt den Tanz in eigener Regie fort. Die Rotation des Kinematografen hört damit auf, bloß die treue, technische Bedingung des bewegten Bildes zu sein und setzt sich selbstbewusst an jene Leerstelle, die der tanzenden Körper nach seinem Zusammenbruch hinterlassen hat.
Waren bei Ninas erstem Sturz nur die Tanzfiguren und ihr kinematografischer Antrieb aus dem Gleichgewicht geraten, nehmen die Dinge hier einen weitaus drastischeren Verlauf: Mit dem geduldig kreisenden Bein aus Porzellan präsentiert BLACK SWAN eine Tanzfigur nach dem Ende des tanzenden Körpers, eine Pirouette, die sich in endlosen, mechanischen Wiederholungen allein aus dem Selbstbezug der kinematografischen Apparatur ergibt, ohne Veranlassung durch einen äußeren Anstoß oder Blick. Jenseits der tänzerischen Geste bleibt dann nur noch der Eigensinn der filmischen Apparatur. An die Stelle der Tänzerin tritt die Pirouette des Mediums.
Haben wir also nach all den Umdrehungen mit diesem Leerlauf, mit dieser Selbstumkreisung des filmischen Mediums, eine Grenzfigur erreicht? Hat BLACK SWAN in dieser tautologischen Bewegung seine – nie enden wollende – Schlusspose gefunden? Unsere Ausgangsfrage nach den Bedingungen des Balletts hätte dann eine eigentümliche Umkehrung erfahren: Von den Bedingungen des Balletts – den materiellen, physischen und medialen Umständen, die den Tanz ermöglichen – wären wir unweigerlich übergegangen zu einem Ballett der Bedingungen, also zur autonomen Bewegung des medialen Dispositivs, das des tanzenden Körpers nicht mehr bedarf, um seiner eigenen, unablässig wiederholten Choreografie zu folgen.
Man kann sich jedoch des Gefühls nicht erwehren, hier an einen toten Punkt gelangt zu sein, an dem aus den kreisenden Wiederholungfiguren jede Kontingenz, jedes Veränderungspotential, kurz: jedes Leben gewichen ist. So scheint es, als würde ein mechanischer Ablauf in regelmäßigen Abständen den immergleichen Tanzschritt reproduzieren, ohne noch für Momente des Unvorhersehbaren offen zu sein. Es würde daher nicht überraschen, wenn BLACK SWAN in einem letzten Anlauf doch noch zu einer weiteren Drehung ansetzte, um dem Verhältnis des Balletts zu seinen Bedingungen noch eine finale Wendung zu geben. Tatsächlich ereignet sich eine solche Umdrehung bei der Premiere von Schwanensee, die zugleich das Finale des Films markiert. Dort verkörpert Nina – inzwischen wieder von ihrem Zusammenbruch erholt – den schwarzen Schwan mit rasender Intensität und Leidenschaft. In schwindelerregenden Kreisfahrten folgt ihr die entfesselte Kamera, während Nina buchstäblich über sich selbst hinauswächst: In immer neuen Schüben wird ihre gesamte Körperoberfläche von einem kribbelnden Schauer erfasst, wölbt und windet sich ihre Haut unter den Geburtswehen einer radikalen Verwandlung. Inmitten der furiosen Paradefigur des schwarzen Schwans, den zweiunddreißig peitschenden Pirouetten oder ‚fouettés en tournant‘, nähert sie sich mit jeder Umdrehung ein Stück weiter einer fantastischen Transformation, bis sie schließlich in der majestätischen Schlusspose ein pechschwarzes Paar gefiederter Schwingen ausbreitet.
Für einen kurzen Moment bleibt offen, welchen Status diese überraschende Metamorphose hat, also ob und inwiefern sich Ninas Verwandlung in einen Schwan wirklich vollzogen hat. Die unmittelbar darauffolgende Einstellung zeigt Nina ohne Flügel auf der Bühne, mit weit ausgebreiten Armen, während die Schattenwürfe hinter ihr eine überlebensgroße, geflügelte Figur auf die erleuchtete Bühnenwand zeichnen. In dieser widersprüchlichen Gegenwart zweier Gestalten – eines bloßen, menschlichen Körpers und seines geflügelten Schattens – entwirft BLACK SWAN in seinem letzten Akt doch noch ein verwandeltes Verhältnis zwischen dem tanzenden Körper und dem filmischen Medium.
Denn einerseits steht hier ganz der Körper der Tänzerin im Mittelpunkt, dessen Präsenz und Opazität durch den Schattenwurf noch gesteigert wird. Dieser Schatten ist jedoch kein schlichtes Double seines Körpers, sondern verwandelt ihn in ein chimärisches Wesen aus Flügeln und Menschenleib. Es fällt dabei nicht schwer, im Schattenspiel auf dem leuchtenden Rechteck eine explizite Anspielung auf die filmische Projektion zu sehen, die bewegte Figuren auf einem hellen Grund erscheinen lässt. Dennoch kann auch die Projektion hier nicht ganz ihrer Eigenlogik folgen, sondern ist auf eigentümliche Weise an die Anwesenheit des schattenwerfenden Körpers gebunden, der sie zuallererst hervorgerufen hat.
Die rätselhafte Sphinx verdankt sich also weder dem bloßen Wirken der Tänzerin noch den Eigenleistungen der filmischen Projektionstechnik, sondern vielmehr dem Zusammentreffen, der Begegnung, der Kreuzung eines leibhaftigen, plastischen, tanzenden Körpers mit den Bedingungen und Verfahren des kinematografischen Apparats. Sie ist das ephemere Ergebnis einer flüchtigen Berührung von tänzerischem und filmischem Medium – nicht die Aufhebung ihrer Differenz in einer höheren Einheit, vielmehr die Projektion und Produktion einer hybriden Gestalt, die nur aus dem Kontakt und der Überlagerung der beiden hervorgehen kann.
Vielleicht wäre dies tatsächlich BLACK SWANs letzte Antwort auf die Frage, wie Ballett als bewegtes Bild möglich ist: durch das unvorhersehbare Zusammentreffen materieller, physischer und medialer Umstände, ja, durch die Beflügelung eines menschlichen Körpers mit den Mitteln der filmischen Apparatur. Vielleicht entsteht ein solches geflügeltes Wesen immer an jenem Kontaktpunkt, an dem eine grazil gestreckte Fußspitze zu einer neuen Pirouette anhebt.
Bachmann-Medick, Doris (2006) Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt.
Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard (2010) Editorial, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/2010, Schwerpunkt: Kulturtechnik, S. 5–10.
Fisher, Mark/Jacobs, Amber (2011) Debating Black Swan. Gender and Horror. Mark Fisher and Amber Jacobs Disagree About Aronofsky’s Film, in: Film Quarterly, 65 (1), S. 58–62.
Freud, Sigmund (2002 [1920]) Jenseits des Lustprinzips, in: Ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt am Main: Fischer, S. 191–249.
Latour, Bruno (2013) An Inquiry into the Modes of Existence. An Anthropology of the Moderns. Cambridge, MA/London: Havard University Press.
Macaulay, Alastair (2016) ‚Swan Lake,’ and Its 32 Fouettés, in: New York Times, 13. Juni 2016, siehe: https://nyti.ms/2lgOLWh (Letzter Zugriff: 14.02.2017).
Schüttpelz, Erhard (2006) Die Medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, in: Archiv für Mediengeschichte. Schwerpunkt: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), S. 87–110.