Hollywood, Vietnam, Krieg
Der März des Jahres 1999 war ein bemerkenswerter Monat in Sachen Krieg. Die NATO begann ihren Angriff auf Jugoslawien mit deutscher Beteiligung (was den ersten Kriegseinsatz deutscher Truppen seit dem Zweiten Weltkrieg darstellte) und SAVING PRIVATE RYAN (USA 1998) erlebte eine glamouröse Oscar-Nacht. Von elf Nominierungen gewann Steven Spielbergs Kriegsfilm fünf (u.a. Beste Kamera, Bester Schnitt und Beste Regie) – der Höhepunkt einer enormen Erfolgsgeschichte: Bereits an seinem ersten Wochenende hatte SAVING PRIVATE RYAN in den USA knapp die Hälfte seiner 70 Millionen Dollar Produktionskosten eingespielt und innerhalb von sechs Monaten in den USA knapp 200 Millionen eingefahren. Außerhalb der USA waren es innerhalb von nur drei Monaten weitere 224,7 Millionen Dollar.
Filmkritiken arbeiteten sich ausführlich an dem Comeback des Kriegsfilms ab, überwiegend mit wohlwollenden Reaktionen. "Beklemmend authentisch" (Follath 1998), hieß es im Spiegel, deutsche wie amerikanische Kritiken zeigten sich weitgehend einig darin, dass es Spielberg gelungen sei, wie Kenneth Turan betonte, die subjektive Wahrnehmung eines Frontsoldaten zu simulieren und darüber "the nature of war" (Turan 1998) eben nicht zu trivialisieren. Beispielhaft für das positive Echo schrieb Andreas Kilb:
"Mit Der Soldat James Ryan hat Steven Spielberg, wie zuvor mit Schindlers Liste, wieder mal ein ganzes Genre aus den Angeln gehoben und es zugleich wiederbelebt. Der Kriegsfilm, dessen letzte Granate längst verschossen schien, ist wieder da. Und Spielberg zeigt, was wir von ihm erwarten dürfen." (Kilb 1998)
Was die Rückkehr des Kriegsfilms im großen Stil anbetraf, sollten diese Stimmen recht behalten. In den darauffolgenden Jahren war eine ungewöhnlich große Zahl an aufwändigen und mit hochrangigen Stars besetzten Kriegsfilmen zu sehen. Um ein paar zu nennen: THE THIN RED LINE (USA 1998) von Terrence Malick mit u.a. Nick Nolte, Sean Penn und Woody Harrelson. Matthew McConaughey, Harvey Keitel und Jon Bon Jovi erobern in U-571 (USA / F 2000) ein deutsches U-Boot im Zweiten Weltkrieg. Jean-Jacques Annauds ENEMY AT THE GATES (UK / F / D / IR / USA 2001), seinerzeit die mit 70 Mio $ teuerste europäische Koproduktion aller Zeiten, verhandelt mit Jude Law und Ed Harris die Schlacht um Stalingrad. Josh Hartnett und Ben Affleck verteidigen und rächen PEARL HARBOR (USA 2001), Bruce Willis steht als amerikanischer Kriegsgefangener in HART'S WAR (USA 2002) seinen Mann gegen die Deutschen, John Woo schickt mit WINDTALKERS (USA 2002) Nicolas Cage in den WW2. Owen Wilson und Gene Hackman schlagen sich in BEHIND ENEMY LINES (USA 2002) mit serbischen Milizen herum, Josh Hartnett, Ewan McGregor und Tom Sizemore verarbeiten für Ridley Scott in BLACK HAWK DOWN (USA / UK 2002) die Niederlage in Somalia von 1993, und Mel Gibson durfte als eingekesselter Kriegsheld in WE WERE SOLDIERS (USA / D 2002) auf Napalmbomben über Vietnam warten. Insgesamt wurden mit diesen elf Filmen in fünf Jahren allein in den USA über 850 Millionen Dollar eingespielt, weltweit dürften die Einnahmen (ohne Video- und DVD-Auswertung) in etwa bei 1,2 Milliarden gelegen haben.
Diese jüngste Kriegsfilmwelle möchte ich zum Anlaß nehmen, einen kleinen Umweg über die noch ein wenig ältere Hollywood-Kriegsfilmgeschichte einzuschlagen, um Gemeinsamkeiten zu diskutieren. Kurz gesagt geht es mir um die Frage, woran wir den Krieg im Kino erkennen, auf welche Zeichen wir dabei reagieren. Es geht mir um Muster in der Repräsentation des Krieges und darum, wie sie unser Verständnis prägen, uns im Kino oder vor dem Fernseher vermitteln, dass wir ZeugInnen einer Kriegssituation werden. Mit welchen Bildern also, so möchte ich fragen, sehen wir den Krieg an?
Die letzte große Kriegsfilmwelle des amerikanischen Kinos – und damit auch des Weltmarkts – vor dem Erfolg von SAVING PRIVATE RYAN hatte sich mit dem Vietnamkrieg auseinandergesetzt. Nachdem bereits Ende der siebziger Jahre Produktionen wie APOCALYPSE NOW (USA 1979), THE DEER HUNTER (USA / UK 1978), COMING HOME (USA 1978) und GO TELL THE SPARTANS (USA 1978) diesen verlorenen Krieg thematisiert hatten, sollte der Vietnamkriegsfilm in den achtziger Jahren zu einem lebendigen und erstaunlich langlebigen Subgenre avancieren. Regisseure wie Brian De Palma, Barry Levinson, John Irving, Stanley Kubrick sowie Francis Ford Coppola und Oliver Stone (die beide mehrere Vietnamkriegsfilme inszenierten) und zeitgenössische Stars wie Chuck Norris (in der MISSING IN ACTION-Trilogie (USA 1984–88)), Michael J. Fox, Gene Hackman, Mathew Modine, James Woods, Robin Williams, Rutger Hauer, Ed Harris und Robert De Niro, Willem Dafoe und Gregory Hines, Danny Glover, Sean Penn, James Caan, Tom Cruise und natürlich Sylvester Stallone in den RAMBO-Filmen (USA 1982-2008) machten den Vietnamkriegsfilm zu einer ungemein präsenten, erfolgreichen und männlich dominierten Spielart des Kinos.
Einer der erfolgreichsten und zugleich meistdiskutiertesten Filme dieser Ära war Oliver Stones PLATOON (USA 1986) von 1986 – der interessanterweise auf durchaus ähnliche Reaktionen stieß wie Spielbergs SAVING PRIVATE RYAN zwölf Jahre später. PLATOON erzählt die Geschichte der Einheit – des platoons – um den freiwilligen Soldaten Chris Taylor (Charlie Sheen) in Vietnam 1967. Das Drehbuch wurde von Oliver Stone nach, wie Stone betont, seinen eigenen Erfahrungen im Vietnamkrieg verfasst. Der Protagonist des Films, den Stone nachdrücklich als sein alter ego verstanden wissen will, wird nach zahlreichen Gefechten mit dem Feind und Kämpfen innerhalb der eigenen Einheit das Schlachtfeld als einer der wenigen Überlebenden verlassen.
Dem Time-Magazin war der Film am 16. Januar 1987 die Titelschlagzeile wert: "Vietnam As It Really Was". Und obwohl sich durchaus Kontroversen zu Stones Film entwickelten – für den Filmwissenschaftler Frank Beaver ist PLATOON "one of the most attended, debated, and written-about motion pictures ever made" (Beaver 1994: 85) – so überwog die positive Resonanz. PLATOON wurde als "the first real Viet Nam film and one of the great war movies of all time" (Corliss 1987: 57) gefeiert, die Anerkennung für "einen der größten Kriegsfilme aller Zeiten" (Schäfer/Schwarzer 1991: 236) war untrennbar mit der Begeisterung über die "authentische" Wiedergabe des Krieges verzahnt.
"Thanks to Stone's handheld camera style, for example", lobt die Filmwissenschaftlerin Susan Mackey-Kallis, "our awareness of the grime, sweat, and pain of the young recruits as they hump through the jungles of Southeast Asia is almost visceral. We smell their fear, taste their dry mouthed exhaustion, and sense their confusion and despair." (Mackey-Kallis 1996: 63)
"What it is about is the feel of the Vietnam War" (Palmer 1993: 20), schreibt William Palmer in The Vietnam War as Filmic Text, und Frank Beaver unterstützt diese Sichtweise, indem er ebenfalls die bewegliche Kamera preist, dank der wir den Dschungel als unzureichend definierten Ort, als "ill-defined space", mit den Augen der Soldaten erleben dürfen. (Beaver 1994: 98)
Worauf die meisten Kritiker- und WissenschaftlerInnen bei ihrer Nobilitierung des Films abzielten, war die Erzeugung von Unübersichtlichkeit. Confusion hieß das zentrale Merkmal, das der Film durch seine Schnitt-, Kamera- und Tontechnik erziele, und das uns gleichsam die Angst der Soldaten geradezu riechen lasse. Ein Film, der in erster Linie vom Gefühl, von der Erfahrung des Vietnamkriegs handele – ein Augenzeugenbericht, in dem es vor allem um eines gehe: Verwirrung. PLATOON verweigere, so hat Stefan Reinecke in Hollywood Goes Vietnam geschrieben, "vielleicht die typische Perspektive des Kriegsfilms: den Feldhügelblick, der die Zuschauer die Szenerie mit einem Blick beherrschen läßt" (Reinecke 1993: 122). Stattdessen beherrscht die hektische, bewegliche Kamera nicht die Szenerie, sondern ordnet sich ihr gewissermaßen unter; sie unterstützt dabei eine klaustrophobische Stimmung, in der die US-Soldaten um Chris Taylor eher als Opfer der Umstände denn als überlegene Feldherren mit Übersicht erscheinen.
Damit aber hatte PLATOON grundsätzlich nur bedingt Neuland betreten: Sein Erfolg hing auch damit zusammen, dass er ein spezifisches Allgemeingut zum Vietnamkrieg pointierte, kursierende Bilder und Vorstellung montierte und – im Kino – auf die Spitze trieb. In diesem Sinne spielen Konfusion und die filmischen Mittel, dank der wir sie als solche erkennen, tatsächlich eine besondere Rolle.
Die Kombination der sich durch den Dschungel gleichsam durchkämpfenden Kamera mit bisweilen verwirrenden Lichtverhältnissen sowie Schnitten und Reißschwenks von einer Explosion zur anderen lässt sich auch als spielfilmgemäße Radikalisierung der amerikanischen TV-Kriegsberichterstattung zur Zeit des Vietnamkrieges verstehen. Der sogenannte "living room war" war der erste Krieg, der quasi zeitversetzt durch das Fernsehen übertragen wurde. Als 'Wohnzimmer-Krieg' gewährte er die Illusion, über den Reporter, der seine Kamera durch den Dschungel trug wie die Soldaten ihre Gewehre, den 'wahren' oder doch zumindest den aktuellen Krieg zu erleben. Diese gängigen Bilder der, so David E. James, "'bang bang' aesthetic of the networks" (James 1990: 249) trugen die Merkmale einer teilnehmenden Beobachtung. Im Vergleich zur Struktur und Ästhetik früherer amerikanischer Kriegsberichte erschienen die Reportagen und die Dokumentationen aus Vietnam mitunter wie uninszenierte Augenzeugenberichte.
"[In] the combat scenes", so David E. James, "the cameramen's defensive reaction to enemy attack causes the coherence of the visual and aural fields to fall apart into the energized cacophony of the recording appartus's own contact with violence, reproducing in the enunciation the chaotic violence of the exchange of fire and the cries of pain of the wounded." (James 1990: 242)
Dass diese Ikonographie zugleich mit einer spezifischen Zuschauererfahrung einhergeht, die Desorientierung auch mit der Distanz des TV-Pubklikums verknüpft, erklärt Thomas Doherty in Projections of War: Doherty zufolge fängt der Begriff living room war auch das Gefühl von Distanz und Desorientierung der Betrachterperspektive in der Heimat ein – das passive Nichtinvolviertsein in einen Krieg, der, für die meisten Amerikaner die meiste Zeit über, eine Flut elektronischer Punkte gewesen ist. Entgegen der früheren Kohärenz und Ordnung von Wochenschauen und Kriegsreportagen war das Vietnam-Video ein Sturm aus flüchtigen Bildern, weißem Rauschen, sinnlosen Statistiken und unvorbereiteter action. (vgl. Doherty 1993: 291)
Konfusion, so könnte man sagen, erweist sich damit als ein doppeltes Erkennungszeichen des Vietnamkriegs. Einerseits im Sinne der sogenannten "realen" Kriegserfahrung der Soldaten und andererseits im Sinne der historischen Publikumserfahrung vor den Fernsehgeräten. In PLATOON finden wir die Inszenierungsmittel der Berichterstattung und Dokumentationen wieder – von der wackeligen Kamera bis zu raschen Schnitten, den rough cuts. Die gelobte Authentizität bei Stone ist also auch als das Ergebnis einer Dramatisierung jener Fernseh-Kriegsrealität zu verstehen, die sich bei der Übertragung des living room war entwickelte. Sie vermittelte Bilder und Töne, die für das Publikum sowohl den Krieg als auch das Land Vietnam zu, wie Rick Berg anmerkt, einem Bündel transparenter Zeichen machte:
"Vietnam, the war, and the country became for the American viewer a set of transparent signs, signifying at one and the same time 'reality' and 'Vietnam'." (Berg 1991: 119)
Wenn also Verwirrung ein Teil des transparenten Zeichens "Vietnam" ist – nicht erst seit PLATOON und nicht nur für ein Kinopublikum – so stellt sich die Frage, was für Schlüsse diese Form der Darstellung von Krieg, Realität und Vietnam zulässt. Wovon erzählt die Konfusion?
Einerseits war die beschriebene Ästhetik der TV-Berichte zum Teil ein Ergebnis der erschwerten und gefährlichen Produktionsbedingungen – die Begleitung etwa des Vorrückens der US-Truppen im Dschungel unter Beschuss machten sichere Stativ-Aufnahmen oder gar optimales Ausleuchten selten möglich. Andererseits aber vermittelten sich darüber spezifische Lesarten dieses transparenten Zeichens Vietnamkrieg – und dies wird umso interessanter angesichts der heutigen Forschungserkenntnisse, dass viele der ausgestrahlten Berichte aus Vietnam keineswegs authentisch, sondern inszeniert gewesen sind. Hier stellt sich mit Nachdruck die Frage nach der Wirkung dieser Kriegs-Ikonographie, die Rick Berg mit dem "cinema verité style" assoziiert. Die scheinbar überforderte Kamera, die den Soldaten folgend durch dichtes Grün und unwegbares Gelände keine Übersicht über das Kriegsgeschehen gewinnen kann, unterstützt auch die propagandistische Sicht auf den Vietnamkrieg als einen Kampf, in dem die US-Militärs sich gegen einen Feind wehren, der sich feige einer offenen Konfrontation – die man eben mit dem Feldhügelblick erfassen könnte – entziehe. In dem militärischen Propagandafilm GET TO KNOW CHARLIE von 1967 heißt es über diesen Feind, seine Haupttaktik sei der Angriff aus dem Hinterhalt; in DEAR AMERICA: LETTERS HOME FROM VIETNAM (USA 1987) beteuern die berichtenden US-Soldaten immer wieder, wie schwer es sei, den Feind überhaupt zu erkennen.
Der Dschungel und "Charlie" sind aus dieser Perspektive der Konfusion immer schon eins. Urplötzlich können aus einem Gebüsch Schüsse fallen, aus einem Baum eine tödliche Falle werden und "der Vietcong" wie aus dem Boden gewachsen auftauchen. Hier also – so konnte man es sehen – befand sich "die Zivilisation" im Kampf gegen "die Natur", welche sich überdies als Metapher für den sich ebenso gefährlich, unsichtbar und unterschwellig ausbreitenden Kommunismus anbot. Die Schreckensvision der grassierenden "kommunistische Bedrohung" wurde z.B. in der vom State Department kontrollierten Propaganda-Dokumentation WHY VIETNAM? (USA 1965) als ein Hauptgrund des US-Engagements in Vietnam aufgebaut.
Die Inszenierung des Orientierungsnotstandes im Dschungel befördert weitere Implikationen. Feind und Dschungel/Natur zusammen zu denken, ist eine wichtige, wenn nicht die Voraussetzung dafür, den Einsatz von Napalm und des tödlichen Entlaubungsmittels "Agent Orange" als eine sinnvolle, verhältnismäßige und strategisch notwendige Maßnahme zu erachten. Ebenso jedoch kann der Orientierungsnotstand im Gegenzug auch die Sichtweise von Kriegsgegnern stützen, man kämpfe dort gegen eine unsichtbare Allianz, was diesen Krieg automatisch zu einer "no win situation" mache. Zum dritten lassen sich diese offensichtliche Beeinträchtigung von klarer Sicht und die fehlende Trennschärfe zwischen Feind und Nicht-Feind wiederum als Erklärung für die Ermordungen von Zivilisten durch die US-Armee missbrauchen. Die ermordeten Vietnamesinnen und Vietnamesen – z.B. die Dorfbewohner von My Lai, die im März 1968 massakriert wurden – wären damit weniger den US-Soldaten als vielmehr den Umständen des Krieges und letztlich gar der Taktik des "Vietcong" zum Opfer gefallen. Sie sind Opfer der Verwirrung, des prägenden Merkmals dieses Krieges.
Ein anderes Merkmal der Kriegsrepräsentation und ein weiterer Aspekt des transparenten Zeichens Vietnam betrifft die Inszenierung von Weiblichkeit – genauer gesagt: die Identifizierung Vietnams als weiblicher Körper. Nicht zufällig ist es eine Frau, die als Auslöser der Filmhandlung Michael J. Fox in Brian De Palmas CASUALTIES OF WAR (USA 1989) an Vietnam erinnert, und ebensowenig zufällig begegnet John Rambo in RAMBO: FIRST BLOOD, PART TWO (USA 1985) im vietnamesischen Dschungel zuallererst einer Frau. Immer wieder tauchen in US-Vietnamkriegsfilmen Bilder von Vietnamesinnen auf als Verführerinnen, als Kämpferinnen vor allem jedoch als Opfer von Gefechten, Hinrichtungen oder Vergewaltigungen; sobald eine vietnamesische Stadt zum Zentrum des Geschehens wird, wie z.B. in Christopher Crowes OFF LIMITS (USA 1988), werden vietnamesische Prostituierte ins Bild gerückt. Vor allem in sogenannten "Antikriegsfilmen" wird der Einmarsch von US-Truppen häufig mit Vergewaltigungen und Misshandlung vietnamesischer Frauen übersetzt (so u.a. in PLATOON, BORN ON THE FOURTH OF JULY (USA 1989), HEAVEN AND EARTH (USA / F 1993) und CASULATIES OF WAR. Auch in RAMBO: FIRST BLOOD, PART TWO muss die vietnamesische Gefährtin des Helden sterben – im Kugelhagel der kommunistischen Nordvietnamesen, was Klarheit darüber anbietet, wer hier "das unschuldige Vietnam" auf dem Gewissen hat.
Stanley Kubricks FULL METAL JACKET (USA 1987) hat diesen dominanten Blick auf Vietnam als weiblichen Körper präzise vorgeführt und thematisiert: Nachdem in der ersten Hälfte des Films nicht eine einzige Frau zu sehen war und wir eine männliche Identitätsbildung im militärischen Ausbildungslager beobachten konnten, zeigt die erste Szene in Vietnam den Catwalk einer südvietnamesischen Prostituierten über die Straße auf zwei US-Soldaten zu. Nancy Sinatras Song These Boots Are Made For Walking kommentiert diesen Moment des Auftritts von männlich definierter Weiblichkeit, der zugleich wortwörtlich der erste Auftritt von "Vietnam" ist.
Schulungs- und Propagandamaterialien der US-Air Force während des Vietnamkriegs zeichneten auf ihre Weise das Bildnis von Vietnam als Frau. In ihnen wurde z.B. unter dem Titel Wo Mädchen sind, lauert die Gefahr vor der Bedrohung durch weibliche Sexualität gewarnt:
"(...) wir befinden uns in einem fremden Land, mit fremden und sehr reizvollen Mädchen und fremden Krankheiten – Geschlechtskrankheiten zum Beispiel (...)".1
Das Versprechen "Get To Know Charlie" wurde 1967 zum Titel eines militärischen Aufklärungs- und Propagandafilms – schon in Hitchcocks SHADOW OF A DOUBT (USA 1942) haben wir lernen können, dass Charlie nicht nur ein Männer-, sondern auch ein Frauenname ist. Ganz folgerichtig erzählt der erste große US-Vietnamkriegsfilm, der den Krieg aus vietnamesischer Perspektive beschreiben will – Oliver Stones HEAVEN AND EARTH – vom Schicksal einer Frau. Komplex wird diese Identifikation weniger dadurch, dass hier westliche Stereotype von fernöstlicher Weiblichkeit reproduziert werden, sondern indem sich hier ein anderer, vietnamesischer Kontext auftut: Wie die Filmemacherin und Theoretikerin Trinh T. Minh-ha in ihrem Dokumentarfilm SURNAME VIET GIVEN NAME NAM (USA 1989) und Mariam Beevi in ihrem Aufsatz The Passing of Literary Traditions: The Figure of the Woman from Vietnamese Nationalism to Vietnamese American Transnationalism gezeigt haben, besitzt in Vietnam die Metapher eines weiblichen Körpers für die Geschichte des Landes eine lange Tradition – festgehalten in dem nationalen Epos Kim Van Kieu (auch bekannt als The Tale of Kieu), das im frühen 19. Jahrhundert geschriebenen wurde.2
Susan Jeffords, Tania Modleski und Trinh T. Minh-ha haben darauf hingewiesen, wie sehr die Inszenierung der Landschaft Vietnams – "all jungle, often fed by rivers – a warm, moist, 'closed space'" (Selig 1993: 15) – auch eine komplexe, männliche und chauvinistische Vision von weiblicher Sexualität anbietet. Eine gleichsam sexualisierte Landschaft, die sowohl begehrt wird als auch als "das andere", Unbekannte, Verwirrende gefürchtet und als bedrohlich empfunden.3 Insofern scheinen im transparente Zeichen Vietnam die Begriffe Konfusion und Weiblichkeit sehr nah aneinander zu rücken.
Wofür diese (Vietnam-)Kriegsfilme also sensibilisieren könnten, ist die Suche nach übergreifenden Merkmalen, Repräsentationsmustern, die komplizierte Zusammenhänge und Systeme unmittelbar erkennbar, greifbar machen sollen. Gleichwohl bedeuten Repräsentationsmuster und Merkmale transparenter Zeichen keineswegs, dass damit eine Einheitlichkeit der Filme zu postulieren wäre. Die Vietnamkriegsfilme der 1980er Jahre sind nicht einfach über einen Kamm zu scheren, natürlich unterscheiden sich die Vietnambilder wie auch die Haltungen, Ein- und Aussichten, denen die einzelnen Filme zustreben. Es ist notwendig, hier nicht von einheitlichen oder eindeutigen, sondern von dominanten Mustern zu sprechen, und nicht von einheitlichen Bedeutungen, sondern von präferierten Lesarten und Deutungsweisen. Platoon, John Irvins HAMBURGER HILL (USA 1987), Eric Westons THE IRON TRIANGLE (USA 1989), RAMBO: FIRST BLOOD, PART TWO und CASUALTIES OF WAR differieren in ihren Orientierungen – allein die Bilder und Töne, die sie gleichsam als Erkennungszeichen zu ihren Zwecken benutzen, haben signifikante Ähnlichkeiten. Sie sind auch ein Ergebnis der Ökonomie des Erzählens: Für ein möglichst großes Publikum sollen möglichst schnell das Setting, der Ort des Geschehens und seine Implikationen klar werden.
Von hier aus könnte nun ein anderer Blick auf die aktuelle Kriegsfilmwelle geworfen werden. Woran z.B. liegt es, dass SAVING PRIVATE RYAN so oft als beklemmend authentisch bezeichnet wurde? Dieser Film komme, schrieb der Filmkritiker Andreas Kilb, "der Wahrheit des Gemetzels immerhin so nah, wie man ohne Mord am Zuschauer kommen kann" (Kilb 1998). Hier werde, wie Kenneth Turan betonte, die 'Natur des Krieges' sichtbar. Errungen wurde dieser Triumph aber nicht zuletzt durch jene berühmte, knapp halbstündige Gefechtssequenz, die als "einzigartig" und "in der Filmgeschichte ohne Gegenstück" gerühmt wurde – und die vor dem Hintergrund der sich ähnelnden Gefechtsszenen aus Vietnamkriegsfilmen wie PLATOON, HAMBURGER HILL und CASUALTIES OF WAR durchaus wie eine extreme Zuspitzung erscheint. Die als "authentisch" gerühmte und verstandene Orientierungslosigkeit, die Konfusion und Unüberschaubarkeit des Kampfes qua point of view, erreicht hier einen dramatischen Höhepunkt. "So fühlt sich Krieg an", behauptet eine akustische und visuelle Subjektive, und genau so, als Mit-Gefühl, wurde der Film verstanden.
Vor allem drei Merkmale zeichneten diese Eröffnungssequenz aus. Zum einen wirkte die um einen dokumentarischen Gestus bemühte Kamera, welche unversehens – jeden kann es erwischen – auf weggesprengte Kopfhälften oder herausquillende Gedärme stoßen konnte. Die körperliche Unsicherheit garantiert die Sicherheit, ein "wahres Kriegsgefühl" zu erleben. Unterstützt durch eine Tonspur, die quasi die Gehörwelt der Soldaten übertragen sollte. Eine dritte Authentisierungsstrategie lag in der Belichtung des Filmmaterials. Ausgeblichene Farben, verwaschene Grau-, Braun- und Grüntönungen gaben den Bildern einen Hauch von historischer Wahrheit und dem Rot des Opferbluts zudem einen unsichtbaren Spot.
Näher, mein Krieg, zu dir: Auf diese Bilderlogik – vor allem auf die Konfusion des Krieges durch eine subjektive, begleitende Kamera im Schlachtgetümmel – sollten sich fast alle der nachfolgenden Kriegsfilme der folgenden Jahre stützen. Derartige Szenen sind u.a. sowohl in Terrence Malicks THE THIN RED LINE, in John Woos WINDTALKERS, in BEHIND ENEMY LINES, in Jean-Jacques Annauds ENEMY AT THE GATES wie auch in Ridley Scotts BLACK HAWK DOWN zu sehen. Auch in diesen Filmen bewegt sich die Kamera mit den Soldaten ins Feuer, gerät wie ein beteiligtes Subjekt in jenen sprichwörtlichen "Kugelhagel" – too close for comfort.
Dass diese Bilderlogik 2002 mit WE WERE SOLDIERS zum Schauplatz Vietnam zurückkehrte – WE WERE SOLDIERS ist der erste große, starbesetzte und auch einigermaßen erfolgreiche Vietnamkriegsfilm seit dem Ende der achtziger Jahre – zeigt somit eine eigenartige Konsequenz. Ein ikonographischer Kreis schließt sich: Indem die Inszenierung von Krieg als subjektive Unübersichtlichkeit und körperliche Überforderung erst potenziert und auf andere Kriege (im Kino) übertragen wurde, ist sie nun wieder in Vietnam angekommen. Anders gesagt: Das Erkennungszeichen der Konfusion ist nun nicht länger nur ein Merkmal des transparenten Zeichens Vietnamkrieg – es gilt heute, so scheint es, für "die Kriegserfahrung" (im Kino) überhaupt, ganz gleich ob es sich um den Zweiten Weltkrieg, um Mogadischu, um Ex-Jugoslawien oder eben um Vietnam handelt.
Mit dieser verschiedene Kriege übergreifenden Strategie erhöht sich ein Eindruck, der auch schon in Filmen wie PLATOON aufgekommen war. Durch die Intensivierung der unüberschaubaren, unregierbaren Zustände (die man höchstens – wie Mel Gibson – mannhaft durchstehen kann, und denen keine "Kriegserklärung", keine historische Einleitung der Umstände und strategischen/politischen Bedingungen mehr voran geht) erscheint Krieg eher wie ein pervertierter Naturzustand, der schlicht ist, was er ist. Die Schleusen des Krieges öffnen sich, und statt Regentropfen fallen Schüsse. Sequenzen der Art scheinen zu sagen: Dies ist die Bestie Krieg, und so fühlt sie sich an!
Erklärungen des historischen Ereignisses (etwa aus der Feldherrn- oder Historiker- oder Beobachterperspektive) und Beschreibungen der Kämpfenden als Vertreter bestimmter Parteien oder Systeme (z.B. Nazis, Demokraten, Kommunisten, Vietnamesen, Amerikaner, Deutsche oder andere Zuschreibungen) treten so zurück zugunsten einer betont subjektiven Erfahrung der Frontsoldaten, die irgendwie "unmittelbar" sein soll. Zugleich erscheint der Krieg – ob nun als Biest oder als grausamer Naturzustand – somit auch als ein Faktum, das eigentlich niemand gewollt hat, das einfach da ist und irgendwie mit Sinn gefüllt und überstanden sein will. Am Anfang von WE WERE SOLDIERS fragt das kleine Töchterlein: "Daddy, was ist ein Krieg?" – worauf Mel Gibson antwortet:
"Es ist etwas, das nicht geschehen sollte. Wenn Menschen versuchen, anderen Menschen das Leben zu nehmen, dann gehen Soldaten wie dein Daddy dort hin, um das zu verhindern."
Dass die Repräsentation "des Krieges" somit bis heute an die Repräsentation "des Soldaten" gebunden ist, dass also "der Krieg" im Kino in erster Linie "dem Soldaten" gehört (und nicht etwa flüchtenden Zivilistinnen), ist ebenso wenig neu wie die Hoffnung, durch die Inszenierung einer Subjektive im Kriegsgewirr wäre Realität zu gewinnen.
Wenn wir anhand dieser dominanten Fiktionen und präferierten Muster Krieg als transparentes Zeichen im zeitgenössischen Kriegsfilm diskutieren und dieses auf seine Aktualität hin untersuchen wollen, bieten sich mehrere Richtungen an. Ich möchte zwei Punkte nennen, die dabei wichtig werden und damit zwei Kontexte, in die man die Kriegsfilmwelle seit 1998 stellen kann.
Zum ersten betrifft dies die Betonung des Kriegs im Kino als subjektive Erfahrung. Vielleicht lässt sich die aktuell so prominent ausgestellte Nähe zum Krieg im Kino auf jene berühmte Bomben-Flug-Sequenz aus PEARL HARBOR übertragen, in der die Kamera sensationell bis zum Einschlag in einen US-Kreuzer hinter einer japanischen Bombe her rast. Mittendrin statt nur dabei: Die "Bestie Krieg“, das Ereignis, soll uns so nah kommen, dass es zur körperlichen Erfahrung wird, und die Bereitschaft, sich dem offensiv Grausamen und nicht Nachvollziehbaren auszusetzen, mag nicht zuletzt daher rühren, dass hier eine Grenzerfahrung von Subjektivität angeboten wird, die diesseits der Leinwand gegenwärtig selten geworden scheint. Genauer gesagt: Hier entwirft sich ein Kontrastprogramm der Subjektivität.
Immerhin scheint sich diese Kriegs-Selbsterfahrung radikal von den aktuellen Entfremdungs- und Aufspaltungsprozessen zu unterscheiden, die hinsichtlich unserer Kommunikations- und Arbeitswelten breit diskutiert worden sind. Die New Economy, 1998 noch im Boom begriffen, und der Übergang zur vielgepriesenen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft stehen für eine an Bedeutung zunehmende Arbeit, die – zumindest offiziell – weitgehend auf den Körper zu verzichten scheint. Information, Wissen ist ein begehrtes Gut, das sich, so die Wunschvorstellung der New Economy, unter maximaler Reduktion des arbeitenden, schwitzenden Körpers herstellen lässt. Nicht der Körper, sondern Geist & Phantasie schaffen Mehrwert; nicht die Arbeitnehmer, sondern das Geld "arbeitet" an der Börse; Papa musste schuften, ich geh frühstücken in die Agentur. Alles um die sogenannten "Wissensarbeiter" erschien flexibel; Begriffe wie "Entkörperlichung" und "Entkörperung" hatten Konjunktur, man fragte nach den "Folgen der Entkörperlichung der Arbeit" (Urban 2001: 24), diskutiert die "Entkörperlichung und Virtualisierung des Arbeitsalltags" (Meier 2001) und die "Entkörperung der Arbeit in der Software-Ära"(Baumann 2000: 53), denn in "den neuen Technologien ist die Arbeit nahezu körperlos und unsichtbar geworden" (Reinecke 2002):
"Ob Programmierer oder Berater, Analyst oder Designer, diese Wissensarbeiter müssen nicht an einem Ort zeitgleich und dauerhaft zusammenwirken. Für sie gibt es keine Fabrik, in der sie tätig werden, keine Maschinen, an denen sie arbeiten müssten. Das Kapital steht nicht auf einem Gelände, sie tragen es vielmehr mit sich: ihr Wissen und ihre Fähigkeiten. Ihre Produktionsmittel sind ein Computer und ein Telefon, und die kann man überall bereitstellen." (Heuser 2000: 35)
Treffend hat Robert Kurz das Phänomen der New Economy als "Logik des Scheinwachstums" definiert:
"Es wird real gekauft, ohne dass vorher real verkauft wurde. Das Geld ist sozusagen aus der Luft gekommen, ohne Arbeit, ohne Maschinen, ohne produzierte Waren, ganz immateriell aus den Kurssteigerungen an den Börsen. [...] Der Ausgangspunkt ist irreal, als ob man einen Wolkenkratzer bauen würde, der kein Fundament hat." (Kurz 2002)
Womit die New Economy also warb und wovon sie profitierte, war eine spezifische Unsichtbarkeit. Es ist das Potential dessen, was Toni Negri und Michael Hardt in Anlehnung an Maurizio Lazzarato "immaterielle Arbeit" nennen – "also intellektuelle, affektiv-emotionale und technowissenschaftliche Tätigkeit". (Negri/Hardt 1997: 14) Hierauf wiederum beruhte das Versprechen, Unternehmen dieser Art seien somit schlicht "leichter". Während natürlich weiter reale Körper ausgebeutet bzw. entlassen werden, bestand die Ideologie, das Image der New Economy, gerade darin, ein Verschwinden der Körper zu inszenieren. Das Versprechen auf größtmögliche Flexibilität, Innovation, Kreativität und maximales Expansionspotential hat sehr viel damit zu tun, dass ein Scheitern durch fehlendes Material ausgeschlossen wird. An "körperlichen" Gebrechen der Old Economy – Materialschäden, Lieferschwierigkeiten, Maschinenschaden, Gewerkschaften, Streik etc. – soll der erteilte Auftrag an das Start-up-Unternehmen nicht scheitern. Weil Wissen Ware ist und wir uns auf die alte Körper/Geist-Trennung verlassen, gehört zum Versprechen der Effizienz und Potenz der New Economy eine ausgestellte Unabhängigkeit vom Körperlichen – so wie auch der Ort der Produktion prinzipiell nicht festgelegt werden muss.4 Auf dieser Ebene der Repräsentation ist die Entkörperlichung wesentlich und muss als implizites Flexibilitätsversprechen vom arbeitenden Körper der Beschäftigten erfüllt werden.
Ein Kreis und alter Diskurs scheint sich hier zu schließen und – die Theorie jubelt – realen Sinn zu machen: Der Einfluss der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien auf das Subjekt in der Postmoderne spitzt sich zu, bis die berufene Auflösung von Körperlichkeit zur Grundlage einer neuen Arbeitskultur geworden ist. Hier existieren nun Digitalos und Internet-Nomaden. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Jacques Attali bemerkt sogar eine virtuelle Immigration, die "nicht mehr mit einem physischen Ortswechsel verbunden ist, sondern im Netz stattfindet – als Fernstudium, Distance Working usw." (Holert 2000). Tatsächlich schien es in der Hochphase der New Economy, als gehörten zum neuen Markt schon neue, flexible, gleichsam digitale Körper. In unterschiedlichsten Zusammenhängen wird dieser "neue Mensch" jedenfalls bis heute diskutiert – ob die neue Wirtschaft einen solchen erfordere und über die Zwänge des Marktes sogar selbst erzeuge. "Als Chiffre für die physische (und geistige) Beweglichkeit, als Symbol für die Loslösung von der Materialität der Welt," kritisieren Alexander Meschnig und Mathias Stuhr, "ist sie [die Metapher des Nomaden] das projektive Identitätsbild des 'neuen Menschen' in einer zunehmend global organisierten Welt." (Meschnig/Stuhr 2001: 178) Peter Glotz erklärt in seiner Vision des "digitalen Kapitalismus", es entstünde zwar "kein 'neuer Mensch', aber Ortssinn, Zeitgefühl, Geistesgegenwart, Geduld, Einnistungsfähigkeit und Beweglichkeit ändern sich." (Glotz 2002) Derweil engagiert die Konrad-Adenauer-Stiftung sich offiziell gegen "die Schaffung eines neuen Menschen, der den Visionen einer New Economy gerecht wird" (Zipperlen 2001).
Das Problem bleibt nur, dass die arbeitenden Körper trotz aller immateriellen Arbeit natürlich keineswegs "verschwinden". Im Gegenteil: Der Druck, dem die Beschäftigten der New Economy ausgesetzt sind, wird vielmehr – wie z. B. Richard Sennett zeigt – am eigenen Leibe erlebt, er zwingt Menschen an den Rand sehr körperlicher Belastbarkeit. Und es sind selbstverständlich ganze Körper, die beim Verlust ihres Jobs "freigesetzt" werden. Die noch im Jahr 2000 geschürte Angst vor den so genannten Computer-Indern erzählt davon, dass hier ebenfalls ganze Körper, wenn nicht gar Familien, erwartet/befürchtet wurden und die bange Frage gestellt wurde, wann und wie man diese denn wieder loswerden würde. Gegen rein virtuelle Migration hätte die CDU kaum mit "Kinder statt Inder"-Plakaten Front gemacht.
Doch auch wenn das mit dem "neuen Menschen" und der "Entkörperung" mehr Wunsch- bzw. Angstdenken ist: Auf diese wirksamen Prozesse und Diskurse reagiert die Populärkultur und bietet Kompensation an. Der Körper kehrt quasi nach Feierabend zurück: nicht nur in der Fitness- und Wellness-Freizeit zwischen streng definierten Körpern oder in der Ausstellung "Körperwelten" – "die erfolgreichste Sonderausstellung aller Zeiten mit bis zum Sommer 2001 7,5 Millionen Besuchern weltweit" (Lenz 2001). Reaktionen, Kompensationsangebote finden vielleicht auch in einer Form des Kinos statt, das den (Soldaten-)Körper spürbar macht. "Es ist kaum auszuhalten", hieß es immer wieder zu SAVING PRIVATE RYAN und ebenso häufig wurde von Zuschauern berichtet, die sich vor dem Kino übergeben mußten. Neben Auge, Ohr sind hier also mindestens auch Magen und Mund am Kinoerlebnis beteiligt. Zu Ridley Scotts BLACK HAWK DOWN schrieben Dominik Kamalzadeh und Michael Pekler:
"Scott reinszeniert den Einsatz in Mogadischu für ein westliches Massenpublikum als Spektakel, das die Attacke auf den Körper des Soldaten umlenkt auf den Körper des Zuschauers." (Kamalzadeh/Pekler 2002)
Der Krieg im Kino wäre so auch das sehr zeitgemäße Versprechen einer sensationellen Körperfahrung, die bei Spielberg eher einer Geister- und bei PEARL HARBOR eher einer Achterbahn ähnelt. Erlebe dich selbst beim Fühlen des Krieges: Im Zerschießen der Körper auf der Leinwand, so könnte man zugespitzt formulieren, werden unsere Körper im Kino komplettiert.
Ein anderer Zusammenhang ergibt sich über den Aspekt der gepriesenen Realitätsnähe der Kriegsbilder – auch hier mag ein Grund liegen für das radikalisierte Comeback der Konfusion des Vietnamkriegsfilms. Vielleicht hängt das in SAVING PRIVATE RYAN und Nachfolgern wie WE WERE SOLDIERS sich artikulierende Interesse am Erscheinungsbild des Krieges als grausames, von innen heraus wahrgenommenes Gemetzel auch mit einer anderen Leerstelle zusammen. Das Bedürfnis Ende der 1990er Jahre nach dem "So sieht Krieg aus" könnte durchaus mit der Erfahrung der zurückliegenden, ausführlich durch Fernsehbilder vermittelten Kriegshandlungen zusammenhängen: mit den Golfkriegsbildern der frühen 1990er Jahre.
Die Kritik an den TV-Übertragung der "Operation Desert Storm" als Bilder eines "Nintendo-Kriegs" hatte immer wieder auch zu der Frage geführt, wo denn die Toten und Verwundeten blieben, warum keine Leichen gezeigt würden. Bis heute hält sich die Überzeugung, bei der Betrachtung des ersten Golfkriegs sei man sich, wie Paul Virilio immer wieder betont, "wie in einem Videospiel" (Virilio 2001) vorgekommen. Das Verschwinden der Körper hatte Jean Baudrillard diesbezüglich 1991 als ein Verschwinden des Feindes beschrieben:
"Das Virtuelle beherrscht nicht nur die Medien, es hat auch das Wirkliche angegriffen. Der Golfkrieg wird elektronisch geführt. Der Feind als Gegenüber, der persönliche Feind ist verschwunden. Der Kriegsschauplatz ist für die Beteiligten nur auf den Schirmen ihrer Radare und Zielvorrichtungen präsent. Die Kriegsereignisse selbst sind ins Ungewisse geraten." (Baudrillard 1991)
So wurden die Fernseh-Kriegsberichte in den 1990er-Jahren immer wieder von dem Vorwurf begleitet, geschönte, entkörperlichte Bilder zu präsentieren, die den Schrecken des Krieges grundsätzlich ausblendeten.
Zumindest bemerkenswert erscheint es mir daher, dass die erste große Kriegsfilmwelle nach dem Golfkrieg der 1990er genau die Bilder liefert, die seinerzeit offenbar von nicht wenigen vermisst wurden, bzw. absent geblieben waren. An die Stelle der, wenn man so will, "entkörperlichten" Videospielbilder tritt nun die Körpererfahrung, eine "echte" Nähe zum Krieg, die nicht spart mit Leichen, verwundeten Körpern, abgetrennten Extremitäten und Schmerzensschreien. Wer echte Kriegsbilder sehen will, der muss eben ins Kino gehen.
Oder auch nicht: Denn zu diesem Komplex gehört abschließend auch die Frage, ob nicht die TV-Wahrnehmung der Ereignisse vom 11. September 2001 ebenfalls etwas mit dieser "Mittendrin-statt-nur-dabei"-Strategie des zeitgenössischen Kriegsfilms zu tun hat. Ich denke dabei vor allem an die permanent wiederholten Augenzeugenvideos, die uns aus der Bodenperspektive die Flugzeuge beim Eindringen in das World Trade Center zeigten und die den Einsturz der zwei Türme bezeugten. Wackelnde Handkamera-Bilder, teilweise von Staubwolken eingehüllt oder mit beschmutzter Linse gefilmt, mögen uns u.a. zwei Infomationen zugleich geliefert haben. Zum einen, dass diese Ereignisse tatsächlich passieren, dass die Bilder authentisch sind. Zum anderen aber wäre zu fragen, ob diese Wackelbilder der stürzenden Hochhäuser und qualmenden Straßen, gekoppelt an Schreckensschreie auf der Tonspur, uns nicht auch implizit den Eindruck gaben, hier Zeugen einer (noch unerklärten) Kriegshandlung zu sein. Es scheint mir, als hätte auch die Qualität der Bilder und Töne dazu beigetragen, dass die darüber gelegten Titelzeilen der Sender – "America´s New War" (CNN) oder "Terrorkrieg" (ZDF) – nicht als störend oder merkwürdig, sondern als irgendwie zutreffend empfunden wurden.
Schon die ersten Reaktionen – von George W. Bush bis zu Susan Sontag – teilten unisono die Rede vom Kriegszustand. In seiner Regierungserklärung zu den Anschlägen stellte Gerhard Schröder fest:
"Wir befinden uns nicht im Krieg gegen einen Staat. Und wir befinden uns auch nicht im Krieg gegen die islamische Welt insgesamt. Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt, und sie werden dafür zur Rechenschaft gezogen werden." (Schröder: 2001)
Vielleicht, so möchte ich vermuten, war auch dank der Bilderlogik der Konfusion diese Katastrophe auch ohne eine Kriegserklärung bereits ein erklärter Krieg.
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