Posthuman(istisch)e Weltenbildung in MEIN LEHRER, DER KRAKE
Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus!
- Rainer Maria Rilke, Die achte Elegie, Duineser Elegien
Das Kino stellt seit jeher einen Raum für die Schöpfung von Welten dar, die darauf basiert, eine nichtmenschliche Wahrnehmungsform, die der Kamera, einzusetzen, um materielle Realität einzufangen, festzuhalten und in vielerlei Weise zu verarbeiten, dabei jedoch – unabsichtlich oder planvoll – eine völlig neue Welt heraufzubeschwören. Künstlerische Eingriffe durch Montage, Bildgestaltung und Ton erzeugen eine anthropozentrische Sichtweise, beschränkt nur durch die menschliche Vorstellungskraft. Gleichzeitig besitzen kamerabasierte Medien das Potenzial, genau diesen Anthropozentrismus zu hinterfragen, also das umzusetzen, was James Cahill die „kopernikanische Berufung des Kinos“ nennt. Cahill bezog sich mit seiner Äußerung auf das Frühwerk (1924–49) des französischen Filmemachers Jean Painlevé, dessen wissenschaftliche Ausbildung in Komparativer Anatomie von Aufenthalten an der Küste der Normandie in seiner Kindheit geprägt war. Dokumentarfilme mit Titeln wie LA PIEUVRE (DER ACHTFUß / THE OCTOPUS, FR 1928), LE BERNARD – L’HERMITE (THE HERMIT CRAB, FR 1929), und L’HIPPOCAMPE (THE SEAHORSE, FR 1934) zeugen von dieser Leidenschaft und setzen in Szene, was Cahill als „die doppelte Kraft für potenziell revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisse und anthropozentrische Verdrängung“ beschreibt, und bewirken eine „Verschiebung der Aufmerksamkeit – von der Selbstbetrachtung hin zum nichtmenschlichen Anderen – zusätzlich zu den kleinen oder großen Auswirkungen, die eine solche Wahrnehmungswende auf das eigene Selbstbild haben kann“ (Cahill 2019: 3).
Das „Nichtmenschliche“ kann natürlich auch Pflanzen, Mineralien, ja alles umfassen, was ansonsten als materielle ‚Kulisse‘ verstanden wird, sobald man klare Trennungslinien zwischen dem Tun von Subjekt und Objekt zieht und, in Erweiterung dessen, zwischen Figur und Grund unterschieden wird. So wendet sich dieser Artikel einem Meeresbewohner zu, der Painlevé als Erstes beschäftigte, dem Gewöhnlichen Kraken (Octopus vulgaris), der aufgrund seiner komplexen Morphologie, Physiognomie und kognitiven Fähigkeiten eine bemerkenswerte und gar nicht gewöhnliche Wendigkeit besitzt, mit der er diesen Trennungslinien und Unterscheidungen ausweicht. Bei der Analyse stütze ich mich auf den mit einem Oscar prämierten Netflix-Naturfilm MEIN LEHRER, DER KRAKE (MY OCTOPUS TEACHER, R: Craig Foster, Pippa Ehrlich, ZA 2020), in dem der Dokumentarfilmer und Protagonist Craig Foster wahrhaftig in die Fußstapfen von Painlevé und seinen früheren Studien und Ausdeutungen einer radikalen morphologischen Alterität tritt. Doch wagt sich Foster noch weiter vor, indem er sich einer phänomenologischen und taktilen Verhaltensforschung aussetzt, in der er zum teilnehmenden Beobachter wird, zu einem Protagonisten, der autobiografisch in die Begegnungen zweier Arten an der Südspitze der Kap-Halbinsel Südafrikas eingeschrieben ist. Diese Weltenbildung zwischen Natur und Kultur, vermittelt durch Unterwasser-Aufnahmen und minimalistische Tauchausrüstung, steht beispielhaft für die bleibenden Schwierigkeiten, den Anthropozentrismus beim Framing von Begegnungen zwischen Mensch und nichtmenschlichem Organismus zu überwinden, erkennt aber auch das Vor und Zurück in Bezug auf den agentiellen Status von allem, menschlich oder nichtmenschlich, lebendig oder anderer Art, an.
Vergesichtlichungsprozesse sind in den visuellen Medien für die Unterscheidung zwischen Gestalt und Grund zentral: Dem menschlichen Gesicht steht eine umfangreichere und vielfältigere historische Tradition sozialer Codes eingeschrieben als dem eines nichtmenschlichen Tiers, dem nur selten der Status einer individuellen Figur zugeschrieben wird. Wenn es doch eine solche Rolle einnimmt, geht mit dieser Zuschreibung in der Regel – und vielleicht zwangsläufig – sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption eine anthropozentrische Verzerrung bzw. anthropomorphische Nachsicht unterschiedlicher Abstufungen einher. Somit ist der Film Teil der „anthropologischen Maschine“, des vorherrschenden Denksystems, dessen Philosophie und Ethik alles entweder dem nackten Leben oder dem Menschlichen zuordnen, das die Dichotomie zwischen Tier und Mensch hervorgebracht hat (Agamben 2004). Für die frühe Filmwissenschaft, die das Gesicht auf der Leinwand als ein ästhetisches, von moralischem Potenzial durchdrungenes Objekt behandelte, war der angenommene Bezugspunkt ebenfalls der Mensch, auch wenn Béla Balázs sich ebenso für „das Gesicht der Dinge“ und für nichtmenschliche Tiere begeistert (Balázs 1982). Über diese Tiere schreibt er: „Wie interessant Physiognomie und das Mienenspiel der Tiere sind! Und wie geheimnisvoll, daß wir sie verstehen! Freilich aufgrund einer Analogie“ (Ebd.: 109). Im Gegensatz zu Schauspieler*innen, die eben spielen, um den Eindruck von Authentizität zu vermitteln: „Denn bei diesen [Tieren] ist es keine Illusion, sondern echteste Tatsache“ (Ebd.: 108).
Die in der Filmwissenschaft nur oberflächlich getroffene Unterscheidung, einschließlich Balázs’ Unwilligkeit, nichtmenschlichen Lebensformen die Fähigkeit zuzugestehen, sich wechselweise zu verstellen oder „Authentizität zu spielen“, möchte ich nun weiter differenzieren. Um die Tragweite dessen zu erfassen, bietet Craig Fosters Dokumentarfilm MEIN LEHRER, DER KRAKE höchst ergiebiges Material; außerdem setzt er für das Filmpublikum wichtige Beobachtungen ins Bild, die auch Peter Godfrey-Smith in seiner philosophischen Abhandlung über Kraken behandelt (Godfrey Smith 2016). Wenn Foster aber gesteht: „Ich war Tieren gegenüber nie besonders sentimental gewesen“, bleibt ein blinder Fleck in der posthumanen Pädagogik des Films, der darin liegt, dass Foster das Pronomen ‚anderen‘ auslässt, wenn er sich auf Tiere bezieht. Unbewusst fokussiert er dadurch die allgemeine Schwierigkeit, sich selbst vom angestammten anthropozentrischen Denken freizumachen, das weiterhin in Sprache und Diskurs verankert ist und ebenso bei der Produktion visueller Medien (de)artikuliert wird.
Unter der Bezeichnung ‚Tier‘ wurde zu lange ein Gegensatz zum Menschen aufgemacht – ein Akt der Unterdrückung, bei dem die originäre Gewalt darin liegt, darüber hinwegzutäuschen, dass auch der Mensch ein Tier ist und dass alle, die als „nichtmenschlich“ gelten, einfach in eine ontologische Kategorie gesteckt werden. Dieses Dilemma inspirierte Derrida zu seinem Neologismus animot, der auf den unzureichenden Signifikanten des französischen Worts für Tier, animal, aufmerksam macht und zugleich dessen Plural (animaux) phonetisch miteinschließt. Die Annahme einer ontologischen und ethischen Trennung zwischen Mensch und Nichtmensch war stets ein großer cartesischer Dreh- und Angelpunkt der Kontinental- und Analytischen Philosophie, die für die menschliche Spezies die einzigartige Fähigkeit zum rationalen, und im weiteren Sinne zum moralischen und ethischen Denken beanspruchen. In jüngerer Zeit wurde ‚die Frage des Tiers‘, in den verschiedensten Disziplinen wieder aufgenommen (Derrida, Wolfe, Haraway, Agamben) – und sie drängt darauf, unsere Annahmen über das Sein, unser eigenes und das anderer, zu überdenken. Während dieser ‚Turn‘ den Raum schafft, das Nichtmenschliche mitzudenken, bleibt ein wahrer posthumanistischer Posthumanismus, in dem andere Lebewesen eine Art Persönlichkeit erlangen, während der Mensch zugleich seine Animalität anerkennt, noch schwer fassbar, auch wenn das Feld der Critical Animal Studies sich wie in einer Asymptote auf dieses Ziel zubewegt.
Die autobiografische Rahmenerzählung in MEIN LEHRER, DER KRAKE bietet ein gewisses Maß an Selbstreflexivität zu den technischen Mitteln, die die herausgebildete posthumanistische Perspektive einerseits stützen, andererseits auch einschränken. Wie so viele Geschichten von der persönlichen Transformation entstand auch diese aus einer existentiellen Krise heraus. Foster sitzt zu Hause, das Gesicht zur Kamera, und erzählt einem unsichtbaren Gesprächspartner, wie ihm klar wurde, dass er vom Stress seiner freien Tätigkeit ausgebrannt war, sich von der Familie entfremdet und die Inspiration verloren hatte. Was ihm aber nach den Dreharbeiten zu seinem vorherigen Film in der Wüste Kalahari im Gedächtnis geblieben war, war die von indigenen Fährtensuchern kultivierte unerschütterliche Aufmerksamkeit für winzigste Details im größeren Gewebe des Lebens. Gestützt auf Bilder aus jenem Film, erinnert er sich: „Sie [die Fährtensucher] befanden sich sozusagen innerhalb der natürlichen Welt und ich mich außerhalb. Ich sehnte mich danach, Teil dieser Welt zu sein.“ Tatsächlich wollte er eine Zeitlang nie wieder mit Filmkamera und Schneideraum zu tun haben. Anstatt zu reisen und neue Projekte zu beginnen, beschloss er 2010, vor Ort zu bleiben und analog zu den indigenen Trackern eine ähnlich enge Verbindung zur heimischen Unterwasserflora und -fauna der Rockpools von False Bay aufzubauen, in denen er als Junge oft als Freitaucher unterwegs war.
Einige Jahre, nachdem er seine täglichen Streifzüge in einer etwa 200 Quadratmeter großen Gezeitenzone begonnen hatte und mit einer Unterwasserkamera dokumentierte, entdeckte er ein kleines geflecktes Oktopus-Weibchen. Ein Jahr lang widmete er sich ihr während seiner täglichen Tauchgänge und verfolgte so den kurzen Lebenszyklus einer hochintelligenten wirbellosen Tierart, die ohne soziale Elternschaft aufwächst und lernen muss, für sich selbst zu sorgen. Ein weiblicher Oktopus legt einmal im Leben durchschnittlich eine halbe Million Eier, bevor der dadurch ausgelöste biochemische Prozess das Weibchen vergreisen und durch Verhungern langsam sterben lässt; das von Foster beobachtete Weibchen war eines der ganz wenigen aus einer halben Million Eier, die überhaupt das Erwachsenenalter erreichen. Aus der Raffinesse dieses einen Kopffüßers bei der Flucht vor Feinden, den überraschenden Momenten der Kreativität und des Spiels, daraus, wie sich das Weibchen vom Verlust einer Tentakel erholte, aus ihrem Reproduktionszyklus und schnellen Verfall bis zum Tod gewann Foster nicht nur höchsten Respekt vor der Intelligenz eines Wesens, das im Grunde eine größere Schnecke ohne Gehäuse ist, sondern ging auch eine Beziehung ein, die auf gegenseitigem, fragilem Vertrauen, Neugier und – seinerseits – sicherlich auf tiefer Zuneigung beruhte. Er jedenfalls spürte diese Zuneigung, und vielen Zuschauer*innen mag es vorkommen, als habe dies auf Gegenseitigkeit beruht.
Die Handhabung des Apparats birgt das Potenzial, das Gezeigte abwechselnd zu subjektivieren oder zu objektivieren, ob es sich dabei nun um ein fühlendes Wesen, Objekt, Element oder Mineral handelt. Wesentlicher Bestandteil einer Subjektivierung ist die ‚Vergesichtlichung‘: die Mittel, durch die eine Entität oder ein Ding ein Gesicht im Sinne einer Form oder Gestalt annimmt, also in der Grundbedeutung des lateinischen Worts facies (von facere – machen). Doch ist das Gesicht nicht einfach eine beliebige Form, sondern eine, die nach vorn gerichtet ist, ein Blick auf etwas, der die vor ihm liegende Welt antizipiert und auf sie reagiert; in indogermanischen Wörtern für Gesicht, die vom Verb sehen abstammen, ist dies implizit, beispielsweise wird wlitan (sehen, schauen) im Altenglischen zu andwlita (Angesicht, Miene) oder im Deutschen zu Antlitz. Das Wort Fassade, von gleicher Herkunft wie face, das Gesicht, wiederum findet Anwendung auf jede nach außen orientierte Fläche, die auch Charakter hat, sei es eine monumentale Landschaft, ein Bau – zum Beispiel ein Haus mit Fenstern und einer Tür, dem die Möglichkeit eines visuellen Austauschs zwischen denen, die darin wohnen, und jenen außerhalb der vier Wände zugrunde liegt – oder seien es Alltagsgegenstände, die zum Ort möglicher Projektionen und Verweise in Bezug auf (implizit) menschliche Agentien werden. So verstanden, ist das Gesicht ein Terrain, abstrakt und konkret zugleich, wobei die Fazialität die spezifische Ausprägung eines bestimmten Gesichts und seinen Status als abstrakte ‚Maschine‘ verhandelt (Deleuze/Guattari 1993: 180-1081). Während die Filmwissenschaft immer primär auf menschliche Protagonist*innen eingegangen ist, möchte ich zeigen, dass filmische Fazialität auch die ‚Tierfrage‘ neu verhandeln kann, wobei ein Film wie MEIN LEHRER, DER KRAKE mit filmischen Mitteln die philosophische Debatte fortführt, die ausgenommen wurde, um das Tier zu ‚vermenschlichen‘ und das Tier im Menschen zu erkunden.
Ich stütze mich auf das Filmmaterial so wie gesehen, at face value, wie es im Englischen heißt, und untersuche die Wirkung, die mit filmtechnischen Mitteln erzielt wird, sowie die Beziehung zwischen den Protagonisten, wie sie sich aus der visuellen Montage von Einstellung zu Einstellung ergibt, einschließlich der Ekphrasis durch das Cross-Cutting von Fosters Voice-over und gefilmten Zeitzeugnissen aus jenem denkwürdigen Jahr mit den Unterwasseraufnahmen. Wenn es die ‚Vergesichtlichung‘ ist, die Persönlichkeit sichtbar macht und das Gefühl einer individuellen Figur vermittelt, so zeigt sich dies bereits bei der ersten, eindrucksvollen Begegnung der Zuschauer*innen mit dem Kraken in Aufnahmen, die, wie Foster erklärt, auch für ihn den ersten, ungeplanten Anblick dieses Weibchens darstellte, deren Personifizierung überraschende Formen annehmen sollte. Beim Schwimmen sah er aus dem linken Augenwinkel ein ungewöhnliches Objekt am Meeresgrund liegen; eine entsprechende Großaufnahme zeigt, dass es sich um eine kunstvoll gebaute Skulptur aus Muschelschalen handelt.
Selbst die Fische scheinen von dem Anblick verwirrt, denn sie flitzen neugierig um die Gestalt herum. Kurz darauf fliegt das Bauwerk auseinander, flüchtig sieht man die rudernden Arme eines Kraken, der wie mit Düsenantrieb davonschießt. Erst später erfährt Foster, dass die Spezies mit den Saugnäpfen unter den Fangarmen innerhalb von Sekunden bis zu 100 Muscheln aufnehmen kann, mit denen sie sich behängt und als Koralle oder sonstiges unbewegtes Meereslebewesen tarnt. Ein solcher Akt der Täuschung bedarf der Fähigkeit, den Blick anderer zu antizipieren und Maßnahmen zu ergreifen, um diesem Blick zu entkommen, indem man das eigene Antlitz verbirgt, das einen als lebende Beute verraten würde. Fasziniert verfolgt Foster das Weibchen weiter und beobachtet, wie es ein Stück Alge wie einen Mantel um sich wickelt, sodass es diesen neuartigen Meeresbewohner, der in sein Habitat eingedrungen ist, durch einen Schlitz weiter beobachten kann. Mit der Bemerkung, „Ich ahnte nicht, dass ich etwas Außergewöhnliches gesehen hatte, das Finale einer dramatischen Geschichte“, spielt Foster auf seine Vermutung an, dass das Weibchen zuvor von einem Fressfeind verfolgt wurde; dabei lässt er außer Acht, dass möglicherweise sein eigenes Eindringen in die Gewässer den Rückgriff des Kraken auf die ‚Muschelverkleidung‘ auslöste.
Im Monat darauf entwickelt sich ein Versteckspiel, bei dem der Krake dem Neuankömmling ausweicht, indem er Zuflucht in seiner Höhle sucht, sich tarnt oder seinen wirbellosen Körper in die nächste Spalte drückt. Doch am 26. Tag seiner Tagebucheinträge gelingt es Foster, ‚ersten Kontakt‘ herzustellen, als er sich selbst in der Nähe einer Felsspalte flach hinlegt, die Arme eng an den Körper gedrückt, um ‚Entwaffnung‘ anzuzeigen, und das Gesicht nah bei dem des Kraken, der sich fest an einen sicheren Felsen klammert und zu ihm zurückspäht. Eine Zweiereinstellung im Close-up und das Kameralicht – aufdringlich, wenn man bedenkt, wie empfindlich Kraken auf Licht reagieren – machen eine außergewöhnliche, fast unmögliche Begegnung sichtbar. Die Kamera ist hinter dem Kraken positioniert und richtet die Betrachter*innen auf eine Identifikation mit seiner körperlichen Verletzbarkeit aus: Greifbar sind sowohl die arteigene große Angst als auch die bebende Neugierde des Kraken, die ihn trotz allem zwingt, einen Arm weit auszufahren und vorsichtig Fosters Gesicht zu berühren, auch seinen Mund, und dadurch über die eigenen Geschmacks- und Geruchssensoren seine Gesichtszüge zu ‚studieren‘.
Selbst für menschliche Betrachter*innen bietet Fosters Erscheinung mit Schwimmhaube, Taucherbrille und der unnatürlichen Position am Meeresboden, durch die er seine imposante Körperfläche verkleinern will, einen ebenso befremdlichen Anblick. Die Begegnung ergibt sich lediglich aus einer beiderseitigen Bereitschaft, sich verletzbar zu machen: Er, indem er dem Krakenweibchen sein Gesicht zeigt, den Ort, an dem sich wesentliche Sinnesorgane konzentrieren, und sie, indem sie die Nähe zu einem Körperteil sucht, der sich ihr in der Regel dann präsentiert, wenn sich ein feindlicher Meeresbewohner nähert, sein geöffnetes Maul bereit, anzugreifen und zu fressen. Dass das Weibchen insbesondere nach Fosters Mund tastet, könnte daher von Bedeutung sein, so als wolle sie sondieren, warum er eben nicht weit geöffnet ist, um seine Beute zu verschlingen, und welche andere Aufgabe er erfüllen mag – auch wenn der Oktopus nie von der kommunikativen Funktion dieses Mundes als Werkzeug für die menschliche Sprache an Land erfahren wird.
Die hier stattfindende Fazialität mit dem Kraken fordert uns zu einem neuen Nachdenken darüber auf, was ein Gesicht eigentlich ausmacht. Im kugelähnlichen menschlichen Schädel sind es zwei frontal ausgerichtete Augen, in der Mitte ein Nasenbein und Nasenlöcher, dazu ein Mund, alles gerahmt von zwei seitlich angebrachten Ohren. Der Kopffüßer hingegen besteht – wie der Name schon sagt – aus einem kombinierten Rumpf und Kopf, an den sich direkt die Tentakeln anschließen. Trotzdem besteht eine frontale Ausrichtung; der Eingeweidesack, in dem auch das Gehirn, der Verdauungsapparat und drei Herzen sitzen, schwimmt in wechselnder Gestalt unter oder vor dem fleischigen ‚Kopf‘ oder Mantel, die beiden schlitzartigen Augen sind zwar nicht direkt frontal platziert, springen aber an beiden Seiten des Mantels hervor. Die Trichterorgane für den Austausch von Sauerstoff, Antrieb und Ausscheidung liegen direkt unter den Augen, während das Mundwerkzeug unterhalb des Kopfes sitzt, versteckt in der Mitte des Radius, den die acht Arme beschreiben. Diese wirbellose Physiognomie bewirkt zwangsläufig ein ‚reterritorialisiertes‘ Verständnis von Vergesichtlichung und wie sie sich in den Sinnesorganen und ihrem zeichenhaften und kommunikativen Potenzial äußert. Denn was ist ein Gesicht in unserer konventionellen Vorstellung anderes als der zentrale Ort eines Austauschs zwischen einem begrenzten Inneren, also dem Körper, und der Welt außerhalb – eine Grenze oder Schwelle, die die Aufnahme von organischem Material, Gas, Flüssigkeit und Sinneseindrücken (Anblick, Ton, Geruch, Geschmack) ermöglicht. Als solches ist das Gesicht notwendigerweise ein Bereich erhöhter Sensibilität, da das Überleben von einer schnellen autonomen Verarbeitung der eingehenden Sinneswahrnehmungen abhängt. Zugleich werden die daraus folgenden affektiven Reaktionen ebenfalls zu Zonen entweder aufrichtiger oder unaufrichtiger Expressivität. Das scheint sowohl auf den Oktopus als auch auf den Menschen zuzutreffen.
Versteht man das Gesicht aber als den Ort konzentrierter Sinnesorgane, muss auch das Verhältnis zwischen Gehirn, Körper und dieser ‚Fassade‘ völlig neu überdacht werden. Wie Foster ebenfalls erklärt, besitzt der octopus vulgaris tatsächlich neun Gehirne, ein Zentralhirn und acht Systeme in den Tentakeln. Er besteht aus rund 500 Millionen Nervenzellen (so viele wie bei einem Hund), von denen sich zwei Drittel auf die Arme verteilen, deren weit verzweigte Saugorgane (10.000 Neuronen je Saugnapf) als Sensoren dienen – sie verfügen sowohl über einen Tastsinn als auch über die Fähigkeit, Chemikalien wahrzunehmen, d. h. über Geruch und Geschmack. Obwohl wir also dazu neigen, Fazialität rund um die Augen als vorherrschendem Sinnesorgan für unsere Orientierung in der Welt zu organisieren, könnte eine weniger anthropomorphische Sichtweise auch diese acht Arme miteinbeziehen, an deren Oberfläche sich außerdem Photorezeptoren befinden, die eine Art Sehvermögen verleihen. Eine extreme Nahaufnahme der Spitze eines Fangarms auf Fosters Arm später im Film verdeutlicht den Aufwand, den jeder einzelne Saugnapf aufbringt, um sich bewusst an die Hautoberfläche zu heften und Informationen zu sammeln.
Darüber hinaus ist die Spezies im wahrsten Sinne versiert in der Sprache der bewegten Bilder. Der Oktopus versteht das Konzept von Figur und Grund bezogen auf sich selbst und auf andere und taxiert ständig seine Umgebung – sowohl optisch als auch tastend über seine Saugorgane – auf Farben, Formen und Textur und verändert in Reaktion darauf seine eigene wandelbare Anatomie, um sich jeweils an den Grund anzupassen, indem er sich selbst ein Bild verleiht und als trügerisches Abbild anderer Lebensformen wie Fisch, Muschel oder Pflanze posiert. Damit zeigt das wirbellose Geschöpf ein gezieltes Verständnis von der Bedeutung der Gestalt, um einem Fressfeind zu entkommen, darauf zählend, dass der Feind diese Figuration als Hintergrund und nicht als Beute bewertet. Für solche Zwecke kann sich der Körper des Kraken durch eine Öffnung zwängen, die nur so groß ist wie das eigene Auge, auf akrobatische Weise Arme und Kopf verdrehen und verschnüren, um bestimmten Formen und Strukturen zu entsprechen, und seine Hautfärbung über Farbzellen (Chromatophoren) mit Pigmentbehältern, die sich je nachdem ausdehnen oder zusammenziehen, um vielfältige, mal bunte, mal gedeckte Farbtöne zu produzieren, wechseln und anpassen. Selbst die Hautstruktur kann angepasst werden, indem der Oktopus die Größe der Erhebungen in Hautregionen (Papillae) so verändert, dass entweder kleine Beulen, große Stacheln oder sogar glatte Hörner entstehen, die bunt getüpfelt oder gefleckt erscheinen.
Angesichts seiner Wandlungsfähigkeit ließe sich möglicherweise eine Analogie zwischen seinem Vorgehen und der Wirkung eines Dispositivs bilden, insofern als der Krake formal Verhältnisse zwischen Räumen und Blicken, zwischen Lebewesen und Gegenständen herstellt und sich zugleich selbst danach ausrichtet. Hier sind sowohl der filmtheoretische Begriff des Dispositivs als auch seine politische Genealogie von Bedeutung. Der französische Filmtheoretiker Jean-Louis Baudry unterscheidet lose zwischen einerseits dem kinematographischen Basisapparat, zu dem beispielsweise die Gesamtheit der für die (Re-)Produktion eines Films notwendige Apparatur und Operationen gehören, und andererseits dem Dispositiv als konzeptioneller, immaterieller Anordnung, die das Subjekt als eine Perspektive positioniert oder vielmehr erzeugt, eine Perspektive, die infolge einer bestimmten Ansprache entsteht (Baudry 1974-75). Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass das sensorisch-motorische Schema des Cephalopoden analog zum kinematographischen Apparat arbeitet. Dieses Lebewesen registriert visuell und haptisch Eindrücke aus seiner unmittelbaren Umgebung (d. h. es zeichnet sie auf) und projiziert dann, in Sekundenbruchteilen biochemischer Transformation im eigenen Körper, für andere Tiere ein Bild, das dieser Umgebung entspricht, selbst wenn das produzierte Bild nicht (oder doch?) in einem indexikalischen Verhältnis dazu steht, also zu einer photochemischen Einwirkung von Licht, die man üblicherweise mit der Fotografie verbindet. Gleichzeitig ist der Oktopus damit beschäftigt, über das Werk seines eigenen Apparats hinwegzutäuschen und einen Eindruck von Realität zu erzeugen, der im Idealfall auf einer gewissen ‚Beständigkeit des Sehens‘ anderer Tiere beruht, die auf diese Megapixel-Leinwand schauen, in die sich der Körper des Kopffüßers jederzeit verwandeln kann. Dabei verwischen sich die ‚Ränder‘ des Trugbilds für vorbeiziehende Jäger, da sie stärker auf Form als auf feinere Details fokussiert sind. Natürlich könnte man dem Oktopus eine ‚Disposition‘ für solche Strategien unterstellen, insofern als sein Körper mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet ist „und Eigenschaften die Interaktion eines Dings mit seinem Umfeld kausal bedingen“ (Mumford 2003: 1017). Das heißt nicht, dass er auf diese Eigenschaften beschränkt ist, und obwohl sie weder unbedingt notwendig (wenn auch sicher absolut nützlich für das Überleben) noch unbedingt normativ sind, stellen sie doch potentielle Kräfte dar, die realisierbar sind und auch realisiert werden.
Während diese autonomen Kräfte also angeboren sind, hängt das Überleben des Kraken aber von dem Geschick und der Strategie ab, mit denen er diese Eigenschaften nutzt – was auch der Übung bedarf. Und wenn die Kräfte realisiert werden, erzeugt dieses Dispositiv auch eine Zuschauerhaltung bei anderen Meereslebewesen, die auf einer gewissen Verleugnung durch beide Parteien beruht, die eine vorsätzlich, die andere potenziell überlistet. Da das nackte Überleben des Kraken auf dem Einsatz seiner darstellerischen Leistung gegenüber Feinden basiert, ist man leicht versucht, dies in pseudo-Foucault’sche Begriffe zu kleiden, hätte der französische Philosoph lange genug gelebt, um über den Kontext der menschlichen Gesellschaft hinaus über Macht nachzudenken. Doch ist der Körper des Kraken kein Herrschaftsinstrument per se, sondern lediglich ein Ort der Verteilung von Kräften und Stärken, sichtbar gemacht durch bestimmte, wenn auch unstete Anordnungen von Körpern, des eigenen und anderer, die wie in einer Art provisorischem Tableau vivant am Meeresgrund aufeinandertreffen und einander annähern können und es manchmal auch tun.
Fosters und Ehrlichs Dokumentation ist eine kinematographische Tour de Force: In lebhafter Farbe und Textur wird eine verblüffende Vielfalt an skulptierten Formen eingefangen, die dieses Weichtier als Meister der Verkleidung annimmt, wobei jede einzelne Form eine äußerst überzeugende Illusion von Wahrhaftigkeit erreicht. Die entstehenden Tableaux sind nicht unbedingt immer ein Ergebnis des Überlebensdrangs, wie Foster aus seinen täglichen Beobachtungen über lange Zeit schließen konnte. Als das Oktopusweibchen sich an seine Anwesenheit gewöhnt hatte, ließ ihre Wachsamkeit ganz allmählich nach und sorgte für auf Film gebannte, außerordentlich lyrische Momente. Foster erzählt, wie er sie einmal hin und her durchs Wasser schießen sah, mitten in einem Fischschwarm, der seine Richtung in absoluter Synchronität änderte, eine Kunstformation im Wasser, getrieben vielleicht von einer veränderten Strömung oder anderen Impulsen. Erstaunt über ihre ungewöhnlich schwingenden Bewegungen, fragte Foster sich anfangs, ob der Krake die Fische als Beute verfolgte. Letztlich kam er jedoch zu dem Schluss, dass sich das Weibchen einfach von den Bewegungen der Fische inspirieren ließ. Vielleicht aufgrund eines Zustands von Müßiggang oder Langeweile bewegt sie die Arme neckisch vor und zurück, um die Fische zu imitieren. Das im Film gezeigte Verhalten erinnert auffallend an Kinder, die in ihrer Untätigkeit oft einem Drang nachgeben, nichtmenschliche Morphologien und Bewegungen nachzuahmen, die sie in ihrer Umgebung beobachten.
Es ist frappierend, wie dieser kleine Einblick in ein nichtmenschliches ‚Spiel‘ an Fosters eigene Neigung zu körperlicher Mimikry und seinen erklärten Wunsch erinnert, selbst „eine Art amphibisches Lebewesen zu sein“. Zu seiner zoomorphischen Ausstattung gehörten lange Gummiflossen, die mehr Antrieb geben, Schnorchelmaske und -schlauch, um die Unterwassersicht zu verbessern und ihm beim Schwimmen in der Uferzone den ständigen Blick auf den Meeresboden zu ermöglichen. Tauchgerät und Neoprenanzug lehnte er ab, weil er intuitiv erkannte, dass es gut wäre, möglichst alle Barrieren zwischen sich und seiner Umgebung abzubauen. Sich bei eiskalten Wassertemperaturen von acht Grad Celsius auf die eigene Haut zu verlassen, verstärkte seine Einfühlung in und Identifikation mit der haptischen Erfassung der Umgebung durch den Cephalopoden über jede einzelne Pore der verletzlichen Masse. Wie aus einer anderen Welt stammende Zweiereinstellungen der sanft nebeneinander im Wasser wogenden Gliedmaßen von Oktopus und amphibischem Mensch zeigen trotz der so ungleichen Körpergröße eine Einstimmung auf die Bewegungen des anderen.
Keine der beiden Spezies war daran gewöhnt, denselben Lebensraum und die Nähe des anderen zu teilen, und so fangen die fesselndsten Bilder, die in diesem einzigartigen Jahr entstanden sind, die Entwicklung der körperlichen Neuorientierung auf der Basis von Vertrauen im ‚Angesicht‘ radikaler Alterität ein. Auch wir als Betrachter*innen beginnen, uns nicht mehr wie gewohnt auf die Vorstellung vom Gesicht als Blickfang zu verlassen und stattdessen die Kultur der gesamten Körperfläche als analoge Orientierung anzueignen, als einen Ort, der Empfänger für und Kommunikator mit den Objekten in der Umgebung ist.
Sara Ahmeds queere Phänomenologie beleuchtet, wie internalisierte gesellschaftliche Normen und Handlungen unseren Körper gezielt auf bestimmte Objekte ausrichten; sie schaffen ein Wahrnehmungsfeld, in dem bestimmte Objekte näherkommen und andere nichtwahrnehmbar werden. Auch wenn Ahmed sich hierbei auf die Wirkmechanismen von Heterosexualität bezieht, die sie als „eine an der Hautoberfläche wirkende Kraft“ beschreibt, ein Mittel zur Glättung und Eindämmung allen Begehrens, das vom Kurs abweichen würde, lässt sich ihre Theorie ebenso auf unsere Ausrichtung auf andere Tierarten und deren Ausrichtung auf uns anwenden (Ahmed 2006). Denn der (bezogen auf den Menschen) nichtnormative Körper anderer Spezies konfrontiert uns mit Differenz und öffnet damit neue Wege für das Bewohnen eines Raums im Verhältnis zu anderen. Fosters Orientierung am Kraken war schließlich die indirekte Folge eines Schlenkers, weil etwas in seinem linken Augenwinkel – die ungewöhnliche ‚Muschelskulptur‘ –seinen Blick auf den Meeresgrund von der vorgezeichneten Richtung ablenkte.
Zu den (buchstäblich) ‚ergreifendsten‘ Szenen gehört ein Moment nah am zentralen Punkt der Handlung, nachdem sich beide Protagonisten monatelang gegenseitig beobachtet und vorsichtige Berührungen ausgetauscht haben und das Krakenweibchen sich plötzlich auf Craig Fosters Brust legt, ihn umklammert und es zulässt, dass er ihren Rumpf/Kopf streichelt. Es ist ein überraschender Augenblick körperlicher Verbindung, die in manchen Filmrezensionen nur halb ironisch als queere Romanze zwischen zwei Spezies dargestellt wurde.
Eine solche anthropomorphische Interpretation teile ich nicht, doch bin ich ebenfalls der Ansicht, dass die entstandene Beziehung insofern queer ist, als sie die Art und Weise, wie sich die jeweilige Spezies für gewöhnlich an anderen Meereslebewesen ausrichtet, ganz ausblendet. Obwohl es keinen Präzedenzfall gibt, zeigt das Krakenweibchen dennoch eine klare Kenntnis vom territorialen ‚Grundriss‘ der Anatomie Fosters: Dessen Torso bietet einen idealen ‚Landeplatz‘, denn er ist groß und flach genug für ihre Saugnäpfe, und sie wählt eine frontale Orientierung, die darüber hinaus sicherstellt, dass sie seinen Blick halten und sein Gesicht ‚lesen‘ kann, was nicht der Fall wäre, würde sie beispielsweise auf seinem Oberschenkel oder der Schulter landen. Was ihren kühnen Schritt so bemerkenswert macht, ist der Eindruck, dass er nur aus Freude am Kontakt erfolgt, ohne jedes anderweitige Motiv.
Die Interaktion zwischen den beiden ungleichen Spezies stellt eine Kontaktzone zwischen zwei grundlegend verschiedenen, ja unvereinbaren Welten her: der Welt terrestrischen Lebens, in dem die Schwerkraft wirkt und Sauerstoff aus der die Erde umgebenden Gashülle bezogen wird, und der Welt subaquatischen Lebens, in der schwimmend Sauerstoff durch Kiemen oder Trichter gefiltert wird. Schon früh im Film erklärt Foster: „Es gibt eine Grenze, die wir nicht überschreiten können.“ Die Technik spielt bei der Vermittlung zwischen diesen beiden Welten eine wesentliche Rolle; sie ist Bestandteil dieser Weltbildung, die eine einstweilige posthumanistische Intimität ermöglicht, die zugleich auch inhuman ist. Ehrlichs und Fosters Kamera und Schnitt führen diese widersprüchliche Realität herbei, in der Foster und der Krake als lebende Protagonisten existenziell an den Apparat gebunden sind; nur durch dessen Wirken erhält ihre Verbindung ein (Nach-)Leben. In einer besonders spannenden Szene verbinden sich Bild- und Tonschnitt zu einem herzzerreißenden Einblick in die Unmöglichkeit für Mensch oder Kopffüßer, lange außerhalb der jeweils eigenen Ökologie zu verweilen und die gemeinsame Welt der filmischen Erzählung zu bewohnen. In dieser Szene wurde der Krake schon seit Stunden von einem Hai verfolgt, konnte ihm aber entwischen. Plötzlich schießt das Weibchen nach oben in Richtung des blauen Himmels, der über dem Wasser zu sehen ist, um ein letztes Mal einen sicheren Hafen zu finden. Da die Kamera fast gleichzeitig aus dem Wasser auftaucht, um den Weg des Kraken zu verfolgen, sieht man ihn in ungeschnittener Einstellung mühsam über die Steine glitschen.
In dem Moment, da das Objektiv jäh durch die Wasseroberfläche bricht, bricht dies auch den Bann des Publikums, das bis dahin verzaubert in die Unterwasser-Traumwelt eingetaucht war. Das hörbare Luftschnappen des nicht im Bild erscheinenden Tauchers, der länger als geplant unter Wasser geblieben ist, nimmt den Betrachter*innen die Orientierung, denn es ist das Zeichen, dass wir uns wieder in der gasförmigen Welt terrestrischer Bewohner*innen befinden. Doch sind wir durch die Jagdszene so in die Notlage des Kraken verstrickt, dass wir kaum ausmachen können, woher die Geräusche kommen: Ist es unser eigenes Keuchen, das des Tauchers, oder ist es dem Krakenweibchen selbst zuzuordnen, deren drei Herzen vor Erschöpfung rasen und deren Trichter außerhalb des Wassers um Atem ringen müssen? Ihre lebensbedrohliche Lage ist real und zwingt sie in dem Versuch, sich kurz zu erholen, zu sammeln und dann in ihr Habitat zurückzukehren, Zuflucht auf unbekanntem Territorium zu suchen. Ihre Desorientierung in dieser Umgebung spiegelt unsere Desorientierung innerhalb des Dispositivs wider; sie ist existentiell und räumlich zugleich, da zwei Welten kollidieren und deren Status als Zufluchtsort oder Gefahrenort nicht mehr eindeutig ist. Dies zeigt, dass der Film in einer Zwischenwelt spielt, einem Utopia, das buchstäblich im Nirgendwo liegt.
Es gibt weitere Szenen, die eine durch westliche Kunst- und Literaturgeschichte – seien es Märchen oder hohe Kunst – geprägte Vorstellungskraft ähnlich stark ansprechen. Fosters allererster Körperkontakt mit dem Kraken ist in einer Großaufnahme festgehalten. Vorsichtig streckt er seinen Arm nach dem Weibchen aus, und es erwidert dies, indem es einen Arm ausrollt und zögernd auf seine Hand legt, wie in einem Händedruck ‚inter Spezies‘. Kurz darauf wickelt es die Spitze eines Arms um seine Fingerspitze, während sich die Saugorgane vorsichtig anheften, um weitere Hinweise ‚auszulesen‘. Die Geste lädt zu einer Umdeutung von Michelangelos Fresko Die Erschaffung Adams (1512) (Abb. 4) ein, das in der Popkultur häufig reduziert wird auf die Synekdoche von Gottes Hand, der den Lebensfunken aus seinem Finger auf den Adams überträgt, dessen ruhende Körperhaltung wiederum seinen Schöpfer spiegelt. Unter diesem archetypischen Überbau betrachtet, entfacht der Kontakt zwischen Foster und dem Kraken die Frage nach dem Tier neu und lotet die Trennung zwischen Mensch und nichtmenschlichem Tier aus, indem die zarte Verbindung zwischen Himmel und Erde, göttlich und sterblich, Schöpfer und Schöpfung als eine Verbindung zwischen der Fähigkeit des Menschen, über die Grenzen seines eigenen Daseins hinaus zu denken, und einem dem nichtmenschlichen Tier zugeschriebenen Zustand der Benommenheit (nach Heidegger; fehlendes Ich-Bewusstsein) refiguriert wird.
Es wäre allzu verführerisch, diesen Gedanken fortzuschreiben und den Film als eine Dokumentation über ein menschliches Tier zu deuten, das seine verwandtschaftlichen Beziehungen auf ein nichtmenschliches Tier ausweitet und dabei auch dessen Horizont und schon vorhandene beachtliche Intelligenz noch erweitert. Die Metapher des Aufsteigens wird verräumlicht, als der Krake an anderer Stelle wagt, sich auf Fosters Hand niederzulassen, während er im Wasser treibt, und überraschenderweise dort bleibt, als Foster nach oben schwimmt, um Luft zu holen. Doch die Rahmenerzählung des Films kippt die Vorstellung von nach Gottes Bild gemachten Menschen, die „walten über die Fische des Meeres […] und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen.“ (Genesis 1: 26-28, Deutsche Einheitsübersetzung) Denn stattdessen ist es Foster, der sich seiner selbstverschuldeten Entfremdung von dem salzhaltigen Milieu, aus dem alles Leben stammt, bewusst wird. Dessen Fruchtbarkeit repräsentiert das Oktopusweibchen: Sie pflanzt sich fort und schließt den Kreislauf, indem sie sich ergibt und von einem anderen Jäger gefressen wird. Dadurch dass sie Foster – durch Ausstrecken ihres kleinen Arms nach seinem Finger – freiwillig akzeptierte, hat sie ihn gelehrt „zu erkennen, dass ich Teil dieser Umgebung bin und nicht von ihr getrennt.“ Was Foster (neu) lernen muss, ist, sich wieder mit seiner Umgebung innerhalb eines weiter gesteckten zoontologischen Rahmens zu verbinden, und dabei einen Teil des Aufwands, den er in ein autonomes Selbst gesteckt hat, wieder aufzugeben.
Als Co-Regisseur und Ich-Erzähler des Films mag es scheinen, als habe Foster das letzte Wort in dieser vitalistischen und phänomenologischen Ethologie einer Begegnung zwischen Arten. Er wird in Frontalansicht gezeigt, als er in seiner Wohnung am Tisch sitzt und erzählt; die Fenster gehen auf das Kap unten hinaus. Er überlässt sich dem Geständnismodus, den die leise mitlaufende Kamera als ‚psychoanalytische Stimulanz‘ hervorlockt. Wenn seine Stimme stockt oder er bei der Erinnerung an den Tod des Kraken still wird, wird auch sein Gesicht in Großaufnahme gezeigt, was den amphibischen Cyborg, den wir sonst im trüben Wasser treiben sehen, rehumanisiert. Das Unterschneiden der nachträglichen Selbstanalysen mit traumartigen Unterwasseraufnahmen stützt Derridas These, dass wir, als autobiografische Tiere, dadurch Subjektivität erhalten, dass wir uns von anderen unterscheiden, auch von anderen Tieren, die den Menschen untergeordnet wurden, damit die Menschheit den alleinigen Anspruch auf Subjektivität erheben kann (Derrida 2016). Dennoch postuliert die Anspielung des Filmtitels auf Anleitung und Führung zugleich eine relationale Subjektivität: Auch Foster hat aus den Begegnungen mit dem Kraken gelernt und wurde durch ihn bleibend verändert, so wie vermutlich auch das Krakenweibchen durch Foster (denn ihre rasche Auffassungsgabe hat sie ja bewiesen). Wie Derrida bemerkt, unterschätzen wir, wie sehr das Andere dem Selbst innewohnt, dessen Fremdbestimmung keineswegs nur im Menschlichen vorkommt.
Was Krake und Mensch gemeinsam haben, auch mit anderen Spezies, ist die Gewohnheit, Zeichen, Düften und Spuren zu folgen, ohne unbedingt immer zu wissen, wohin sie führen oder was sie offenbaren und wie sie zu einem Teil von uns werden, ob durch Verzehr, eine unvergessliche Begegnung oder erlangtes Wissen und Erkenntnis. Der französische Titel von Derridas Band L’Animal que donc je suis (dt.: Das Tier, das ich also bin; 2008) spielt in ähnlicher Weise mit der Doppeldeutigkeit des Verbs in je suis, was ‚ich bin‘ oder ‚ich folge‘ heißen kann. Alle Tiere sind Fährtensucher, eine Eigenschaft, die die Zoontologie Fosters und die des Kraken verbindet. Zu Fosters Verhaltensforschung gehörte, diesen Oktopus regelrecht zu verfolgen, Spuren seiner Anwesenheit am Meeresgrund in den Hinterlassenschaften zu erkennen, voyeuristische Kameras in Felsspalten zu platzieren, die das Weibchen aufsucht, um eben nicht gesehen zu werden, und außerdem aufdringliche Kameralichter auf ein Lebewesen zu richten, das vor grellem Schein zurückscheut. Doch zu seiner großen – und schmeichelhaften – Überraschung, stellte auch Foster fest, dass er verstohlen und heimlich von dem Oktopus verfolgt wurde, der vermutlich versuchte, Fosters seltsames Verhalten aus Neugier und zum Zweck des eigenen Überlebens zu verstehen.
Andererseits darf man nicht das Vergnügen vergessen, das es Zuschauer*innen weltweit bereitet hat, diesem viral gegangenen Dokumentarfilm in Pandemiejahr 2020 ‚zu folgen‘. Streamingplattformen wie Netflix profitierten wie niemals zuvor von einem unfreiwilligen Publikum, das der auferlegten Quarantäne entkommen wollte und sich in ansprechenden Onlineportalen entweder in eine tröstende Vergangenheit oder schöne neue Welten der Gegenwart und Zukunft flüchtete. Es scheint wie eine glückliche Fügung, dass Fosters Suche nach Flucht und Heilung im Tangwald nahe seinem Haus einen neuen öffentlichen Hunger stillte. Während er die Kamera eigentlich als praxisbasiertes Instrument der (Selbst-)Erforschung einsetzen wollte, fand er sich in einem (meta)physischen Raum und einer Zeit wieder, die Agamben (2004) in Anlehnung an Rainer Maria Rilkes achte Elegie „das Offene“ nennt: ein ontologisches Vakuum, ein Intervall, das er irgendwo zwischen den destruktiven binären Zuschreibungen verortet, die den Menschen vom Tier unterscheiden.1 Frostige Wassertemperaturen an einer Schwelle, die Warmblüter normalerweise rasch vernichten würden, wirken mit Fosters Worten stattdessen als „Steigerung der Gehirnleistung, der ganze Körper wird mit Leben erfüllt“, und sie erweitern auch seine Fähigkeit, den Sauerstoff über ein ‚Intervall‘ von sechs Minuten einzuteilen. Dadurch betritt er eine Zone purer Empfänglichkeit für „die Seele des Waldes“ (forest mind), wie Foster es nennt, und blendet jede zivilisatorische Kakophonie aus, deren willkürliche ontopolitische Grammatik Agamben auf die griechische Antike und Aristoteles’ Politik zurückführt. Wenn menschliches Leben mit der Kategorie des Bürgers in der Polis gleichgesetzt wird, folgt daraus für Agamben, dass Leben nur als menschlich gilt, wenn ihm ein auf ‚Rechten‘ basierender Status angehört. Außerhalb dieser Zuschreibung regiert der Souverän über das Leben als Rohstoff, der abgesehen von seinem potentiellen Warenwert als entbehrlich gilt. Fosters Projekt wendet sich ins Politische, hin auf eine Demontage dieser ‚anthropologischen Maschine‘ von innen heraus, indem es auf die Handlungsmacht und Singularität diverser Ontologien fokussiert und so allem, was bisher in das Sammelbecken der ‚Natur‘ verwiesen wurde, ein Gesicht und sogar einen Namen und Rechtsansprüche verleiht. Schon 2012 war Foster Mitbegründer des Sea Change Project, „zur Anerkennung dieses großen afrikanischen Tangwalds als weltweites Wahrzeichen wie die Serengeti oder das Great Barrier Reef.“ Mit dem Film MEIN LEHRER, DER KRAKE wurde der Tangwald als ‚Marke‘ stärker im allgemeinen Bewusstsein der Menschen verankert. Foster sagt dazu: „Ein Ort braucht einen Namen, damit die Menschen sich dafür interessieren und ihn schützen.“ (Baker 2020) Auch wenn dieses ehrgeizige Ansinnen wie ein Echo der Landnahmen und Territorialansprüchen einstiger Pioniere klingt, strebt Foster mit seinem Umweltethos tatsächlich danach, jene kolonialen Verwerfungen wiedergutzumachen und umzuwenden.
In der Aushandlung der Alterität von Spezies anhand der Fazialität spricht der Film MEIN LEHRER, DER KRAKE auch eine neu entdeckte öffentliche Sensibilität für die Artikulation der Fazialität an. Fosters Schwimmbrille erinnert an den Gesichtsschutz, der während der Pandemie jede öffentliche Begegnung zu prägen begann. Durch intensiveren Augenkontakt und gesteigerten Affekt versuchte man zu kompensieren, was in gedämpften Gesprächen hinter Stoff- oder Papiermasken verlorenging. Die im Film erforschte Unterwasserwelt stößt auf noch größere Resonanz bei Menschen, die sich nun regelmäßig durch das virtuelle Aquarium der Videokonferenzen navigieren und einander verzerrt durch ein anderes liquides Medium, das aus digitalen Einsen und Nullen besteht und immer mal gestört ist. Wir haben zu akzeptieren gelernt, dass Sprache ärgerlicherweise mitten im Satz abbrechen kann oder bis zur Unverständlichkeit verzerrt wird, dass Gesichter wenig schmeichelhaft und mit komischen Grimassen urplötzlich einfrieren, während seltsame Erscheinungen (Kinder oder nichtmenschliche Haustiere) im Hintergrund vorbeihuschen. Reduziert auf zweidimensionale Gesichter, die sich bemühen, über den Bildrahmen eine Co-Präsenz herzustellen, gibt uns Fosters Begegnung mit einer einzelnen Vertreterin der Spezies Octopus vulgaris den ein oder anderen Fingerzeig. Ihr Vermächtnis sind nicht nur die Oktopusbabys aus ihrem Laich der letzten Wochen ihres Lebens, sondern auch die starken Lektionen in gegenseitiger Verzauberung über Wahrnehmungsebenen hinweg. Dies bedarf des einstweiligen Vertrauens, Respekts und der Resilienz in unsicheren Zeiten.
Agamben, Giorgio (2004) The Open. Man and Animal. Übersetzt von Kevin Attell. Stanford; Stanford University Press.
Ahmed, Sara (2006) Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others. Durham: Duke University Press.
Baker, Aryn (2020) My Octopus Teacher Became a Viral Sensation on Netflix. Its Human Star Craig Foster Wants the Film to Inspire Change. Time, November 2020. https://time.com/5909291/my-octopus-teacher-craig-foster-interview/ (zuletzt aufgerufen 30.05.2023).
Balázs, Béla (1982) Der sichtbare Mensch. In: Helmut H. Diederichs/Wolfgang Gersch/Magda Ngy (Hg.) Béla Balázs. Schriften zum Film, Band 1. München: Hanser.
Baudry, Jean-Louis (1999) Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Claus Pias/Lorenz Engell/Oliver Fahle u.a. (Hg.) Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA, S. 381–404.
Baudry, Jean-Louis (1974-75) Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus. In: Film Quarterly 28, Nr. 2 (Winter 1974-75), S. 39-47.
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Deleuze, Gilles/Félix Guattari (1993) Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übersetzt von Gabriele Ricke/Ronald Voullié. Berlin: Merve.
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