Eine Annäherung an 24 FRAMES von Abbas Kiarostami im Licht der Homöopathie
(für Farzad und Morteza)
Die Ursprünge der Homöopathie in der Philosophie und Medizinlehre um 1800 liefern eine Arbeitsthese des Minimalismus und damit die Formel für eine mögliche Beschreibung des Grünen Kinos. Der vorliegende Beitrag gibt zunächst einen kurzen Überblick über das Paradigma und die Potenziale der Homöopathie, um darauf aufbauend die minimalistische Ästhetik und die Produktionsbedingungen des letzten Films des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami mit dem Titel 24 FRAMES (Iran 2017) zu untersuchen.
Kiarostamis Film kompiliert 24 Trompe-l‘Oeil-Effekte: Was wirkt wie eine einzige 4,5 Minuten lange Einstellung, ist eine Illusion, denn jedes Bild ist aus einem einzelnen, digital erweiterten Gemälde oder einer Fotografie entstanden. So ist der Film ein Verbund aus Standfotografie und computergestützter Bilderzeugung, der auch einige Digitalaufnahmen von Bewegtbildern enthält. Über die endgültige Auswahl der einzelnen Einstellungen (Frames) für Kiarostamis letztes Werk, das ein Jahr nach seinem Tod erschien, entschied posthum sein Sohn. Der Filmtitel spielt natürlich auf die klassische Kamera-Geschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde an und unterstreicht den Täuschungseffekt, dass wir Bewegtbilder anstatt einer Serie von Standaufnahmen wahrnehmen. Zu Beginn des Films beschreibt Kiarostami in einem Zwischentitel, wie er sich vorstellte, was vor und nach der Verschlusszeit seiner Kamera passiert ist. Mittels dieser Extrapolation fordert er die Zuschauenden auf, sich mit dem zu befassen, was da ist, wenn sie selbst nicht anwesend sind. So weist fast jeder Bildrahmen auf die Existenz von Vögeln und Säugetieren hin, die die Leinwand mal einzeln, mal als Rudel, Herde oder Schwarm bevölkern; auch ihre Stimmen sind zu hören. Einige Bildfelder zeigen das Meer mit heranrollenden Wellen und vorbeiziehenden Wolken, andere eine stille Winterlandschaft.
Wird überhaupt auf menschliche Anwesenheit verwiesen, dann nur metonymisch durch Ton (Gewehrschuss in Frames 4, 5 und 13; Musik in Frames 2, 6, 12, 21 und 24; Kettensäge in Frame 23) oder Ergebnisse ihres Wirkens (ein Vogel fällt vom Himmel; Bäume werden gefällt). Eine besondere Ausnahme bildet Frame 15, in dem eine muslimische Familie starr vor dem Eiffelturm steht, während Menschen aus Paris selbstvergessen an ihnen vorbeigehen, als wären sie nicht da. Die digitale Animation ist auf ein Minimum reduziert und könnte leicht unbeholfen, maniriert oder repetitiv wirken, doch gelingt es Kiarostami, die Zuschauer*innen mit atmosphärischen Veränderungen und der leisesten Bewegung nichtmenschlicher Wesen zu fesseln. Häufig verlassen die Tiere am Ende einer Sequenz das Bildfeld, und alle Segmente enden mit einer langsamen Abblende, bis der Bildschirm schwarz ist, während in der unteren rechten Bildecke die Zahl des nächsten Frames erscheint – ein Countdown, der Ordnung, Zeitverlauf und Abfolge signalisiert. So stellt sich ebenso wie in der Homöopathie auch in Kiarostamis Werk die Frage, wie mithilfe des Minimalismus wieder ein Gefühl von Lebensgeist, Lebenskraft und Harmonie entstehen kann.
Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, prangerte in seiner ersten Veröffentlichung, in der er 1796 das Ähnlichkeitsprinzip similia similibus curentur vorstellte, die „Rosskuren“ seiner Zeit an – die uneingeschränkte Verordnung von Aderlass, Opium, Brech- und Abführmitteln. Er hingegen stand für die Wirksamkeit des Maßhaltens und der geringen Dosierung. Similia similibus curentur besagt, dass die Einnahme einer minimalen Dosis einer Arznei (die bei einem gesunden Menschen Symptome hervorrufen würde, die der zu behandelnden Krankheit ähneln), die Lebenskraft des erkrankten Körpers dazu anrege, die von dem Arzneimittel verursachten Symptome zu bekämpfen. Dabei werde zugleich die ursprüngliche Erkrankung überwunden. Im Zentrum der Homöopathie steht der Glaube, dass eine simulierte Erkrankung die Heilung stimuliert.
1801 verkündete Hahnemann das Prinzip der stufenweisen Verdünnung: Ein 1 /10,000 Gran des Belladonna-Extrakts könne das Scharlach-Fieber bekämpfen. Darüber hinaus verordnete er Belladonna als Prophylaxe gegen die Epidemie sowie zur Linderung der „Nachwehen“ der Erkrankung, die nicht selten schlimmer waren als das Scharlach-Fieber selbst (Hahnemann 2001: 305).1 Ebenfalls im Jahr 1801 propagierte Hahnemann, dass die Arznei nicht „atomisch“ (d. h. durch den Überrest eines pflanzlichen Alkaloids oder einer sonstigen Substanz), sondern „bloß dynamisch“ wirke (Ebd.: 349).2 Hahnemann spricht bei dem Arzneimittel also nicht von einer Übertragung von Informationen oder Inhalt: Es gebe keinen molekularen Gedächtniseffekt, keine materiell-kausale Verbindung zwischen der ursprünglichen Pflanze und der Verschüttelung. 1805 ging er einen Schritt weiter und nannte den Heilungseffekt einen „geistigen“: „Diese dynamische Wirkung der Arzeneien ist so wie die Vitalität selbst, durch die sie auf den Organismus reflectirt wird, fast rein geistig” (Ebd.: 409). Im Jahr 1830 bestimmte Hahnemann die Potenz C30 (1:10660/eine Decillion) als Standardpotenz, und die aromatische Exposition wird zu seinem Standardverfahren. Erst gegen Ende seines Lebens empfiehlt er, anstatt eine Lösung in Alkohol zu schnüffeln, die Potenzierung auf ein Zuckerkügelchen zu geben, das vor dem Schlucken in Wasser aufgelöst werden solle, um die Wirksamkeit des Mittels noch zu erhöhen. 1842 erörterte er die 50.000er-Potenzen, bei der sich die Substanz vollständig in ihre individuelle, geistige Essenz auflöse.
Trotz der Betonung von Lebenskraft und Geist beruht Hahnemanns Minimalismus auch auf mathematischen Gesetzen und der Infinitesimalrechnung. Analog zu einer Funktion f(x), die gegen Null geht, wenn x sich der Unendlichkeit nähert (d. h. der Abstand zwischen f(x) und Null kann unendlich verkleinert werden), behalte der medizinische Wirkstoff bestimmte Eigenschaften, auch wenn die Menge quantitativ zu vernachlässigen war. Demnach verdankt sich die Homöopathie wie die Mathematik dem Prinzip der Kontinuität, insofern als die Realität wie eine Reihe reeller Zahlen unendlich teilbar ist (oder wie es bei Leibniz heißt: natura non facit saltus). In der Ausgabe des Organon der Heilkunst von 1833 äußert sich Hahnemann selbst dazu: „Sie mögen sich von den Mathematikern erklären lassen, wie wahr es sey, daß eine in noch so viele Theile getheilte Substanz auch in ihren denkbar kleinsten Theilen immer noch Etwas von dieser Substanz enthalten müsse.“ (Ebd.: 811 §280).
Die Homöopathie ist daher im Rahmen der geistigen Strömungen jener Zeit zu betrachten, z. B. im Zusammenhang mit Percy Bysshe Shelleys philosophischem Gedicht Queen Mab (1813):
In dieser ewigen, wechselreichen Welt
Ist nur der Geist das Element, der Kern,
Der seit Aeonen unverändert blieb.
Der starre Pfeiler, über dem die Last
Des Berges gewichtig ruht, ist voller Seele
Und Leben. Jeder kleinste Theil empfindet
Als Einheit und als Theil und jedes kleinste
Atom umfasset eine Welt voll Liebe
Und Haß. (Shelley 1844)3
Auch bei Hahnemann ist „der aktive, lebendige Geist“ oder „die Seele“ überall in der Natur präsent, tatsächlich und insbesondere auch auf unendlicher kleiner Ebene oder, mit Shelleys Worten, im „kleinsten Atom“.
Entsprechend ihrer Widerständigkeit gegenüber den Anfängen der Pharmakologie betrachtet die Homöopathie letztlich jede einzelne Pflanze als einzigartig, so wie auch die Symptome aller Patient*innen einzigartig sind. Homöopathinnen und Homöopathen forderten ihre Patient*innen zu einer genauen empirischen Beobachtung des Lebens auf, zur Beachtung seiner Fragilität und Launenhaftigkeit. Ein enger Freund und Anhänger Hahnemanns war der Laienhomöopath Clemens von Bönninghausen, der die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff fast zwei Jahrzehnte lang behandelte. Unter anderem veröffentlichte Bönninghausen 1848 eine Sammlung winziger atmosphärischer Beobachtungen (Witterungen), die einen Wetterwechsel ankündigten. Droste-Hülshoffs minutiöse Naturdichtung folgt mit geschultem Blick dieser genauen Betrachtungsweise.
Hieraus lässt sich für die anschließende Untersuchung des Films 24 FRAMES Folgendes festhalten: Das Paradigma der Homöopathie beruht auf dem Glauben an die Wirksamkeit und Vitalität des Minimalismus, auf der mathematischen Potenzrechnung, dem Reiz-, aber auch Heilungseffekt einer kleinen Dosis Gift, Stimulation durch Simulation und der minutiösen Beobachtung natürlichen Lebens. In 24 FRAMES beobachten Betrachter*innen einen ähnlichen Glauben an einen lebhaft pulsierenden Minimalismus – neue Entwicklungen ergeben sich aus dem winzigen Klick der Kamera und digitalen Mikroveränderungen. Viel scheint in den einzelnen Frames nicht zu passieren, die Inszenierung ist spärlich; jeder gegebene Bildausschnitt stellt den Augenblick heraus beziehungsweise potenziert ihn. Und doch wirkt es, als halte mit der einsetzenden Animation einer Landschaftsaufnahme, der zunehmenden digitalen Veränderung und Simulation von Wirklichkeit ein Fremdkörper oder störendes Gift Einzug. Der minimalistische Eingriff scheint die Natur zu beleben. Genau wie die Homöopathie mathematische Berechnungen anstellt, um eine Dynamik zu erzeugen, so bringt auch Kiarostami das Publikum zum Nachdenken darüber, wie der Apparat den Lebensgeist der Natur sichtbar werden lassen kann.
Hahnemann und Kiarostami teilen auch ihren Glauben an die Einzigartigkeit jedes Lebewesens, ob Blume, Baum, Hund, Krähe oder Mensch. Kiarostamis Film schenkt der kleinsten Bewegung der Tiere Aufmerksamkeit – vor allem den Anzeichen ihrer Witterung. Nicht zuletzt führt uns Kiarostami mit seinem Minimalismus, seiner Destillation, ein nachhaltiges Kino vor Augen, insofern als die Produktion keinen CO2-Fußabdruck hinterlässt, für ein Mindestmaß an Eingriffen in die Natur steht und dennoch eine einzigartige Welt eröffnet.
Einerseits scheint sich der Film 24 FRAMES als fotografisches Experiment wesentlich von den früheren und bekannteren Filmen Kiarostamis zu unterscheiden, beispielsweise von der sogenannten Koker-Trilogie WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES?/KHANEH- YE DUST KOJAST? (Iran 1987), UND DAS LEBEN GEHT WEITER/ZENDEHGI VA DIGAR HICH (Iran 1992) und QUER DURCH DEN OLIVENHAIN/ZIR-E DERAKHTAN-E ZAITUN (Iran 1994). Andererseits hat 24 FRAMES auch vieles mit ihnen gemeinsam, insbesondere die Panorama- und Endlos-Einstellungen in der Ästhetik des Cinema Vérité. Die scheinbare Nonchalance weckt die Neugier der Betrachter*innen und stimmt sie auf den vorübergehenden Moment ein, sogar auf das Wehen des Windes. 24 FRAMES greift außerdem Kiarostamis Faszination für die in einem Fahrzeug seitwärts fahrende Kamera auf (UND DAS LEBEN GEHT WEITER, DER GESCHMACK DER KIRSCHE/TA’M-E GILAS [Iran 1997] und TEN/DAH [Iran 2002]); in Frame 2 fährt die Scheibe hinunter, als der Wagen hält, und zwar um das Bild zweier im Schnee tollender Pferde einzufassen. Ähnlich blicken Frames 6, 12, 18, 20, 21 und 24 durch ein Sprossenfenster; sie erinnern an Kiarostamis Vorstellung von der Tür, die sich in WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? zur Welt öffnet. Eine Parallele zum früheren Werk Kiarostamis liegt in der Horizontalität der Landschaft (die durch die seitwärts fahrende Kamera betont wird) und den von Wegen gebildeten Zickzack-Muster (wie in WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? und QUER DURCH DEN OLIVENHAIN). Frame 4 beispielsweise zeigt zwei Baumreihen in der Ferne, an denen von links nach rechts eine Hirschherde entlangläuft; jedoch lenkt eine einzelne diagonale Tierspur im Schnee, die sich bis zu den parallelen Baumreihen zieht, den Blick in die Ferne [Abb. 1]. Des Weiteren spielt 24 FRAMES mit einer postmodernen Dichotomie zwischen Realität und Kunstschöpfung, wobei dies hier eher indirekt durch den bewussten Einsatz der digitalen Apparatur geschieht als durch die diegetische Figur eines realen (UND DAS LEBEN GEHT WEITER) oder erfundenen Filmemachers (CLOSE-UP/NEMA-YE NAZDIK [Iran 1990]).
Da 24 FRAMES zu einem großen Teil aus der Fotografie heraus entstanden ist, können Kiarostamis fotografische Sammlungen abstrakter pastoraler Landschaften (Snow White, Trees and Crows) wie auch die früheren Filme als wichtige Vorläufer angesehen werden, insbesondere hinsichtlich ihrer starken Horizontalität und „zweidimensionalen“, „flachen Komposition“ (Sami-Ager 2009: 13; s. hierzu auch: Tesson 2006). Ebenso von Bedeutung sind wiederkehrende Motive, zum Beispiel der allein stehende Baum (in Frames 10, 11 und 17, 20). Wie in Kiarostamis Kurzgedichten, beispielsweise in der Sammlung In Begleitung des Windes, wird dem Objekt in der Natur durch Minimalismus und Fokus ein besonderer Geist oder Leben eingehaucht [Abb. 2]. Der Filmanfang von DER WIND WIRD UNS TRAGEN/BAD MA RA KHAHAD BORD (IRAN 1999) verwendet den Baum ebenfalls diegetisch als Orientierungspunkt für die Figuren. Kiarostami erzählt in einem Interview von der Aufnahme eines „riesigen Baums, der zwischen zwei Hügeln wächst. Das Negativ wurde im Labor zerkratzt. Zwei Tage später habe ich denselben Baum fotografiert, zur gleichen Tageszeit, mit demselben Objektiv und vom selben Standort aus. Ich habe die beiden Fotografien verglichen, und sie sahen sich nicht einmal ähnlich. … Vielleicht war der Baum im ersten Foto glücklich und im zweiten traurig oder umgekehrt.“ Dann spricht er vom „Wesen des Baums“, von „einem besorgten Baum, einem ruhigen Baum“: „[Der Philosoph und Mystiker] Ibn Arabi sagt, dass der Baum die Schwester des Menschen ist. … Ich liebe den Baum um seiner selbst willen.“ (2000: 36-37; Zitat übersetzt von AHC). Wie der einzelne Baum oder die Baumreihe eignen sich Schneelandschaften gut für Abstraktion, Reinheit und Minimalismus, wie es auch Kiarostamis fotografische Sammlung Snow White oder seine Lyrik zeigt: „Das Weiß der Taube/Verliert sich in den weißen Wolken/Verschneiter Tag.“ (2004: 12).
Neben der Flora zieht sich die Fauna von Kiarostamis früheren Filmen wie ein roter Faden durch bis zu 24 FRAMES. Der frühe Kurzfilm BROT UND GASSE/NAN VA KUCHEH (IRAN 1970) ist die spannend angelegte Erzählung von einem offenbar streunenden Hund, der zu der List greift, Kinder so lange zu bedrohen, bis sie ihn mit Futter besänftigen. In der Koker-Trilogie kündigt sich das Vieh im Off durch seine Rufe an und wandert erst danach wie zufällig vor die Linse. Wie der kleine Junge in WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? sind die Hühner, Hähne, Hunde, Ziegen und Kühe bummelnde und entschlossene Wandernde zugleich. Sie erinnern uns daran, dass ihre Existenz weit über die Welt der Kamera hinausgeht. Stets in Bewegung, scheinen die Tiere unbeirrt auf Ziele zuzustreben, die sich dem Menschen nicht erschließen – so ist es selbst bei der langsamen Schildkröte, die im Film DER WIND WIRD UNS TRAGEN vom Ingenieur auf den Rücken geworfen wird, wodurch ihr der weitere Pfad durchs Leben brutal versperrt ist. Noch vor der Titelnennung in UND DAS LEBEN GEHT WEITER fängt der kleine Sohn des Hauptprotagonisten mit der Hand eine Wanderheuschrecke, lässt sie aber wieder frei. In einem Gedicht schreibt Kiarostami: „Es schnellt und landet/Landet und schnellt/Die Heuschrecke/In eine Richtung die nur sie weiß“ (2004: 24). Wenn die Kinder in Kiarostamis Filmen für Widerstand gegenüber Autoritäten stehen, so scheint es auch die Tiere in 24 FRAMES aus dem Griff eines anthropozentrischen Regimes fortzutreiben. Ähnlich drückt es das Gedicht, das den Band In Begleitung des Windes eröffnet, aus: „Ein weißes Fohlen/tritt aus dem Nebel/Und entschwindet/im Nebel“ (2004: 7).
Entscheidend für die Frage nach einer Alleinstellung von 24 FRAMES innerhalb des Lebenswerks Kiarostamis ist der Vergleich mit seinem sehr ähnlich montierten Kompilationsfilm FIVE DEDICATED TO OZU (IRAN 2003). Er ist eine Zusammenstellung von fünf Kurzfilmen, von denen jeder wie eine Panorama-Aufnahme einer statischen Kamera wirkt, und zeugt ebenfalls von der Vorliebe des Regisseurs für Seelandschaften und Tierleben. Zum Beispiel, wie in Frame 16 filmt Kiarostami hier im vierten Kurzfilm Enten, die in den Bereich des Suchers gewatschelt kommen. Der dritte, 17-minütige Teil besteht aus einer einzigen Supertotalen von Hunden am Strand [Abb. 3]. In einem Kurzfilm, der auf der DVD von FIVE enthalten ist, erklärt Kiarostami, dass diese Szene keinem Plan folgte: Seine Rolle war es, „keine Rolle zu haben“. Als er die Kamera einschaltete, herrschte absolute Dunkelheit, am Meeresufer war nichts zu sehen, und er schlief ein. Was seine Kamera einfängt, sind sechs aufwachende Hunde, ihre Silhouetten bewegen sich zwischen Uferlinie und Wasser. Im Verlauf der Aufnahme „vereinigen sich“ die Horizonte; Meer, Erde und Himmel „werden ein Raum. Die Wellen werden zu Meerwesen, und alles bewegt sich auf eine totale Nichtexistenz zu, und mitten aus dieser Nichtexistenz heraus scheint eine neue Existenz auf.“ – „Vor unseren Augen wird alles vollständig ausgelöscht … Alles bewegt sich auf reine Helligkeit zu, zerfließt dann und wird ausgelöscht.“ Bezüglich der Hunde sagt Kiarostami: „Mir war nicht klar, dass sie ihre Gefühle sehr viel authentischer ausdrücken, als wir ahnen. Mein kleiner Whippet hat sich den Film sehr intensiv angeschaut, obwohl die Hunde darin nur winzige Silhouetten am Horizont sind.“ Vielleicht hat er wie Kiarostami ihr Schwanzwedeln als ein „Guten Morgen“ oder „Was für ein schöner Tag“ oder auch „Hast du gut geschlafen?“ verstanden. Das in dem Film dargestellte liebevolle Miteinander im Rudel, in der Herde oder im Schwarm zieht sich auch durch 24 FRAMES.
Die fünf Kurzfilme lassen anklingen, was der bekannte britische Autor John Berger über Pentti Sammallahti schrieb: „Wahrscheinlich war es ein Hund, der den großen finnischen Fotografen zu dem Augenblick und dem Ort dieser Aufnahmen geführt hat. In jedem einzelnen Bild … ist … die menschliche Ordnung nicht mehr zentral und entschwindet. Die Zwischenräume sind geöffnet“ (2001: 5; Zitat übersetzt von AHC). Doch obwohl die Hunde „natürliche Grenzgänger in diesen Zwischenräumen sind“ (Ebd.: 5), verschließt sich das von ihnen geöffnete Reich auch vor dem Fotografen. Hunde sind in dieser Ödnis zuhause und beherrschen die ungeheure Weite, wie es ein Mensch niemals könnte. Dadurch schaffen sie eine Offenheit, eine Möglichkeit, eine Grenzenlosigkeit oder, mit den Worten Bergers, „eine Erwartungsfreude, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht erlebt habe, seit ich mit Hunden gesprochen, mir ihre Geheimnisse angehört und für mich behalten habe“ (Ebd.: 6). Über die Herstellung des Films FIVE sagte Kiarostami: „[Die] Natur steckt voller Geheimnisse, und diese Geheimnisse zu entdecken, sollte nicht einfach sein“ (DVD FIVE; Zitat übersetzt von AHC).
Mit der Supertotalen erzeugen sowohl Sammallahti als auch Kiarostami den distanzierten Blick. Dabei verkehrt sich ihr Vorgehen gegenüber dem gängigen Tierporträt, Tierfoto oder Tierfilm auffallend, denn beide Regisseure widersetzen sich dem Verlangen der Betrachtenden, dem Tier in die Augen oder das Gesicht zu schauen. Kiarostami verwandelt den forschenden Blick des Menschen stattdessen in einen meditativen, wobei er in Bezug auf das Tier zugleich ein Geheimnis und Offenheit schafft. Die Kameradistanz bewirkt zusammen mit der Unbewegtheit, dem gedehnten Zeitempfinden, Off-Space und dem nicht vorhandenen Kommentar eine kritische Reflexion der Darstellung von Tieren. Kiarostamis Feinsinn, sein Einschwingen auf kleinste Unterschiede, liefert eine Formel für die Bestrebungen eines minimalistischen Grünen Kinos. Der Film 24 FRAMES folgt insoweit Scott MacDonalds Rezeptur für ein Öko-Kino, „neue Filmerlebnisse zu schaffen, die eine Alternative zum konventionellen medialen Schauen aufzeigen“ (2013: 20), und „die natürliche Umwelt so darzustellen, dass das Kinoerlebnis eine Blaupause für Geduld und Achtsamkeit bietet“ (2013:19; Zitat übersetzt von AHC).
Von wesentlicher Bedeutung ist die von der feststehenden Kamera erzeugte Statik, denn umso besser lässt sich Bewegung innerhalb der Bildgrenzen künstlerisch herstellen. Kiarostami spielt mit einem Spannungsverhältnis zwischen Beständigkeit und Vergänglichkeit. Nicht Schnitt oder Kamerafahrt bestimmen die Wirkung, sondern die Tiere, die sich in den Rahmen hinein- oder aus ihm hinausbewegen; jede einzelne, bedeutsame Veränderung verleiht den Tieren, auch den tapsigen Kühen, Autonomie. Ihr Dasein geht über die 4,5-minütige Dauer der dargestellten Fragmente hinaus. Der Film eröffnet mit einem Frame, der genau diesen Ton bereits setzt, obwohl sich dieser Teil von allen anderen dadurch unterscheidet, dass er nicht aus einer Fotografie heraus entwickelt wird, sondern aus dem berühmten Gemälde Die Jäger im Schnee von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1565. Die Animation beginnt mit einer kaum wahrnehmbaren Rauchsäule, die aus einem Schornstein aufsteigt, doch dann beginnt eine Krähe sich zu bewegen und zu rufen, während es zugleich zu schneien anfängt. Ein Hund läuft umher, Vieh trottet in der Ferne dahin, doch die Jäger und Schlittschuhläufer*innen bleiben unbewegt. Die Natur steckt voller, wenn auch winziger Verschiebungen, die von ihrer dynamischen Kraft zeugen. Wie in allen Teilen des Films setzt mit dem Ende der Animation der Tiere die langsame Abblende ein. Auch in Frames 15 und 24 bleiben die Menschen regungslos – im Unterschied zu Hunden, Kühen, Hirschen, Strandläufern, Enten und Seemöwen, die die übrigen Frames beleben. Dem Umherwandern der Tiere scheint immer eine absichtsvolle Entschlossenheit innezuwohnen, die sich dem menschlichen Verständnis entzieht. Warum läuft der Hirsch in Frame 4 in Richtung des Gewehrschusses, anstatt wie die anderen zu fliehen, wenn nicht, um dem letzten langsamen Tier in der Herde beizustehen? Gesellt sich die Möwe in Frame 13 zu der in der Luft abgeschossenen, um deren Tod zu betrauern?
Die Entschiedenheit, Bestimmtheit und Beharrlichkeit tierischer Lebewesen zeigen sich auch in ihrer Fähigkeit, die Stille auszuhalten; sie hocken da, warten, schweben, lassen sich nieder oder nehmen nach einer plötzlichen Störung ihre stete Wanderschaft wieder auf, wie die Vögel in Frame 14. Reglose Tiere können das Publikum so unruhig oder ungeduldig machen wie den Terrier in Frame 22, der eine Möwe und einen Flaggenmast sinnlos anbellt. Doch die einzelne Einstellung regt auch zu Vertiefung und Würdigung des Asketischen an. Silke von Berswordt-Wallrabe schreibt über den Film FIVE, er „eröffnet somit still bewegte Zwischenbilder, die unter anderem mit Wiederholungen, Verzögerungen und teilweise annäherndem Stillstand zum geduldigen Schauen anregen und über die Erfahrung eines gedehnten Zeitempfindens verdichtete Erfahrungen von gelebter Zeit ermöglichen“ (2012: 96). In diesem früheren Kompilationsfilm übernimmt die lange Einstellung die Funktion der Standfotografie; in 24 FRAMES dagegen kehrt sich das Verfahren um, indem aus der Fotografie gedehnte Zeit entwickelt wird. Der Effekt ist jedoch ähnlich, denn jede kleinste Veränderung, zum Beispiel wenn sich Tiere wie die schlafenden Hunde im Kurzfilm 3 in FIVE oder die schlafende Kuh in Frame 3, die man für tot halten könnte, zu bewegen beginnen, weckt auch die Betrachter*innen auf.
Dieses Aufschrecken der Zuschauenden ähnelt dem Auslösen einer somatischen Reaktion in der Homöopathie. Es ist auch der Funktion von Roland Barthes‘ berühmtem punctum in seiner Studie Die helle Kammer sehr ähnlich. Das Punktum erinnert Betrachter*innen an ein Leben jenseits des begrenzten Suchers der Kamera: „Das punctum ist mithin eine Art von subtilem Abseits, als führe das Bild das Verlangen über das hinaus, was es erkennen läßt [. . . ] der PHOTOGRAPH hat den richtigen Augenblick erfaßt, den kairos des Verlangens.” (1985: 68, 70). Was Berger bezüglich Sammallahti beobachtete, gilt auch für Kiarostami, indem das Tier ihm den Weg zum richtigen Augenblick weist: „In dem einen Moment und mit ihrer Mischung aus Bewegung und Bewegungslosigkeit drängt mich die Krähe, den Auslöser zu drücken. Es ist, als ob mir die Krähe Anweisungen gibt und sagt: ‚Ich bewege mich zwischen den Bäumen, und wann immer du das Gefühl hast, drückst du auf den Auslöser.‘“ (2009: 20; Zitat übersetzt von AHC) Ebenso lässt die minimale pointillistische Animation in 24 FRAMES den Moment, der einem Flügelschlag, dem leisen Wellengang oder herabfallenden Schneeflocke gehört, intensiver erscheinen. Kiarostami verweist auf eine lebendige Resonanz über den Moment, über das Flüchtige hinaus.
Das ruhige, langsame Kino Kiarostamis stellt auch die Zurückhaltung, ja Auslöschung der Menschheit, einschließlich ihres Bilderexzesses, in Aussicht. In fast allen Frames ist eine Umwelt dargestellt, die eher nicht mit Menschen geteilt wird, in der Menschen ihre Selbstherrlichkeit verlieren. David Deamer schreibt über FIVE, dass durch die Abwesenheit menschlicher Figuren „jegliche direkte Wechselbeziehung zwischen Filmwelt und Zuschauer*in unterbrochen ist“ (2018: 252; Zitat übersetzt von AHC). Der Filmwissenschaftler und Experte für das iranische Kino Hamid Naficy stellt fest, dass Kiarostami Subjektivität nicht durch Point-of-View-Shot/subjektive Kamera oder Schuss/Gegenschuss herstellt (2012: 191-92); die völlige Abwesenheit dieser Techniken ermöglicht uns im Rahmen von 24 FRAMES eine kurzzeitige Befreiung von menschlichem Exzeptionalismus oder Anspruch. Und doch täuscht diese Befreiung: Das plötzliche Eindringen des Menschen in Frames 5 und 13 (das abgefeuerte Gewehr) sowie 23 (die aufheulende Kettensäge) zieht den Tod tierischen und pflanzlichen Lebens nach sich. So sehr Kiarostami eine Fotografie auch animiert und zum Leben erweckt – der unmittelbare Gewehrschuss oder das vorbeikommende Fahrzeug (Frame 14) zerstört Leben. Hat sich die Bedrohung einmal gezeigt, durchzieht die Gefährdung der Tiere unheilvoll jeden Frame, selbst wenn darin kein Mensch anwesend ist. Die Jäger, die gleich am Anfang zu sehen sind, lauern im gesamten Film, auch im Angesicht der Hauskatze, die in Frame 18 Vögel tötet.
Kiarostamis unbewegte Kamera wirft verschiedene Fragen auf. Vor allem Jean-Luc Nancy argumentiert, dass die Protagonist*innen „nicht wirklich im Off sind: Es gibt keine Filme, die weniger dazu neigen, die Leinwand oder das Bildfeld zu verlassen, als Kiarostamis Filme“ (2001: 5; Zitat übersetzt von AHC). Auch wenn sich Kiarostami tatsächlich auf die unmittelbare Welt vor seiner Linse fokussiert, gehört in 24 FRAMES das kreatürliche Leben zu dieser Welt im Off: Die Tiere bewohnen deren Weite und sind mit ihr im Dialog; der Off-Space macht demütig, denn er erinnert die Betrachterin oder den Betrachter an menschliche blinde Flecke. Kiarostami selbst formuliert es in einem Interview mit Nancy so: „Filme, die auf ein Jenseits verweisen …, sind kreativer und aufrichtiger.“ (2001: 20; Zitat übersetzt von AHC). Laut Berswordt-Wallrabe „strukturieren Bäume, Stromleitungen oder Zaunpfähle die Bildebene, oft in rhythmisch-seriellen Anordnungen, die sich über die Bildgrenzen hinweg in Richtung auf ein weiterreichendes Kontinuum fortdenken lassen” (2012: 95).
Frames 7 und 8 stehen beispielhaft für die Gestaltung dieser seriellen Bildräume, die sich über den gegebenen Rahmen hinaus erstrecken. In beiden Frames trennt eine Balustrade (schmiedeeisern in Frame 7 und steinern Frame 8) die See vom Vordergrund. Die Serialität der schön gearbeiteten Geländer, die die horizontalen Linien von Meer und Himmel unterstreichen, stellt eine Symmetrie der Beziehungen her, ähnlich wie die Fensterstrukturen in Frames 6, 12 und 24 [Abb. 4]. Die bewusste Komposition vermittelt ein Gefühl von Balance und Schönheit, eine „Verteilungsgerechtigkeit“, die für Elaine Scary die Kunst mit der Ethik verbindet (1990: 95-97) und ein meditatives „Unselfing“ fördert (113), ein Von-sich-Absehen. Da Kiarostami die symmetrischen Anordnungen (betont durch ein gedehntes Zeitempfinden, das bei der Struktur verweilt) mit der Dynamik natürlichen Lebens durchwebt, kann auch er die Kunst mit einer Spielart von „Verteilungsgerechtigkeit“ verbinden, nämlich dem Staunen vor Naturszenen und der Sehnsucht nach einer reinen Umwelt.
Entsprechend ließe sich argumentieren, dass Kiarostami mit dem ästhetischen Programm der Supertotalen, bei der der erweiterte Vordergrund zu verschwinden scheint, was den Eindruck von Verflachung und Zweidimensionalität erzeugt, seinen Respekt vor dem selbstsicheren Umgang der Tiere mit ihrem eigenen Lebensraum zum Ausdruck bringt. Das durch die lange Einstellung bewirkte Verweilen in der Natur und die entschiedene Kameradistanz lassen an Jean-Luc Nancys Bemerkung über Gerechtigkeit und égard in Kiarostamis Filmen denken: „die Evidenz dessen, was sich zeigt, wenn man denn genau hinschaut, … dessen, was sich einer Sicht (Weltsichten, Darstellungen, Vorstellungen) eben gerade widersetzt“ (2001: 18). Die Silhouette des Vogels in Frame 12 erinnert daran, dass seine Umwelt weiter zu fassen ist, als es das Auge sehen kann, sie entzieht sich einer prüfenden oder wissenschaftlichen Untersuchung. Kiarostami lädt die Betrachtenden ein, den Blick ruhen zu lassen, sich auf das entfernte oder nur in Umrissen zu sehende Objekt einzulassen, anstatt es aus der Nähe zu hinterfragen. Auch die verzerrten Bilder der Kuh in Frame 3 untergraben eine optische Bildbeherrschung und somit eine Anthropomorphisierung [Abb. 5]. Ein auf diese Weise eingeschränkter, doch gelöster Blick eröffnet paradoxerweise eine andere Innenansicht, einen Einblick in das Kommen und Gehen der Tiere, wenn nicht gar in ihr Innenleben, insofern als menschliche Eingriffe außer Kraft gesetzt sind. Die Natur ist nicht bloß eine Kulisse für handelnde Menschen im Vordergrund, sondern die Landschaft wird autonom, „ein von Ereignishaftigkeit befreiter Raum“, wie Martin Lefebvre es ausdrückt (2006: 22; Zitat übersetzt von AHC). Als Ereignishaftigkeit bliebe lediglich die Indexikalität der Tierspuren im Schnee. Das bedeutet, dass das Abstrakte, Gegenstandslose in den Bildern Kiarostamis, das durch die innere Symmetrie noch verstärkt wird, weniger in einem Spannungsverhältnis zu den gefilmten Tieren (das figürliche Element) steht, als vielmehr für ein Nichteingreifen und die stille Betrachtung eintritt. Die Tiere treten nicht in eine Beziehung zur Kamera; sie sind keine Darsteller, und es gibt auch keine Choreographie.
Der nicht vorhandene allwissende Kommentar einer Off-Stimme stützt den minimalistischen Ansatz bei der Darstellung von Tieren ebenfalls. Das schwarz-weiße Bildmaterial, sowohl die Stille, die der Animation vorausgeht, sind weitere Indizien Kiarostamis melancholischer Getrenntheit von der Natur. Er zeigt bloße Spuren vergangenen Tierlebens, gesammelte und kuratierte Überreste. Kiarostami steht hier im Gegensatz zu Walter Benjamin in seinem Essay Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen aus dem Jahr 1916. Gemäß Benjamin ist es die Natur, die melancholisch ist, weil sie sich in der Bezeichnung durch menschliche Sprache unverstanden fühlt. Wird etwas falsch benannt, ist es nicht wahrhaftig erkennbar. Die Natur erkennt, dass es sinnlos wäre, sich an dieser Sprache zu beteiligen, einer Sprache, die sich in unnötiger, überflüssiger und unverhältnismäßiger Überbenennung (1977: 155) verliere. Die Natur dagegen ist bewusst schweigsam, als ob sie sich in ihr trauriges Schicksal gefügt hätte. Kiarostamis minimalistische Filme vermeiden eine solche Überbenennung. Jedoch bedeutet das stille Schweigen der Tiere hier nicht Mangel, Resignation oder Niedergeschlagenheit, sondern macht ebenso stärker auf die Anmut ihres Körpers, ihr Sein und Hiersein aufmerksam. Jean Baudrillard formulierte es durchaus scharf: „In einer Welt, die auf nichts anderes aus ist, als uns zum Sprechen zu bringen, in einer Welt, die sich unter die Herrschaft der Zeichen und Diskurse stellt, lastet das Schweigen [der Tiere] immer schwerer auf unserer Organisation von Bedeutung. […] Nie sprechen sie wirklich, sie liefern nur die Antworten, die von ihnen verlangt werden. Es ist ihre Art, die Menschen in ihre zirkulären Codes zurückzuverweisen, hinter denen ihr Schweigen uns analysiert" (1994: 137-38; Zitat übersetzt von AHC). Kiarostamis Ästhetik des Unverfälschten regt zum Zuhören an, zur Witterung, aufmerksam wie ein Hirsch im Wald. Kommt Musik hinzu wie in Frames 2, 6, 12 und 24 (die alle mit dem durch das Fenster im Vordergrund geschaffenen Innenraum assoziiert sind), weist der überzogene Tango oder die opernhafte Stimme (Schubert, Puccini, Andrew Lloyd Webber) auf eine Überbenennung hin, die in einem Missverhältnis zur Ruhe der Tiere stehen.
Kiarostamis Leidenschaft für Symmetrie und Minimalismus wirft jedoch auch Fragen auf. Lässt die in der gedehnten Zeit entstehende Langeweile das Engagement für die Umwelt sinken? In der Kunst müsse sich der Minimalismus, so Frances Colpitt in Minimal Art (1990: 116-20), dem Vorwurf der Langeweile stellen. Des Weiteren ließe sich einwenden, dass Kiarostamis computergenerierte Bilder gar nicht minimalistisch sind. Sind die Landschaften wirklich „von Ereignishaftigkeit befreit“ (Lefebvre 2006: 22), wie weiter oben angenommen? Oder ärgert Kiarostami das Publikum damit, dass er es darauf warten lässt, was als Nächstes animiert wird? Steht die Manipulation für einen ausbeuterischen Blick, der gegen die Panorama-Standaufnahme anarbeitet? Die Annahme, es gebe für die Tiere keine Choreographie, ist aus diesem Blickwinkel heraus fraglich. Es wirkt so, als ob die computergestützte Bilderzeugung (CGI) zu viel an Aktion, unerwünschter Wiederholung und Theatralität einbringt, was in das beharrliche Geklapper des Raben und die Operneinlagen übergeht und in einem deutlichen Kontrast zur Stille von Kamera und Ton in der Hunde-Episode in FIVE steht. Das Flimmern der fallenden Schneeflocken belebt in sanfter Form viele Szenen, doch es kann auch übertrieben erscheinen. Das Bewusstsein von Unwirklichkeit und dem unheimlichen Tal kann einer schlichten, meditativen Kamera entgegenarbeiten.
Allein der Einsatz von Computergrafik führt zu übergreifenderen Fragen: Ist es für eine affektive Anteilnahme von Bedeutung, ob die gezeigte Welt ‚authentisch‘ ist? Ist die computergenerierte Welt die gleiche wie die nichtfilmische Welt, auf die sie sich bezieht? Was folgt aus der gattungsmäßigen Darstellung von Landschaften oder der Darstellung einer begrenzten Auswahl an Tierarten? Beteiligt Kiarostami sich damit an einer Reduzierung der natürlichen Umwelt auf digitale Zeichen? Wo liegen die Spannungen zwischen Illusionismus und der natürlichen Anmut von Lebewesen? Untergräbt Kiarostamis Manipulation den ontologischen Vorrang von Tier und Pflanze? Wie kann eine solche virtuelle Bearbeitung in dem Fall ein Grünes Naturkino darstellen? Inwiefern kann die technische Prothese vorgeben, das wahre Leben abzubilden – oder soll gerade die Unbeholfenheit auf eine Welt jenseits menschlicher Erkenntnis hindeuten? Wie weit sind wir heute noch in der Lage, die Erde zu sehen – ohne den Zugang, den Digitaltechnologien bieten?
Von einem weniger skeptischen Standpunkt aus würde die Antwort lauten: Ja, es ist möglich, auch ohne die inzwischen allgegenwärtigen panoptischen Drohnen und Satellitenbilder, die im Dokumentarfilm Größe simulieren. Kiarostamis sorgfältige Kuratierung vermittelt paradoxerweise eine Botschaft von Freiheit, von einer nicht geschlossenen Welt, die sich aber nicht im Erhabenen ergeht. Seine Vision von einem Grünen Kino schenkt dem ‚unbedeutenden‘ Leben Aufmerksamkeit, indem es fragt: „Wie kann ich einen Film machen, in dem nichts gesagt wird?“ (Interview mit Nancy 2001: 84; Zitat übersetzt von AHC). Damit scheint Kiarostami jeden imperialen, territorialen Anspruch auf die Landschaft – und folglich den Naturfilm als zeitgenössische Version der kolonialen Eroberung exotischer Orte – zurückzuweisen. Darüber hinaus ließe sich argumentieren, dass 24 FRAMES durch das Recyceln von Bildern CO2-neutral ist. Zur Nachhaltigkeit gehört, dass der Film nicht nur einer äußerst minimalistischen Ästhetik folgt, sondern durch die Beschränkung auf nur 24 Einzelbilder, die maßvoll computergestützt erweitert werden, auch minimalistisch produziert wurde. Wie die homöopathische Tinktur führt diese minimalistische, wohlkalkulierte Destillation, die einen geringstmöglichen Abdruck hinterlässt, zu einer weitreichenden, eher ‚geistigen‘ Wirkung. Die erlösende nichtinvasive Annäherung an die Natur hat eine heilsame Wirkung auf Augen, die von visueller Überbelastung erschöpft sind; Kiarostami heilt – und schult dabei das Sehen neu. Beim Einsatz digitaler Medien erzielt er kleinstmögliche Effekte durch minimale Veränderungen, zum Zweck der leichten Irritation. Insofern entsteht durch diese bewusste Kunst also Natur. Wenn auch der Mensch niemals einen unmittelbaren Zugang zu einer unberührten Landschaft oder zur inneren Tierwelt haben wird, vermittelt uns Kiarostami, dass eine technologisierte Sichtweise nicht mit der Erde in Konflikt geraten muss, wenn sie in homöopathischer Dosierung angewandt wird.
Das letzte Segment, Frame 24, passt in die Zeit der Covid-Pandemie [Abb. 6]. Während sich draußen die Bäume majestätisch im Wind bewegen, rührt sich eine Frau kaum, wobei ihr Kopf auf dem Tisch vor einem Computerbildschirm liegt, auf dem die letzten Bilder aus dem Film DIE BESTEN JAHRE UNSERES LEBENS (R: William Wyler, USA 1946) zu sehen sind. Zu hören ist beim Übergang zum Abspann Andrew Lloyd Webbers Song Love Lives On. Wenn wir von zu Hause arbeiten, vor dem Bildschirm einschlafen, im Stillstand, weitgehend eingeschlossen in Innenräumen, ruft 24 FRAMES uns wach und erinnert daran, dass draußen vor dem Computerbildschirm und dem Fenster das Leben pulsiert. Sich die Welt vorzustellen und sie zu erleben, muss keine Reisen mit hohen CO2-Emissionen nach sich ziehen, wie Kiarostami in seinen späteren Jahren klar war. Franz Kafka formulierte es so: „Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.“ (2006)
Übersetzung des Textes und der Original-Zitate von Anna Hildegard Czinczoll.
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