Film und Naturschönheit
Die Erfahrung von Schönheit ist eine zentrale Attraktion des Kinos, und seit seinen Anfängen hat das Kino die Quellen dieses ästhetischen Vergnügens auch in der Natur gesucht. Das ist bis heute nicht anders: Die Erfahrung medialer Formen des Naturschönen fasziniert Zuschauer*innen vom Mainstream-Film zum Kunstkino, vom Experimentalfilm zur Natur-Doku, vom YouTube-Video zum TikTok-Post. Erstaunlicherweise spielt das Naturschöne in der Filmwissenschaft jedoch kaum eine Rolle (dasselbe gilt für Schönheit im Allgemeinen, siehe Hanich 2023). „There is a vast literature on montage, language, the human face, the city, sound and silence, fiction and truth in film, but almost nothing on natural beauty“, stellte P. Adams Sitney bereits vor 30 Jahren fest (1993: 103). An diesem Befund hat sich nicht viel geändert: Trotz eines spürbaren Interesses der Filmwissenschaft am poetischen Kino, an der (Neo-)Romantik im Film, am eco-cinema und der Verflechtung von Landschaft und Film geht so gut wie leer aus, wer sich eine systematische Erforschung der Art und Weise wünscht, wie Zuschauer*innen schöne Natur im Film erleben. Dies möchte ich in diesem Aufsatz zumindest ansatzweise korrigieren – auch um einer weit verbreiteten Skepsis gegenüber dem (Natur-)Schönen in der aktuellen Film- und Medientheorie entgegenzutreten.1
Aber um falsche Hoffnungen zu vermeiden, scheint es zunächst sinnvoll zu sagen, was von diesem Aufsatz nicht zu erwarten ist. Erstens werde ich keine befriedigende Beschreibung vorlegen können, wie schöne Natur im Film aussieht; ich gehe schlicht davon aus, dass jede*r eigene Beispiele im Hinterkopf hat. Manche Zuschauer*innen haben eine Vorliebe für Bilder der untergehenden Sonne vor dem Hintergrund eines ruhigen, majestätischen Ozeans; andere bevorzugen Darstellungen von Schwärmen durch die Luft schwirrender Schwalben. Andere Betrachter*innen ziehen idyllische Strände am anderen Ende der Welt vor oder Impalas, die elegant durch die Savanne schreiten. Wiederum andere bevorzugen Szenen von üppigen Gärten in einer ruhenden Landschaft oder, wie der junge Kant vorschlug, „die Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Täler mit schlängelnden Bächen, bedeckt von weidenden Herden“ (1764: o.S.). Für mich persönlich – und das wird das Leitmotiv im Folgenden sein – verkörpert sich das Naturschöne am deutlichsten im sanften Rauschen des Windes. Ich bin oft hingerissen von Filmbildern, in denen der Wind über Grasblätter und Weizenfelder streicht; Bildern, in denen der Wind warm gegen einen Fenstervorhang weht und Herbstblätter zart durch die Luft wirbelt; Bildern, in denen eine leichte Brise einen Teich kräuselt oder der Wind verstreute Wolken langsam über den tiefblauen Himmel schiebt. Letztendlich ist es jedoch nicht entscheidend, was ich persönlich als schön empfinde – der Wind in den Bäumen dient mir lediglich als hilfreiches Motiv, aus Gründen, die noch zu erläutern sind.
Darüber hinaus werde ich keine befriedigende Definition des Begriffs ‚Natur‘ geben können. Das war schon immer schwierig (siehe dazu auch Malcolm Budds The Aesthetic Appreciation of Nature [2002]). Doch mit der Einführung von Konzepten wie dem Anthropozän, dem Kapitalozän oder dem Chthuluzän und der Annahme, dass es keine unberührte Natur mehr gibt, ist es noch schwerer geworden, Natur von Kultur zu trennen. Vielleicht genügt es zu sagen, dass uns einige Dinge, wie das sanfte Rauschen des Windes, natürlicher als andere erscheinen. Oder, um es noch zugespitzter auszudrücken, nicht-menschliche Natur tritt dann am stärksten hervor, wenn der menschliche Einfluss am wenigsten spürbar ist oder wenn die Natur sich dem widersetzt, was vom Menschen gemacht ist. Diese Perspektive würde es uns erlauben, einen Blick auf die Natur zu werfen, der nicht nur Landschaften und Tiere umfasst. So gehört für den Philosophen Ronald Moore zur Naturschönheit auch „the cloud outside the office window, the moss in pavement cracks, the play of light on rain-soaked cobbles in the street, and the pattern of dust on puddles in a rutted playground“ (2008: 13).
Schließlich möchte ich mich auch nicht auf die Debatte darüber einlassen, inwieweit man die Erfahrung des Naturschönen im Film mit zeitgenössischen Debatten über eco-cinema, Ökokritik und eine ökologisch fortschrittliche Ästhetik zusammendenken könnte. Das ist ein Punkt, auf den ich in einem späteren Aufsatz zurückkommen möchte. Was ich jedoch vorwegnehmen kann, ist mein sanfter Optimismus: Naturschönheit im Film kann unter bestimmten Umständen einen positiven Beitrag zu diesen Debatten leisten.
Stattdessen möchte ich Folgendes tun: Zunächst werde ich das Motiv des sanft rauschenden Windes einführen und auf seinen festverankerten Platz in der Geschichte der Filmtheorie verweisen, ein Aspekt, der dieses Motiv für eine Erörterung des Naturschönen im Film besonders reizvoll macht. Dabei werde ich auch eine kurze Phänomenologie medial vermittelter Naturschönheit anklingen lassen – eine Phänomenologie, die man als gemäßigten Kantianismus bezeichnen könnte, modifiziert unter anderem durch Freud, Ethel Puffer, Elaine Scarry, Iris Murdoch und Hartmut Rosa. Im letzten Teil werde ich in Anlehnung an Martin Seels Eine Ästhetik der Natur drei Modi vorschlagen, in denen dieses Motiv im Film erfahrbar wird. Letztlich verfolge ich dabei zwei miteinander verwobene Ziele: Einerseits möchte ich den weitverbreiteten filmtheoretischen Diskurs über den Wind in den Blättern mit dem Naturschönen verknüpfen. Zum anderen nutze ich das Motiv des sanft rauschenden Windes, um etwas Allgemeines über die ästhetische Erfahrung von Naturschönheit im Film zu sagen.
Auch wenn das sanfte Rauschen des Windes kein zeitloses Motiv der Naturschönheit ist, so ist es doch sehr langlebig. Es findet sich in der romantischen Dichtung von Ludwig Uhland, Annette von Droste-Hülshoff und Joseph von Eichendorff. Man begegnet ihm in den realistischen Gemälden Adolph von Menzels sowie in der impressionistischen Kunst von Claude Monet und Auguste Renoir, aber auch in der figurativen Malerei von Edward Hopper, Andrew Wyeth oder Edward Cucuel aus dem 20. Jahrhundert. Harun Farocki hat es zuletzt auch in Computerspielen nachgewiesen, wo es als Objekt der Schönheit in der Welt des Spiels dient (siehe dazu seinen Essayfilm: PARALLEL I, D 2012). Doch wie P. Adams Sitney feststellt, hat insbesondere das Kino eine Gabe, winzige meteorologische Phänomene einzufangen: „the movement of clouds, changes in the intensity of light, the indication of breezes in the vibrations and swaying of flora, and the gradations of rain are natural events which cinema can render with nuances previously the exclusive domain of poetry“ (1993: 113).
Eben weil das Kino kleinste Bewegungen einfangen kann, hat es eine besondere Affinität zum Wind. Man könnte sogar behaupten, es gäbe eine Anemophilie im Kino, eine Liebe zum Wind, die in Spielfilmen, aber auch in Dokumentar-, Experimental- oder Essayfilmen zu finden ist (siehe Thomas 2016: 18).2
Ich denke dabei an Beispiele wie Terrence Malicks THE THIN RED LINE/DER SCHMALE GRAT (USA 1998) oder Hou Hsiao-Hsiens CÌKÈ NIÈ YǏNNIÁNG/THE ASSASSIN (CHINA 2015). Beide Filme sind durchdrungen von bezaubernd schönen Momenten sanft wehenden Windes. Tatsächlich könnte man die Handlung dieser Filme zusammenfassen, ohne den Wind mit einem Wort zu erwähnen – aber was wären sie ohne ihn? In meiner ganz persönlichen, eklektischen und transhistorischen Auswahl von Beispielen denke ich auch an die winddurchwogten Bäume am Ende von Michelangelo Antonionis L'ECLISSE/LIEBE 1962 (ITALIEN 1962), an das wiegende Gras in Bruce Baillies ALL MY LIFE (USA 1966), an die vom Winde verwehte Wiese in Andrej Tarkowskis ZERKALO/DER SPIEGEL (RUSSLAND 1975), an die Wellen auf einem Teich in Abbas Kiarostamis PANJ/ FIVE DEDICATED TO OZU (IRAN 2003), an die Brise in den tiefgrünen Bäumen in Hirokazu Kore-edas ARUITEMO, ARUITEMO/STILL WALKING (JAPAN 2008) oder an die wiederkehrenden Bilder von wogendem Getreide in der charmanten BBC-Serie THE DETECTORISTS (UK 2014–17).3
Wenn ich nun die Erfahrung dieser Szenen beschreiben müsste, was wäre hervorzuheben? Oder allgemeiner gefragt: Wie erlebe ich als Zuschauer das medial vermittelte Naturschöne, unabhängig vom spezifischen Motiv des Windes? Obwohl ich hier keine vollständig ausgearbeitete Phänomenologie vorlegen kann, könnte man die Erfahrung von Naturschönheit im Film vielleicht wie folgt charakterisieren. Zum einen bereitet das Betrachten des medial vermittelten Naturschönen Zuschauer*innen – ähnlich wie die Erfahrung ‚echter‘ Naturschönheit – Vergnügen. Es beruhigt und hebt zugleich für einen Moment die Stimmung; es ist anregend und erholsam zugleich (Puffer 1905, siehe auch Freeburg 1923: 69). Mit dieser positiven affektiven Valenz geht ein positives Werturteil einher: Etwas als schön zu erleben ist gleichbedeutend damit, es als schön zu bewerten (vgl. Menninghaus 2007: 8). Dennoch, und hier bin ich nah an der Kantischen Vorstellung von Interesselosigkeit, wecken schöne Bilder und Klänge kein starkes Verlangen. Mit dem Philosophen Crispin Sartwell könnte man besser von einer „transformation of desire into longing“ (2004: 61) sprechen, oder in Anlehnung an Denis Donoghue von einem virtuellen Schein des Verlangens (2004: 26). Dieses virtuelle Verlangen ähnelt dem bloßen Wunsch, mehr von der Schönheit zu sehen und zu hören, vielleicht in ihre Umgebung einzutauchen und dafür zu sorgen, dass dieses Bild schöner Natur bestehen bleibt. Wie Elaine Scarry zurecht hervorhebt: „the fact that something is perceived as beautiful is bound up with an urge to protect it, or act on its behalf “ (1999: 80). Die Erfahrung von Naturschönheit im Kino verändert damit die eigene Haltung gegenüber der Welt: „It is not that we cease to stand at the centre of the world, for we never stood there. It is that we cease to stand even at the centre of our own world. We willingly cede our ground to the thing that stands before us.” (Scarry 1999: 112)
Scarrys Konzept der Dezentrierung erinnert bewusst an Iris Murdochs Idee vom „unselfing“ (2014): Eine Erfahrung von Schönheit zu machen, bedeutet demnach, sich zu einem gewissen Grad selbst zu vergessen und sich dem Objekt der Schönheit hinzugeben; sowohl schöne Natur als auch schöne Kunst laden zu einer „unpossessive contemplation“ ein und führen zu einer nicht-narzisstischen Haltung (Scarry 1999: 83). Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass das Schöne ein Gefühl der Demut hervorrufen kann, das Menschen von der Beschäftigung mit sich selbst ablenkt: Es beinhaltet ein Anerkennen dessen, dass etwas anderes schöner ist als das, was diese Menschen gerade umgibt, als das was deren Welt im Moment bestimmt. Im Extremfall bedeutet es das Eingeständnis, dass ein anderer Ort schöner ist als der Ort, der den jeweiligen Menschen ausmacht. Deshalb spricht man oft davon, dass ein besonders schönes Naturobjekt einem ‚den Atem rauben‘ oder ‚sprachlos machen‘ kann. Das ist nicht zu verwechseln mit der Erfahrung des Erhabenen, denn das Schöne beherrscht nicht und schüchtert nicht ein. In dieser Hinsicht ist das Schöne eine sehr viel egalitärere Kategorie: Ich blicke weder auf das Objekt herab (wie im Fall des Niedlichen oder Hübschen), noch schaue ich ehrfürchtig zu ihm auf (wie im Fall des Erhabenen mit seinen Andeutungen des Schrecklichen, Unendlichen und Unsagbaren).
Gleichzeitig, und das ist ein weiterer Aspekt, der das Schöne vom Niedlichen und Hübschen unterscheidet, kann seine ästhetische Erfahrung von Trauer und einem elegischen Sinn für das Transitorische geprägt sein – Freud sprach deshalb von der „Vergänglichkeit des Schönen“ (1915: o.S.).4 Im Kino ist diese Vergänglichkeit besonders ausgeprägt, da man stets weiß, dass das, was man gerade erlebt, nicht ewig währen und die Szene eher früher als später zu Ende sein wird: Der Moment – Goethes ,schöner Augenblick‘ – wird verschwinden wie das langsam verblassende, auf einen beschlagenen Spiegel gezeichnete Gesicht. Ebenso kann der Film als materieller Träger des Schönen vergehen und das Naturschöne als Gegenstand der Darstellung verwelken oder zerstört werden. Für Hartmut Rosa ist die Erfahrung von Schönheit daher durch beides gekennzeichnet: ein „reales Glück“ über eine momentan gelingende, voll resonante Beziehung zur Welt, und ein „Schein“, der Trauer und Sehnsucht hervorruft, weil diese Beziehung zur Welt kein stabiler Teil unserer alltäglichen, gelebten Erfahrung ist (2019: 482-3).
Nicht zuletzt wecken Beispiele von Schönheit die Hoffnung – gar die Erwartung – dass andere mein Urteil teilen und zu Mitgliedern eines ‚sensus communis‘ werden. Und hier muss nicht lange suchen, wer diese Erwartung bestätigt finden will: Am berühmten Ende des Vorworts zu seiner Theorie des Films beschreibt Siegfried Kracauer einen epiphanischen Moment – einen Moment, der sein Leben für immer veränderte.
Ich war noch sehr jung, als ich meinen ersten Film sah. Der Eindruck, den er in mir hinterließ, muß berauschend gewesen sein, denn ich beschloß dann und dort, meine Erfahrung zu Papier zu bringen. […] Was mich so tief bewegte, war eine gewöhnliche Vorstadtstraße, gefüllt mit Lichtern und Schatten, die sie transfigurierten. Einige Bäume standen umher, und im Vordergrund war eine Pfütze, in der sich unsichtbare Hausfassaden und ein Stück Himmel spiegelten. Dann störte eine Brise die Schatten auf, und die Fassaden mit dem Himmel darunter begannen zu schwanken. Die zitternde Oberwelt in der schmutzigen Pfütze – dieses Bild hat mich niemals verlassen. (1960/1985: 14)
Obwohl der berauschte, staunende, begeisterte Kracauer den Begriff selbst nicht verwendet, ist diese Passage vor allem eines: eine schöne Beschreibung der Erfahrung von Naturschönheit im Film. Aber ist sie nicht auch ein gelungener Verweis auf das, was Elaine Scarry als das Werben des Schönen beschreibt, reproduziert zu werden (1999: 3)? Kracauer fühlte sich nicht nur gezwungen, seine Erfahrung von Schönheit zu wiederholen, indem er Schriftsteller wurde, sondern er hat sie auch in schöner Prosa reproduziert.5
Kracauers Zitat kann aber auch als Beispiel für die vielen Spuren dienen, die das Motiv des Windes in der Geschichte der Filmtheorie hinterlassen hat: Von Anfang an haben Filmemacher, Kritiker und Wissenschaftler eine Verbindung zwischen dem Motiv und dem Kino als Attraktion, als indexikalischem Dokument, als Form der Kunst hergestellt. In jüngster Zeit wurde es von Filmwissenschaftler*innen wie Lesley Stern (2001), Christian Keathley (2006), Nico Baumbach (2009), Daniel Fairfax (2018) und Jordan Schonig (2018) aufgegriffen, die dabei jedoch den Zusammenhang zwischen dem sanft rauschenden Wind und der Naturschönheit im Kino übergingen. Eine bedeutende Ausnahme ist das inzwischen häufig zitierte Interview, das letzte vor seinem Tod, in dem D.W. Griffith enttäuscht feststellt: „What the modern movie lacks is beauty – the beauty of moving wind in the trees, the little movement in a beautiful blowing on the blossoms in the trees “ (zitiert in Fairfax 2018: 74).6
Natürlich steht der rauschende Wind in den Bäumen nicht immer im Mittelpunkt des Films – und er muss es auch nicht, um eine Erfahrung des Naturschönen zu ermöglichen. So gibt es einerseits Filme, die über einen längeren Zeitraum das Naturschöne so deutlich ins Visier nehmen, dass ihr Ziel nur sein kann, eine Erfahrung von Schönheit hervorzurufen (in diesem Zusammenhang könnte man von intendierter Naturschönheit sprechen). In anderen Fällen jedoch blitzt die Schönheit der Natur nur kurz auf und bleibt lediglich ein Hintergrunddetail (hier wäre vielleicht der Begriff der zufälligen Naturschönheit angebracht). In letzteren Fällen könnte man, inspiriert von Martin Lefebvre (2006: 46), noch eine weitere Ebene unterscheiden: Lasse ich das zufällige Detail durch meine eigene Fokusverschiebung aktiv hervortreten und erhebe es so von einem marginalen Status im Bild zu einem momentanen vollwertigen Zentrum der Aufmerksamkeit? Oder springt mich ein schönes Detail wie eine Art Barthes’sches punctum an und überrascht mich passiv (Barthes 1989)?
Ein Beispiel für intendierte Schönheit findet sich im Berliner-Schule-Film FERIEN (DEUTSCHLAND 2007): Regisseur Thomas Arslan zeigt darin für einige Sekunden ostentativ eine Reihe von Waldbäumen, die sich sanft im brandenburgischen Sommerwind bewegen (siehe hierzu auch: Nessel 2007). Diese Einstellung ist herausgelöst aus dem narrativen Geschehen, und es ist der Regisseur, der das Rauschen des Windes als ästhetisches Objekt der Schönheit für das Publikum in den Vordergrund stellt. In anderen Einstellungen hingegen ist das Rauschen des Windes Teil einer Bildkomposition mit Figuren, deren Handlungen eigentlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen sollten – aber es ist der sanft-schöne Wind, der die Wahrnehmung, wie zufällig, anzuziehen beginnt. In Terrence Malicks DAYS OF HEAVEN/IN DER GLUT DES SÜDENS (USA 1978) zum Beispiel sieht man Richard Gere im Mittelgrund durch ein regelrechtes Weizenmeer gehen, während sich im Vordergrund ein sonnenbeschienenes Feld sanft im Wind bewegt. Ähnlich in Achim von Borries' WAS NÜTZT DIE LIEBE IN GEDANKEN (DEUTSCHLAND 2004): Hier stehen die beiden Protagonisten (gespielt von Daniel Brühl und August Diehl) an einem lauen Sommermorgen im sonnendurchfluteten Lesesaal eines Landhauses und unterhalten sich, während links im Bild ein Vorhang sanft vom Wind bewegt wird. In beiden Fällen kann man sich problemlos Zuschauer*innen denken, die beim Betrachten ihren Fokus aktiv auf den Wind richten. In Philippe Parrenos langsamem, elegischem, nicht-narrativem Kurzfilm JUNE 8, 1968 (FRANKREICH 2009) hingegen werden sich viele Zuschauer*innen zunächst vermutlich auf die Menschen konzentrieren, die neben den Gleisen stehen und auf den vorbeifahrenden Zug mit dem toten Robert F. Kennedy schauen (Abb. 2). Aber die schönen, sanften Bewegungen der Pflanzen im Wind können, zusammen mit dem blauen kalifornischen Himmel, von den Rändern her einen so starken Sog ausüben, dass die Aufmerksamkeit schließlich anders verteilt und dabei eine (melancholische) Form von Schönheit geschaffen wird.
Wenn Zuschauer*innen ihre Aufmerksamkeit aktiv auf den Wind lenken – oder sich passiv von ihm ergreifen lassen – und somit die Schönheit des Geschehens betrachten, tun sie natürlich genau das, was Georges Méliès und das frühe Publikum einst taten, als sie sich auf die sich bewegenden Blätter im Hintergrund des Lumière-Films LE REPAS DE BÉBÉ (FRANKREICH 1895) konzentrierten, anstatt auf Auguste Lumières Baby im Vordergrund: Sie befreien die Schönheit des Windes in den Bäumen gewissermaßen aus ihrer narrativen Gefangenschaft.7
Aber damit niemand glaubt, ich würde einer kruden Transparenztheorie anhängen: Wenn ich die Natur im Film wahrnehme, sehe ich die Natur natürlich in erster Linie durch den Film. Meine Wahrnehmung von Naturschönheit im Film ist immer eine doppelte: Ich sehe den Inhalt dessen, was in der filmischen Welt gezeigt wird, aber ich vergesse dabei nie, dass der Film die Welt für mich vermittelt und dabei filmische Merkmale wie Aufnahmegröße, Kamerabewegung, Schnitt, Musik und so weiter eine Rolle spielen.8 Damit will ich nun aber nicht behaupten, dass ich mich immer gleichermaßen oder sogar überwiegend auf die Tatsache konzentriere, dass der Film die Natur vermittelt und wie er dies tut – tatsächlich setzt meine Erfahrung von Naturschönheit als Naturschönheit einen Fokus auf die Welt im Film voraus. Aber mein Zugang zum Naturschönen im Film ist eben niemals transparent; ich bleibe mir immer bewusst, dass sie gerahmt, komponiert, distanziert ist.
Am Anfang seines Buches Natural Beauty: A Theory of Aesthetics Beyond the Arts schreibt Ronald Moore: „In one sense, natural beauty is perfectly familiar and unremarkable. It’s the robin on our grass in the morning, the break of the waves along the shore, the rustle of the wind in the maple. It’s just there – obvious, right at hand, and readily apprehended. And yet, in another sense, it’s mysterious.” (2008: 7). Um mehr Licht in das Mysteriöse des Naturschönen zu bringen, ziehe ich nun ein weiteres bahnbrechendes Buch der philosophischen Ästhetik heran: Martin Seels Eine Ästhetik der Natur, ein Buch, das Seel selbst als eine „profane Apologie des Naturschönen“ (1991: 9) bezeichnet. Aufbauend auf Erkenntnissen, die Seel aus der direkten Interaktion mit der Natur gewonnen hat, werde ich eine heuristische Unterscheidung dreier Modi einführen, wie man das Naturschöne durch den Film vermittelt erleben kann: Kontemplation, Einladung und Imagination. Aber wie bei allen mentalen Dingen liegen zwischen diesen Erfahrungsmodi keine Welten – sie können abrupt alternieren oder ineinander übergehen; und ich kann sie aktiv wechseln oder mich passiv in sie hineinziehen lassen.
Wenn ich Naturschönheit in einem kontemplativen Modus wahrnehme, konzentriere ich mich auf ihre unzähligen phänomenalen Erscheinungsweisen – und nichts anderes. Ich nehme die sich verändernden Erscheinungen der Natur zu einem bestimmten Zeitpunkt und für eine bestimmte Zeit wahr, ohne den Einfluss instrumenteller, theoretischer oder kognitiver Interessen (Seel 1991: 40). Für Seel besteht der Clou der kontemplativen Erfahrung genau darin: Ich begegne den Dingen des Lebens ohne die Interessen dieses Lebens (Ebd.: 58). In diesem speziellen technischen Sinn ist es ein interesseloses Wohlgefallen, wie Kant es definiert hat. Dies impliziert aber auch, dass ich nicht hermeneutisch nach Bedeutung suche: Die Natur wird nicht als Symbol oder Zeichen betrachtet, das für etwas anderes steht (Seel 1991: 39). Dabei liegt es nahe, dass bestimmte filmische Formen eher zum Betrachten des Naturschönen einladen als andere: Die langen Einstellungen des so genannten slow cinema, eco-cinema oder meditativen Films mit ihrer offeneren Dauer sind besser geeignet, uns eine kontemplative Haltung einnehmen zu lassen als ein schnellgeschnittener Kommerzfilm (siehe De Lucas und Barradas Jorge 2015; MacDonald 2012; und Taberham 2018).
Nach Seel öffnen sich Objekte des Naturschönen leichter der Kontemplation als von Menschenhand geschaffene Artefakte, weil sie mich unmittelbarer mit ihrer eigenen Sinnlichkeit konfrontieren als Objekte, die zu einem bestimmten Zweck und mit einer bestimmten Funktion im Hinterkopf hergestellt wurden. In letzteren Fällen muss ich mich erst aktiv von der Wahrnehmung ihrer Funktion lösen, bevor ich für ihre individuelle Erscheinung empfänglich werde (Seel 1992: 66). Darüber hinaus ist die Natur anfälliger für momentane und unvorhergesehene Veränderungen der Erscheinung. Und hier kommt nun wieder der sanft rauschende Wind ins Spiel: Er bietet mir als natürliches Objekt vielfältige Möglichkeiten zur Kontemplation (siehe auch Schonig 2018). Hier könnte man noch einmal an die Aufnahmen windbewegter Bäume in Arslans FERIEN denken: Sie ermöglichen es, den Fokus von der Funktion dieser Bilder und ihrer Bedeutung abzuziehen; stattdessen laden sie dazu ein, die Art und Weise ihres Erscheinens zu betrachten – die Bewegungen der Bäume während sie sich im Wind wiegen. In den treffenden Worten der Kunsthistorikerin Barbara Baert ausgedrückt: „Wind joins, flows, links, changes direction – in short, the wind is capricious“ (2013: o.S.). Obwohl der Wind selbst unsichtbar ist, kann der Film jene subtilen Bewegungen sichtbar und hörbar machen, die der Designer Malte Wagenfeld empirisch untersucht hat:
leaves on one branch flutter while those on an adjacent branch remain still. The relationship among the moving leaves constantly changes at random intervals – sometimes all move, then all is still, revealing the air’s movement as both temporal and spatial. (2015: 10).
Was den sanft wehenden Wind für Wagenfeld so angenehm macht, ist sein unvorhersehbares Verhalten: „dynamic and transient (not static), aperiodic (not regular), and turbulent (not laminar)“ (Ebd.: 11).
Ebenso verhält es sich für diejenigen Betrachter, die sich von James Bennings TEN SKIES (USA 2004) zur Kontemplation der Farben, Formen und Bewegungen eingeladen fühlen, die entstehen und vergehen, während der Wind die Wolken langsam verändert (Abb. 3). Was diese Zuschauer dabei nun gerade nicht tun, ist zu überlegen, wie der Himmel als Zeichen einer göttlichen Präsenz oder als Symbol für die Unabhängigkeit der Natur von allem Menschlichen gedeutet werden könnte. Sie betrachten die Wolken auch nicht, um sie als Kumulus-, Zirrus- und Stratuswolken zu kategorisieren, fragen sich nicht, ob die Beaufort-Skala von einem ‚leichten Zug‘ oder einer ‚leichten Brise‘ sprechen würde oder verlieren sich in ähnlichen nicht-ästhetischen Beschäftigungen. Stattdessen erfreuen sie sich am Wechselspiel von Licht und Schatten, an den Kontrasten zwischen dem satten Blau des Himmels und dem Grau der Wolken, an der Art und Weise, wie der Mond hinter den Wolken auftaucht und wieder verschwindet, und an anderen ähnlichen Naturschönheiten. Im reinsten ästhetischen Modus – den Kant als Wahrnehmung der „freien Schönheit“ bezeichnet (1790/1974: 146–147) – würden diese Zuschauer sogar darauf verzichten, den Himmel als Himmel und die Wolken als Wolken wahrzunehmen und stattdessen der Darstellung der windbewegten Natur im Film als reine Form folgen. Das Kino ist dazu besonders gut geeignet, da es uns ganzheitliche Gestalten wechselnder Formen präsentiert, deren Betrachtung man aufgrund des ihm innewohnenden Vergnügens verlängern möchte. Wie Ronald Moore in einem etwas anderen Zusammenhang formuliert hat:
In looking at wind-driven, twilit clouds through a gap in oak tree limbs, it might be neither the clouds nor the limbs and the quaking leaves, but the mobile counterpoint of shapes and colours that I find to be beautiful. (2008: 203)
Die zweite Art der Wahrnehmung von Naturschönheit – ich nenne sie den ‚einladenden Modus‘– sieht die Natur anders, und sie sieht andere Dinge in ihr, als der kontemplative Blick (Seel 1991: 89).9 Hier verbindet das Wort ‚Schönheit‘ eine ästhetische mit einer existentiellen Bedeutung: Die schöne Natur wird zu einem Spiegelbild des guten Lebens. Anders ausgedrückt: Wenn ich für die Schönheit der Natur empfänglich bin, entdecke ich die Qualität der Natur als einen existenziell einladenden Ort, mit dem ich mich verbunden fühle.10 Schöne Natur verweist also auf wertvolle Qualitäten der Welt, wie der Philosoph Josef Früchtl anmerkt: „Etwas als schön zu bezeichnen bedeutet […], dass man trotz aller negativen Erfahrung, die man gemacht haben mag, den Eindruck hat, die Welt komme den eigenen Wünschen doch positiv entgegen.“ (2018: 181). Das Naturschöne bietet sich also nicht nur an, seine Erscheinungen zu genießen, wie im kontemplativen Modus; es weckt zugleich den Wunsch, dort zu sein und verbindet mich mit der Natur (Seel 1991: 90). Wie der kontemplative Modus ermöglicht der einladende Modus einen Augenblick des Glücks, aber sein Glück ist an die Wahrnehmung der Freuden gebunden, welche die Natur für ein gelingendes Leben bereithält (Ebd.: 92). Ich glaube übrigens nicht, dass man einen Film in beiden Modi zugleich wahrnehmen kann, aber sie schließen sich auch nicht gegenseitig aus – die Erfahrung von Schönheit ist vermutlich umso intensiver, je leichter es einem der Film macht, zwischen den Modi zu oszillieren.
Im Modus der Einladung steht die schöne Natur in krassem Gegensatz zur hässlichen, aber auch erhabenen Natur – was auf die schlichte Tatsache verweist, dass nicht jede Szene, in der Wind zu sehen ist, auch als schön empfunden wird. In der hässlichen Natur herrschen Eigenschaften wie Not, Verzweiflung, Einsamkeit, Leere und Sinnlosigkeit vor – sie ist ausschließend und abstoßend (Ebd.: 94). Die harschen Schneestürme, mit welchen die Figuren Lilian Gishs und Camilla Horns in WAY DOWN EAST (D.W. Griffith, USA 1920) und FAUST (Friedrich Wilhelm Murnau, DEUTSCHLAND 1926) zu kämpfen haben, oder die grimmigen Winde in Béla Tarrs A TORINÓI LÓ/DAS TURINER PFERD (UNGARN 2011) sind hässliche Winde: Sie tragen zu einem Bild der Natur bei, das alles andere als einladend ist. Erhabener Wind hingegen ist stark, kraftvoll, beunruhigend, überwältigend, beinahe jenseits menschlicher Kontrolle. Er versetzt die Zuschauer in eine Lage, in der sie einerseits die Wucht des Windes genießen können und andererseits an die eigene Unbedeutsamkeit und Verletzlichkeit erinnert werden (Krebs 2014: 1262). Ehrfurcht und Angst sind hier ineinander verflochten. Der erhabene Wind peitscht durch Victor Sjöströms THE WIND (USA 1928) und heult aggressiv durch filmische Seelandschaften von THE MUTINY ON THE BOUNTY/MEUTEREI AUF DER BOUNTY (Lewis Milestone, USA 1962) bis DAS BOOT (Wolfgang Petersen, DEUTSCHLAND 1981). Außerdem findet er sich in so unterschiedlichen Filmen wie Joris Ivens' Essayfilm UNE HISTOIRE DE VENT/EINE GESCHICHTE ÜBER DEN WIND (FRANKREICH 1988) und THE WIND: A DOCUMENTARY THRILLER (Michal Bielawski, POLEN 2019), aber auch in Hollywood-Katastrophenfilmen wie TWISTER (Jan de Bont, USA 1996) oder THE PERFECT STORM/DER STURM (Wolfgang Petersen, USA 2000), bei denen schon der Titel auf starke Winde verweist.
Schöner Wind hingegen ist gutartig, sanft und weich auf der Haut. Er erzeugt kleine Wellen auf dem Wasser und lässt Blätter leicht und leise flattern. Im Gegensatz zu hässlichen oder erhabenen Winden macht schöner Wind die Wetterbedingungen oft angenehmer. Sein beruhigendes Rascheln und Streicheln von Blättern, Zweigen und Ästen kann angenehme Körpererinnerungen an vergangene Erlebnisse hervorrufen, die man gerne wieder erleben möchte – man denke nur an eine wohltuende Brise während einer Hitzewelle. Nach Seel geht die Wahrnehmung des Naturschönen dabei mit einer anthropomorphisierenden Wahrnehmung der Physiognomie der Natur einher: Man zieht Verbindungen zu Ausdruck, Gestik, Verhalten und Gestalt eines Menschen (1991: 98–99). Daher spricht man auch von einem anmutigen Baum, einer heiteren Landschaft oder dem Heulen und Flüstern des Windes.11 Diesem Gedankengang folgend könnte man sagen, schöner Wind stehe für menschliche Tugenden wie Sanftmut, Freundlichkeit und Friedfertigkeit. Hier läge es nahe, auf Allen Carlsons weiter gefasstes Konzept des ‚ästhetischen Wertes‘ zu verweisen, das Ähnlichkeiten mit Seels ‚existenziellen Werten‘ hat. Der ästhetische Wert Carlsons umfasst nicht nur die formalen Qualitäten, die man in einem ästhetischen Objekt erleben kann, sondern auch seine moralischen Ausdrucksqualitäten, einschließlich der ‚life values‘, die sie verkörpern. Mit anderen Worten: Das Naturschöne im Film kann als Ausdruck moralisch wertvoller Werte wie Zärtlichkeit, Ruhe, Gastfreundschaft und dergleichen erlebt werden (siehe auch Hettinger 2005 und Alcaraz León 2020).
Im dritten Modus der Wahrnehmung schließlich ruft das Naturschöne weder zur Betrachtung ihrer Erscheinungsformen auf, noch lädt es mit offenen Armen in ihre verlockende Welt ein – es handelt sich stattdessen um einen kunstbezogenen Wahrnehmungsmodus. Nach Seel erscheint die Natur in diesem dritten Modus als wäre sie ein Kunstwerk, obwohl sie weder Kunst noch künstlich ist (1991: 136). Stattdessen projiziere ich in einem produktiven freien Spiel der Vorstellungskraft entweder Formen und Stile der Kunst auf die Natur oder entdecke sie in der Natur.
Der imaginative Modus lässt sich dabei auf verschiedenen Ebenen des Films verorten. Auf einer eher allgemeinen Ebene kann ich schlicht auf die bloße Tatsache aufmerksam werden, dass mich das Naturschöne eines Films an eine bestimmte Kunstform erinnert, etwa die Malerei. Dabei entdecke ich im Naturschönen allgemein malerische Qualitäten, die ich nicht genauer analysieren kann oder will. Auf einer etwas spezifischeren Ebene kann ich das Naturschöne durch die Linse eines bestimmten Genres der Malerei betrachten, etwa dann, wenn mich Literaturverfilmungen von James Ivory wie A ROOM WITH A VIEW/ZIMMER MIT AUSSICHT (UK 1985) oder HOWARD‘S END (UK 1992) an Landschaftsmalerei denken lassen. Noch konkreter wird es, wenn ich das Naturschöne im Film mit einem bestimmten Malerei-Stil verbinde, zum Beispiel wenn ich impressionistische Landschaftsbilder beim Betrachten von Jean Renoirs PARTIE DE CAMPAGNE/EINE LANDPARTIE (FRANKREICH, 1936/1946) vor Augen habe oder bei John Fords Western an die Hudson River School denken muss. Natürlich kann ich das Naturschöne im Film auch mit dem Blick auf eine*n ganz bestimmten Künstler*in betrachten: Manche Szenen in Stanley Kubricks BARRY LYNDON (USA 1975) sind bekanntlich den Landschaftsgemälden von John Constable oder Thomas Gainsborough nachempfunden, und die Repoussoir-Figuren, die in Céline Sciammas PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU/POTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN (FRANKREICH 2019) der vom Wind verwehten erhabenen Natur gegenüberstehen, erinnern nicht zufällig an Caspar David Friedrich. Schließlich kann ich auch ganz bestimmte Kunstwerke in einem Film entdecken, etwa wenn Akira Kurosawa in YUME/TRÄUME (JAPAN 1990) Vincent van Goghs Weizenfeld mit Krähen (1890) nachstellt oder ich mich in der Lesesaalszene in WAS NÜTZT DIE LIEBE IN GEDANKEN an Adolph von Menzels Das Balkonzimmer (1845) erinnert fühle (Abb. 4 und 5).
Wie beim Motiv des sanft rauschenden Windes im Allgemeinen könnte man auch für den imaginativen Wahrnehmungsmodus eine Unterscheidung zwischen zufälliger und intendierter Schönheit einführen: In einigen Fällen sind es die Zuschauer*innen, die die Verbindung herstellen; in anderen Fällen würde ich nicht zögern, den Filmemacher*innen Absicht zu unterstellen. Wenn ich schon im Voraus weiß, dass ein*e Regisseur*in von einer bestimmten Epoche (z. B. Werner Herzog von der Romantik) oder einer*m bestimmten Maler*in (z. B. Wim Wenders von Edward Hopper) fasziniert ist, kann es naheliegend sein, künstlerische Intention zu unterstellen. Noch offensichtlicher dürfte dies bei einem Biopic über eine*n Künstler*in der Fall sein, man denke an Mike Leighs MR. TURNER (UK 2014), oder wenn ein Film programmatisch ein Kunstwerk nachstellt, wie im Fall von Gustav Deutschs SHIRLEY: VISIONS OF REALITY (ÖSTERREICH 2013), in dem der österreichische Regisseur eine Reihe von Edward-Hopper-Gemälden wie Sunlight on Brownstone (1956) kopierte. In all diesen Fällen kann man eine selbstreflexive Geste vermuten, die suggeriert, dass uns Filmemacher*innen das Naturschöne gemäldeartig präsentieren können. Nach dem Motto: In diesem Film wirkt die Natur so schön, als käme sie direkt von Renoir, Turner oder Hopper.
Kontemplation, Einladung, Imagination: Natürlich erlebe ich Natur im Film nur selten ausschließlich in einem dieser Modi. Wie bereits erwähnt, ist es Betrachter*innen durchaus möglich, den Modus aktiv zu verändern; häufiger aber scheint der Film mich dazu zu drängen oder einzuladen, zwischen den Modi zu wechseln. Als ob mir ein neuer Wittgenstein‘scher Aspekt dämmerte, nehme ich bei jedem Wechsel zwischen den Modi andere Inhalte und Formen wahr – und jedes Mal sieht die Schönheit der Natur dabei anders aus. Die drei Modi können aber auch in Spannung oder gar in krassem Gegensatz zueinanderstehen, etwa wenn eine Szene in einem Modus als schön und in einem anderen als abstoßend oder kitschig erscheint. Ich denke hier an Bilder von aggressiv loderndem Feuer, in deren berauschender formaler Schönheit ich schwelgen kann, die aber weit davon entfernt sind, eine einladende Atmosphäre zu schaffen. Ein anderes Beispiel wäre eine Szene eines berückenden Sonnenuntergangs, die eine starke existenzielle Sehnsucht weckt, dort zu sein, bei der es sich aber, im imaginativen Modus betrachtet, um ein reines Klischee handelt. Nicht zuletzt kann ich eine Einstellung mit wunderschönem Spiel von Farben und Licht auf einem Teich bewundern, zugleich aber entsetzt darüber sein, dass die Schönheit auf giftige Flüssigkeiten im Wasser zurückzuführen ist.
Mit diesem letzten Beispiel bin ich aber bereits bei der Frage nach den moralisch verantwortlichen Urteilen über das filmisch vermittelte Naturschöne angelangt: Wenn man mit Werten wie menschlicher Gier, Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur und Vernachlässigung künftiger Generationen in Bildern toxischer Schönheit nichts anfangen kann, darf man dann beim Betrachten überhaupt Vergnügen empfinden? Wer sich des Aufeinanderprallens dieser Werte bewusst ist, wird um eine persönliche Antwort nicht umhinkommen. Doch damit habe ich mich bereits an die Grenze eines Terrains begeben, das ich mit meinem ersten Schritt hin zu einer systematischen Untersuchung des Naturschönen im Film noch nicht betreten will. Dazu ein anderes Mal mehr.
Der vorliegende Essay ist eine gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der unter dem Titel When the Wind´s Gently Rustling: Film and Natural Beauty im Sommer 2023 in der Zeitschrift Film-Philosophy erscheinen wird. Wir danken den Herausgebern von Film-Philosophy für die Genehmigung, diese deutsche Übersetzung vorab veröffentlichen zu können. https://www.euppublishing.com/loi/film
Ich danke Nicholas Baer, Philipp Blum, Jakob Boer, Marco Caracciolo, Christian Ferencz-Flatz, Ann-Sophie Lehmann, Magda Majewska, Sanna McGregor, Lucas Rinzema, den beiden anonymen Gutachter*innen von Film-Philosophy sowie den Herausgeberinnen und Herausgebern von Nach dem Film für hilfreiche Anregungen zu früheren Fassungen dieses Aufsatzes.
Alcaraz León, María José (2022) On the Aesthetic Appreciation of Damaged Environments, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 80(4), 420-431.
Baert, Barbara (2013) Wind: On a Pictorial Quintessence, in: Images: Journal for Visual Studies, 1. https://www.visual-studies.com/images/no1/baert.html, o.S.
Balázs, Bela (1949/1972) Der Film: Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien: Globus.
Balázs, Bela (1930/2001) Der Geist des Films. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Barthes, Roland (1989) Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Baumbach, Nico (2018) Cinema/Politics/Philosophy. New York: Columbia University Press.
Baumbach, Nico (2009) Nature Caught in the Act: On the Transformation of an Idea of Art in Early Cinema, in: Comparative Critical Studies, 6(3), 373–83.
Bourdieu, Pierre (1987) Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Budd, Malcolm (2002) The Aesthetic Appreciation of Nature. Oxford: Oxford University Press.
De Luca, T./Barradas Jorge, N. (Hgs.) (2015) Slow Cinema. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Donoghue, Denis (2004) Speaking of Beauty. New Haven: Yale University Press.
Elias, J. (2016) Film and Fashion [Film und Mode], in: A. Kaes, N. Baer/M. Cowan (Hgs.) The Promise of Cinema: German Film Theory 1907-1933. Oakland: University of California Press, 501-503.
Fairfax, Daniel (2018) ‘The Beauty of Moving Wind in the Trees’: Cinematic Presence and the Films of D.W. Griffith, in: C. Keil (Hg.) A Companion to D.W. Griffith. Hoboken: Wiley, 74–103.
Fingerhut, Joerg (2020) Twofoldness in Moving Images: The Philosophy and Neuroscience of Filmic Experience, in: Projections, 14(3), 1–20.
Freeburg, Victor Oscar (1923) Pictorial Beauty on the Screen. New York: Macmillan.
Freud, Siegmund (1915) Vergänglichkeit. https://www.gutenberg.org/files/29514/29514-h/29514-h.htm (abgerufen 23.01.2023).
Früchtl, Josef (2013) Vertrauen in die Welt: Eine Philosophie des Films. München: Fink.
Guan, C./O’Brien, A. (Hgs.) (2020). Cinema’s Natural Aesthetics: Environments and Perspectives in Contemporary Film Theory, in: Screen, 61(2).
Hanich, Julian (2023) Striking Beauty: On Recuperating the Beautiful in Cinema, in: J. Hanich/M. Rossouw (Hgs.) What Film Is Good For: On the Values of Spectatorship. Berkeley: University of California Press.
Hettinger, Ned (2005) Allen Carlson’s Environmental Aesthetics and the Protection of the Environment, in: Environmental Ethics, 27(1), 57–76.
Kant, Immanuel (1764) Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. https://www.gutenberg.org/files/41197/41197-h/41197-h.htm (abgerufen 23.01.2023).
Kant, Immanuel (1790/1974) Kritik der Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Keathley, Christian M. (2006) Cinephilia and History, or, the Wind in the Trees. Bloomington: Indiana University Press.
Kracauer, Sigfried (1960/1985) Theorie des Films: Zur Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Krebs, Angelika (2014) Why Landscape Beauty Matters, in: Land, 3(4), 1251–1269.
Lefebvre, Martin (2006) Between Setting and Landscape in the Cinema, in: M. Lefebvre (Hg.) Landscape and Film. New York: Routledge, 19-59.
MacDonald, Scott (2012) The Ecocinema Experience, in: S. Rust/S. Monani/S. Cubitt (Hgs.) Ecocinema Theory and Practice. New York: Routledge, 17-42.
Menninghaus, Winfried (2007) Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Mirzoeff, Nicholas (2014) Visualizing the Anthropocene, in: Public Culture, 26(2), 220-222.
Moore, Ronald (2008) Natural Beauty: A Theory of Aesthetics Beyond the Arts. Peterborough: Broadview Press.
Murdoch, Iris (2014) The Sovereignty of Good. New York: Routledge.
Nessel, Sabine (2008) Der Hund und die Blätter im Wind. Zu FERIEN, Thomas Arslan (D 2007) und NACHMITTAG, Angela Schanelec (D 2007), in: Nach dem Film, 9 (Dezember 2007).
Nova, Alessandro (2011) The Book of the Wind: The Representation of the Invisible. Montréal: McGill-Queen’s University Press.
Puffer, Ethel D. (1905) The Psychology of Beauty. Boston: Houghton-Mifflin.
Rosa, Hartmut (2019) Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Sartwell, Crispin (2004) Six Names of Beauty. New York: Routledge
Scarry, Elaine (1999) On Beauty and Being Just. Princeton: Princeton University Press.
Schonig, Jordan (2018) Contingent Motion: Rethinking the ‘Wind in the Trees’ in Early Cinema and CGI, in: Discourse: Berkeley Journal for Theoretical Studies in Media and Culture, 40(1), 30–61.
Seel, Martin (1991) Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Scruton, Roger (2011) Beauty: A Very Brief Introduction. Oxford: Oxford University Press.
Sitney, P. Adams (1993) Landscape in the Cinema: The Rhythms of the World and the Camera, in: S. Kemal/I. Gaskell (Hgs.) Landscape, Natural Beauty, and the Arts. Cambridge: Cambridge University Press, 103-126.
Stanitzek, Georg (2004) Kracauer in American Beauty, in: J. Schröter/A. Böhnke (Hgs.) Analog / Digital – Opposition or Continuum? Contributions to the Theory and History of a Distinction. Bielefeld: Transcript, 373-386.
Stern, Lesley (2001) Paths that Wind through the Thicket of Things, in: Critical Inquiry, 28(1), 317-354.
Taberham, Paul (2018) Lessons in Perception: The Avant-garde Filmmaker as Practical Psychologist. New York: Berghahn.
Thomas, Benjamin (2016) L’attrait du vent. Paris: Editions Yellow Now.
Wagenfeld, Malte (2015) The Phenomenology of Visualizing Atmosphere, in: Environmental & Architectural Phenomenology, 26(2), 9–15.