Akira Kurosawas DERSU UZALA (UdSSR/Japan 1975)
Das Kino projizierte, und die Menschen sahen, dass es die Welt gab.
(Jean-Luc Godard, Histoire(s) du Cinema, 1988-97)
DERSU UZALA wird oft als nostalgischster Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawas bezeichnet. In Hinblick auf die Inszenierung der gleichnamigen Hauptfigur, dem Waldläufer, Jäger und Fährtensucher Dersu Uzala (Maksim Munzuk) ist das nur allzu verständlich. Dersu lebt in der sibirischen Ussuri-Region, einem Grenzgebiet zwischen Russland und China, und ist Angehöriger der ethnischen indigenen Minderheit der Golden.1 Sein Verständnis vom Leben in der Wildnis und vom gemeinsamen Miteinander alles Lebendig-Beseelten (und davon hat er einen äußerst weiten Begriff) ist etwas, das den Forschungsreisenden Arsenjew (Yuri Solomin) der ihn hier eines Tages zufällig trifft, staunen macht. Dersu spricht von sich selbst als „meine Leut“ – er ist ein Leut unter vielen Leuten sozusagen, wobei der Tiger genauso dazu gehört wie das Feuer, das Wasser, der Wind, der Mond und die Sonne. Dersu spricht mit dem Feuer, mit dem Tiger und hilft Menschen, die er niemals treffen wird.
Weshalb also nostalgisch? Zum einen: Weil Dersu sterben wird, keinen Tod, den er verdient hätte, sondern einen, den die Zivilisation (in Gestalt seines Freundes Arsenjew und eines neuen Gewehrs als Geschenk), die es gut mit ihm meinte, zu verantworten hat. Kurosawas Botschaft ist dabei eindeutig: In der Wildnis kann die Zivilisation im Sinne einer vermessenden, abstrakten Entdeckungsreise, eben auch der symbolischen Inbesitznahme von Land, keine wirkliche Hilfe sein und nur selten ein Freund, auch wenn der EntdeckungsreisendeArsenjew noch so gerne einer wäre. Auch Arsenjew muss dies letztlich einsehen. Ohne ihn hätte Dersu vermutlich einen besseren Tod in der Taiga gehabt. Mit ihm, in all der freundschaftlichen Tragik, gab es aber dennoch Gutes für Dersu, der ohne Familie war: Freundschaft, Freude und Gemeinschaft inmitten der Wildnis – und viele Versuche und Ermöglichungen des Verständnisses. Arsenjew wiederum, hatte letztlich wichtiges von Dersu lernen können, um es dann in die Welt zu tragen. Denn – nicht zu vergessen: Der Film basiert auf wahren Begebenheiten – der realen Freundschaft zwischen dem russischen Forschungsreisenden, Vermesser und Schriftsteller Wladimir Arsenjew und dem Taigaläufer Dersu Uzala und deren gemeinsame Reisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Drehbuch basiert auf den Reiseberichten des historischen Autors Arsenjew aus dem Jahr 1923, ins Deutsche übersetzt als Dersu Usala der Taigajäger (Arsenjew 1952).
Zum anderen: Ein klassischer Kinospielfilm, wenn auch keine klassische, sondern eher unübliche internationale Koproduktion zwischen Japan und der Sowjetunion, widmet sich hier im weiten Sinne Themen und Motiven von Natur, Wildnis, Landschaft und dem Überleben in und mit ihnen.
Als Argument gegen die Nostalgie lässt sich die Art und Weise anführen, wie der Film diese Themen inszeniert. Gerade im Kontext aktueller Diskurse könnte man in dem Film eine bestimmte Natur- und/oder gar Ökoästhetik, vielleicht sogar ein frühes Ökokino erkennen. Stephen Rusts und Selma Monanis (2013) Orientierungsansatz für das Ecocinema im Sinne eines „to re-frame perception“ liegt hier zumindest nahe:
From an ecocritical perspective, environment is not just the organic world, or the laws of nature to which Kant counterposed the powers of human reason in the struggle for freedom, or that Nature from which Marx thought we were condemned to wrest our survival; it is the whole habitat which encircles us, the physical world entangled with the cultural. It is an ecology of connections that we negotiate to make our meanings and our livings. In this habitat, cinema is a form of negotiation, a mediation that is itself ecologically placed as it consumes the entangled world around it, and in turn, is itself consumed. (Rust/Monani 2013: 1)
Der Film liefert zwar einen äußerst klassischen Repräsentationsansatz von Naturphänomenen, andererseits bearbeitet er diese aber auf der Ebene mindestens zweier zentraler, dramaturgisch-subjektiver Natur- & Landschaftskonzepte mittels der beiden Hauptfiguren. Natur wird somit durch die Figureninszenierung, Narration und Bildästhetik verhandelt.
1974 auf 65mm-Material vor Ort in unwegsamem Gelände gedreht, war schon die Produktion des Films ein extremer und unüblicher Kraftakt in Taiga und Steppe fernab jeglicher Zivilisation. Tatsächlich trug dies wiederum zu einem besonderen Überzeugungsakt seitens der Rezeption bei: Selten zuvor hatte man solch konzentrierte Form der Naturschilderung als Konglomerat aus produktionstechnischer Ausdauer und tatsächlicher filmischer Szenen- und Einstellungsdauer gesehen. Für Kurosawa stand mit dem Projekt die berufliche Zukunft auf dem Spiel, sein vorheriger Film war in Japan gefloppt. Die erstmalige sowjetisch-japanische Koproduktion war ein Notbehelf, um überhaupt weiterarbeiten zu können. Die Weltpremiere fand 1975 auf dem Internationalen Filmfest Moskau statt; 1976 dann der deutsche Kinostart erst in der DDR und zwei Wochen später in der BRD unter dem falschen Titel UZALA DER KIRGISE. Noch im gleichen Jahr gewann der Film dann überraschend den Oscar. Aus heutiger Perspektive lässt sich der Film als eine Art Vorläufer des Slow Cinema lesen.2 Richtet man den Blick allein auf die Einstellungslänge mancher Szene und sieht von der meist relativ konventionellen Dramaturgie ab, ist eine solche Perspektive durchaus möglich. Denn die Darstellung von Naturphänomenen im Film dient hier als eine unübliche audiovisuelle Nische im sonst eher narrativen Film. Ähnlich wie z.B. im Genre des Bergfilms erhält die Natur eine – wenn nicht gar die Hauptrolle, anders als im Bergfilm wird sie von Dersu hier aber nicht besiegt, bekämpft oder erobert. Yvonne Zimmermann schreibt über die Natur im Bergfilm:
Die Aussenwelt gerät zur Projektionsfläche innerer Vorgänge, zur Verkörperung menschlicher Neigungen. Die Natur wird aber nicht nur mystifiziert, sondern stellt durch die reale Bedrohung, die von ihr ausgeht, ein ‚Leistungsbarometer‘ für den Menschen dar, dient der ‚Selbstauratisierung‘ und wird ‚in letzter Konsequenz zur Selbsterhebung durch Selbstbestrafung instrumentalisiert‘ (Gabel 1992, 52). Im Bergfilm geht es letztlich immer um den Kampf des Menschen mit sich selbst, um die Überwindung des ‚inneren Schweinehund[s]‘, um Horak zu zitieren, nie jedoch um moralische, soziale oder politische Konflikte (1997, 30). Was aber längst nicht ausschliessen muss, dass das landschaftliche Thema der Filme politisch verstanden werden kann (Rapp 1997, 19). Berg-Metaphern eignen sich – insbesondere auch im Schweizer Film – hervorragend zur nationalen Selbstdarstellung (siehe Kapitel 3.5). (Zimmermann 2005: 73)
Dersus Figurenansatz läuft der genannten Berggenre-Dramaturgie u.a. zuwider, weil er nicht mit einem europäischen Distanzverständnis gegenüber der Natur auftritt. Für Dersu ist der Gang in die extreme Unwirtlichkeit des abgelegenen Wintersees von vornherein uninteressant. Dies entspricht in keinster Weise seinem Lebensentwurf. Er erobert nicht, er muss nicht vermessen, er zieht nicht unnötig ins Extreme (welches tatsächlich der Khanka-See als russisch-chinesisches Grenzgebiet bis heute ist). Er ist weder Held noch Anti-Held und auch kein klassischer männlicher Außenseiter wie im Abenteuer- und/oder Westerngenre. Und er ist folglich auch kein vor der Zivilisation fliehender, gar um seine Männlichkeit in der Wildnis unter Beweis zu stellen oder stellen zu lassen. Dersu ist das Lebewesen, und ja, natürlich auch ‚das Leut‘, das überhaupt nichts zu beweisen hat und dennoch alles beweist und erweist, schlichtweg: weil er von hier kommt. Die Umgebung versteht er nur, mit Martin Lefebvre gesprochen (2006), als gelebtes, erlebtes und belebtes Territorium.
In meiner Auseinandersetzung mit Dersu Uzala werde ich mich im Folgenden nun insbesondere den Aufnahmen von Naturdetails, Landschaft, Wetter sowie den Reaktionen und Nicht-Reaktionen der Protagonisten auf diese widmen, Bilder, die jenseits üblicher Erzählkonventionen aus ihrer narrativen Funktion entlassen sind: Die zentrale Stelle des Films, die den klassischen Handlungsablauf im Sinne eines dramatischen Ziels aushebeltbzw. gar bildlich ‚in die Binsen gehen lässt‘ (hierzu gleich mehr) und mit Bildern von Natur, Landschaft, Witterung und einem haptisch-visuellen Lebenskampf unterbricht. Diese déphasage, das Herausfallen aus der Narration in einem bestimmten Modus der Rezeption im Sinne Guido Kirstens (2013), ereignet sich innerhalb des über zweistündigen Films ungewöhnlich früh. Sie dauert nahezu 20 Minuten und nimmt die vorgezogene Mitte (mit der klassischen Dramaturgie und ihren zwei Wendepunkten also dem zentralen Punkt vergleichbar) des Films ein. Narrativer Grund ist dennoch gegeben, die Szene wird die ungewöhnliche Freundschaft besiegeln. Und dennoch: Die Inszenierung der Natur im Sinne einer Landschaftsansicht wird hier einerseits genutzt und andererseits überholt und dekonstruiert. Fred Truniger nähert sich in Bezug auf Terrence Malicks THE NEW WORLD (USA, 2005) (Truninger 2013) genau diesem Aspekt: Wie kann direkte Natur die im Film lediglich vermittelt und als Landschaftsdarstellung kadriert existiert einerseits unsichtbar und zu gleich auf einer anderen ästhetischen Ebene sichtbar und erfahrbar sein? Truniger schreibt:
Die Landschaft ist, wie bereits erwähnt, von ihrer Herkunft aus der Malerei her eine ästhetisch überformte, äußere Ansicht der Natur. ‚Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist‘, schreibt beispielsweise Joachim Ritter.3 Sie ist eine Art ‚Spur‘ der Natur. Die Natur selber kann nicht ohne Weiteres optisch abgebildet, noch kann sie durch Töne und Geräusche unmittelbar hörbar gemacht werden, denn ihr Wesen und ihre durch unsere physische Teilhabe an ihr gegebene Wirkung auf uns können diese sinnlichen Repräsentationen nur unvollständig erfassen: jene dem Menschen übergeordnete Kraft, die für die Existenz von allem verantwortlich ist, aber auch stets zugrunde gehen lässt, was durch sie entstanden ist. Diese sich der Kontrolle und dem Verstand des Menschen aller Domestizierungsversuche zum Trotz immer wieder erfolgreich entziehende, alles übersteigende Macht können wir nur erahnen, erfahren, aber nicht unmittelbar sehen. – ‚Natur ist unsichtbar‘, schrieb der Landschaftstheoretiker Lucius Burckhardt, ‚wir können sie nur darstellen‘. (Truninger 2013: o.S.)
Zunächst also zur Inszenierung und Darstellung der Szene: Der Kapitän der Expedition landet mit seinem Fährtensucher nahe des Ufers des Khanka-Sees. Der Golde registriert die Zeichen der Natur früh und ahnt den aufziehenden Sturm. Er warnt Arsenjew rechtzeitig umzukehren, doch zu diesem Zeitpunkt sieht das ungeübte Auge des Vermessers keine Bedrohung. Das Wetter erscheint licht, übersichtlich und windstill. Arsenjew sagt, er wolle nur kurz zum See, es würde nicht lange dauern. Dersu widerspricht nicht, er geht davon aus, dass auch der Kapitän weiß, was machbar sein sollte und macht hierzu noch eine kurze Bemerkung. Dann brechen sie beide gemeinsam auf und entfernen sich von der Truppe.
Die erste Totale von der Ankunft am See macht allerdings klar, dass sich die Figuren hier nicht mehr in den herbstblättrigen Birkenlaubausläufern der Taiga befinden, die immer noch etwas heimeliges, schutzbietendes mit sich brachte, sie sind hier im silbrig-weißen, unendlichen und folglich unbesiedelten Nichts angelangt. Die Totale als Aufsicht auf die relativ kleinen Rückenfiguren der beiden vor eisiger Weite zeigt: Hier sind sie an einer Grenze angekommen. Sie stehen vor dieser unüberwindlichen Eis-, Schnee- und Wasserwüste – ihr Aufenthalt hier, im orientierungslosen Grau-Weiß, erscheint letztendlich als Arsenjews größte Anmaßung und Fehleinschätzung der eigenen Kräfte.4
Diese Anmaßung, die Ignoranz und Wahrnehmungsunfähigkeit des Vermessers ist es, die ihm und Dersu böse zu stehen kommen wird. Und hier, am Ufer, angelangt an seinem vermeintlichen Ziel, bemerkt letztlich auch der Forschungsreisende, dass „ein Drohen“ in der Luft liegt. Wind kommt auf, Schnee fegt über die gefrorenen Oberflächen durch das Weitwinkelformat wird am Horizont selbst die Erdrundung sichtbar: klein, kleiner, kleinst – der Mensch hier. Was auch immer er hier wollen könnte, es erscheint absurd.
Der aufkommende Schneestaub, die dadurch erzeugte Unschärfe der Bilder, droht die Erkennbarkeit zu schlucken, sukzessive Unklarheit der Verhältnisse ankündigend. Als Dersu doch endlich reagiert und den Kapitän auffordert, wieder umzukehren und sich zu beeilen, ist es schon passiert: Der Wind hat die Spuren verweht.
Der zentrale Wendepunkt der Szene tritt ein: Dersus wichtigstes Orientierungsmittel, die Spur als solche, kommt ihm fatalerweise abhanden. Dies rührt auch auf der Metaebene an Dersus Existenz: Die Spur als Abdruck oder Fährte steht dafür, dass jemand oder etwas wo gewesen ist. Keine Spur mehr zu haben – und Dersu sucht ja die eigene – bedeutet dementsprechend: nicht anwesend gewesen zu sein. Und da rührt das Dilemma des Spurverlusts: Was nicht mehr sicht- und/oder spürbar ist, kann auch schwerlich dagewesen sein – so ganz ohne Abdruck oder Witterung. Das ist die existentielle Katastrophe in der Welt des Fährtenlesers. Alle Formen der Spur tun Kunde, sind Zeuge, Erinnerung, Einfühlung und Vermächtnis zugleich. Und eben: Größtmögliche Orientierung just in diesem Da-Gewesen-Sein – hier war ich, hier komme ich her, hieran halte ich fest, hier bin ich, hier gehe ich hin. Erst die Spur ermöglicht Dersu die Durchquerungen von Taiga und Tundra, ja, seine gesamte Existenzweise und sein Wissen, sein Leben hier. Die Spur kündet also einerseits von Anwesenheit und macht andererseits überhaupt erst Anwesenheit qua Orientierung möglich. Die Spur ist Vergangenheit und zugleich Ermöglichung von Gegenwart und Zukunft.
Die wogende windgepeitschte Landschaft bläst nun Schneewehen in ihre Augen, im Gegenwind versuchen sie in die richtige Richtung zu gehen, doch es kann nicht mehr gelingen. Auch der Kompass, den der Kapitän zuvor noch vertrauensvoll als Allheilmittel gezückt hatte, kann nicht weiterhelfen. In den Wehen ist fester Grund und dünn gefrorenes Eis nicht mehr zu unterscheiden. Dort, wo sie laut Gerät hinmüssten, können sie nicht hin, denn da fließt Wasser oder droht die Eisdecke einzubrechen. Die untergehende Sonne spiegelt sich in Eis und Wasser, Gegenlichtaufnahmen häufen sich, die Silhouetten werden zusehends dunkler. Dersu erkennt nach und nach, dass sie ihren Weg nicht mehr finden werden. Ihre Silhouetten werden immer winziger in den Totalen der Kamera und folglich auch inmitten der Totalität der sie umgebenden Natur.
Sie sind gefangen in einer unermesslichen Weite, aus der es paradoxerweise aufgrund der Unendlichkeit kein Entkommen zu geben scheint. Der Rand des Gebiets, das Lager, ist unerreichbar, zu diesem Zeitpunkt scheinbar Teil einer anderen Welt. Ein existentieller Widerspruch tut sich hier für Arsenjew auf: der zu vermessende, und bis hierhin auch tatsächlich vermessbare Naturraum, ist nicht mehr länger kartierbar. Das Jenseits einer bevölkerten Kartographie ist es, das hier nicht nur aufscheint, sondern plötzlich die Handlung übernimmt. Eine Ahnung dieser wird Arsenjew vermutlich in jenem Moment verspürt haben, als er Dersu das erste Mal traf. Dersu ist letztlich Teil dieses anderen, er ist derjenige, der es zumindest einschätzen kann, wenngleich er nun auch selbst bedroht ist. Doch ohne das Unverständnis des Kapitäns wäre er niemals in diese Lage geraten. Er hätte die Zeichen verstanden, die Spuren rechtzeitig wahrgenommen und gelesen. Doch die ignorante Zivilisation, seine Arbeit und freundschaftliche Hilfe für den Kapitän hat ihn vom Weg abgebracht und somit im wahrsten Sinne des Wortes abgelenkt.
Im fahlen Licht irren sie umher, suchen einen Weg, finden ihn nicht, laufen aus dem Bild. Die Gefahr der leeren und entleerten Landschaft in tatsächlich von Menschen unbewohnter Natur steht vor Augen. Dersu weiß mittlerweile um ihre Verlorenheit, der Kapitän will es immer noch nicht wahrhaben. Ein letzter Versuch der Orientierung qua Technik findet statt, der Russe schießt vergebens, in der Hoffnung, gehört zu werden. Sie stehen im Schilfgras, die Büschel leuchten im Abendlicht – und der Kapitän gibt letztlich und endlich die Verantwortung an Dersu ab bzw. gesteht sein Scheitern ein. Ihnen passiert also das, was im althochdeutschen ‚in die Binsen gehen‘ tatsächlich bedeutet: sie gehen verloren. Binse ist eine andere Bezeichnung für Schilfgras. In der Jägersprache ist genau dies der Bereich, in welchen der Jagdhund dem Wildvogel nicht mehr folgen kann, die Spur verliert. Somit steht erstmals die praktische Überlebensfrage im Raum: ‚Was tun?‘ Antwort Dersus: „Das Gras schneiden. Schnell.“
Ohne eine Ahnung davon zu haben, was er da tut, wird Arsenjew Dersu ab diesem Moment gehorchen, ja dramaturgisch gesehen schlichtweg gehorchen müssen. Dersu leitet an, sie eilen hin und her, hektisch schneiden sie Halm um Halm, zusehends gerät Arsenjew außer Puste, beginnt zu straucheln, um wieder von Dersu angetrieben zu werden. Es wird immer dunkler, sie verschwinden in der Umgebung, drohen, von der Dämmerung verschluckt zu werden. Ihr hektisches Grasschneiden wird in Halbnahen gezeigt, die bis dato eher selten zu sehen waren. Ihr schweres Atmen ist zu hören. Es wirkt wie eine unglaubliche Sisyphosarbeit, die dürren Schilfgräser scheinen kein Volumen zu erzeugen. Der Kapitän will pausieren, Dersu treibt weiter an. Die untergehende Nebelsonne macht die Gefahr des Kältetodes mehr als deutlich. Die Figuren werden zu konturlosen Schatten. Mit letzter Kraft sammeln sie die geschnittenen Grasbüschel ein und bilden einen Haufen.
Wind kommt auf und droht alles wieder zu verwehen. Die Dramatik wird sowohl durch Einstellungen der sich dem Horizont nähernden Sonne sowie über eine instrumentale Geräuschkulisse unterstrichen/betont/hervorgehoben. Diese verebbt als das Heulen des Windes unausweichlich wird, der nächtliche Sturm schlussendlich aufzieht. Dersu wirft sich auf die Halme, um sie vor dem Verwehen zu retten. Der Kapitän kommt hinzu, erhält Schnüre von Dersu zum Zusammenbinden der Halme, läuft noch einmal in den Sturm und bricht letztendlich zusammen. Er liegt in der kalten, wehenden Weite, Dersu geht aus dem Bild. Wir wissen nicht, was Dersu tut.
Es folgt ein Schwarzbild und aus dem Off ertönt die rückblickende Stimmedes Kapitäns (aus den Reiseaufzeichnungen des Buchs). Dann zündet jemand ein Streichholz an, es ist Dersu. Wir sind im Inneren einer Höhle, Arsenjew schläft; Dersu kommt hinzu; dann wieder Dunkelheit. Am Morgen erwacht der Kapitän vom Ruf Dersus, der bereits vor die Höhle getreten ist. Arsenjew hat keine Zeit, das Überlebenswerk, die Schilfhöhle Dersus, zu bestaunen. Dersu muss schon wieder weiter. Er baut ab, reißt seine Seile aus dem Schilf, würdigt sein Werk keines Blickes mehr. Auch der Dank des Kapitäns erscheint ihm absurd. Es war ihre gemeinsame Arbeit, die sie tun mussten. Das ist alles, was er dazu sagen kann.
Ihm, dem Taigaläufer, gelingt somit, was dem Kompassträger nicht gelingt: Die undurchquerbare Taiga5, wie es der etymologische Wortstamm des Begriffs Taiga bereits aussagt, ist für ihn nicht nur durchquerbar, sondern nur in ihr kann er überhaupt leben – seine ganze Existenz gründet auf der Möglichkeit zur fährtenlesenden und somit extrem gegenwärtigen Durchquerung dieses Naturraums auf Augenhöhe. Die Grenzregionen der Taiga, in der Szene die Tundra als Kältesteppe rund um den Khanka-See, müssen auch für den Waldläufer eine Herausforderung sein. Sie sind kaum überlebbar und eigentlich zu meiden. Kurosawas Umweltdidaktik6 wird dabei offenkundig: Die Landvermessung wird von der Naturinszenierung im Film ad absurdum geführt. Ein oder gar jeder Überblick geht der Zivilisation verloren. Der tatsächliche Überblick, und der einzige, der hier überleben kann, das ist kein erhöhter, vermessender, sondern ein Blick auf Augenhöhe mit der Natur – und zwar auf Höhe des nächsten Halms, des nächsten Zweigs, des nächsten Tigers oder eben: der nächsten Spur. Kurzum: Ein Blick, der einfühlend anwesend ist: Dersus Perspektive, so das gewählte Narrativ Kurosawas. Und mittels mancher Kameraeinstellungen zu dieser Perspektive, wobei ich jetzt eben nicht explizit eine subjektive Kamera meine, entfernt sich die Inszenierung von der gängigen klassischen Landschaftsrepräsentation im Film, wie sie heute noch im TV-Naturfilm mehr als selbstverständlich ist.
Der Spielfilm wird, in Kurosawas Ästhetik und mit Hartmut Böhmes Aussichten der Natur (2017) weitergedacht, zum medialen Verfahren einer Evidenzwerdung von Natur und damit ihrer Vergegenwärtigung als KulturNatur. Die Spur, der Wetterwechsel, der Zweig und das Schilf sind von Dersu dank eines hochsensiblen Naturverständnisses lesbar. Dersus Blick trifft dabei immer wieder auf den kartographierenden Nicht-Blick Arsenjews – auf eine Kartenproduktion ohne direkte sensible Umweltwahrnehmung. Hier wird die filmische Moderne dergestalt hochaktuell mit Blick auf kritische Diskurse um Spürtechnologien und neue Sensorik.7
In der Szene selbst tritt dabei eine anders funktionierende Erzählweise und Ästhetik zu Tage: die der narrativ handelnden und dann auch ästhetisch erfahrbaren Naturlandschaften und -phänomene. Die filmische Repräsentation macht so ihr Gegenteil bewusst – und umgekehrt: Im Spielfilm findet eine besondere Arbeit mit und ein anderes Zeigen und Erzählen von (Um)Welt, eine Art des materiellen Filmens nach Kracauer, statt: Einerseits im Sinne des filmischen Trägermaterials als Bezeugung von Naturzuständen und -spuren, auch wenn es die zweite, übersetzte, gerahmte Natur ist. (Kracauer 1985) Und gleichzeitig eine unübliche Form der Einbettung der klassischen Spielfilmdramaturgie in die mehr oder weniger natürlichen Zusammenhänge des Territoriums, das im Film hier kein ‚Setting‘ mehr ist, sondern wichtigster Protagonist, eben als Nichtmenschliches oder Außermenschliches. Im Sinne einer Ökoästhetik (Form) nicht nur des Ecocinemas (Inhalt) nach Silke Panse wird hier interessant, dass der Film die Natur nicht eindeutig symbolisch funktionalisiert. (Panse 2013) Mit Silke Martins Überlegungen zu den Arbeiten James Bennings in Berg und Film (2017) könnte man auch über Kurosawas Film sagen: „There is no transcendence, just immanence“. (Martin 2017: 55)
Mit Dersu nimmt Kurosawa eine Art kinematographischer Landschaftsforschung vor, bei der die filmischen Mittel in Einklang mit dem Naturthema und den Hauptmotiven des Films entwickelt werden und sich gegenseitig befruchten.8 Die Arbeit an der Anti-Repräsentation findet sowohl auf der Ebene der filmischen Naturästhetik als auch der Narration statt. Der Film wird zur filmischen Evidenzwerdung von Natur par excellence, zur Vergegenwärtigung von vergangener lebendiger Natur, die immer nur durchquerte (und gerahmte) Landschaft und Territorium sein kann, also immer nur eine Annäherung und Übersetzung ins filmische Medium. Hartmut Böhme schreibt in seinen Aussichten der Natur:
So kann festgehalten werden, dass Natur nicht von sich aus Evidenz hat oder zeigt. Sondern Evidenz kann in bestimmter ästhetischer Einstellung (auch) an Natur erfahren werden. Kunst ist dabei eine der Möglichkeiten, Natur zur Evidenz zu bringen, ohne dass Natur überhaupt gegenwärtig ist [...]. (Böhme 2017: 27)
Natur tritt hier immer medialisiert, gerahmt, ästhetisch erfahrbar auf. Mit Martin Lefebvre wird sie als Landschaft zu einer ästhetischen Erfahrung vom Menschen geschaffen und gerahmt, aber kein der Narration untergeordnetes Setting. (Lefebvre 2006) Mit Kurosawa wiederum erhält die Landschaftserfahrung in der Figur Dersus noch die Steigerung zum Territorium und eben auch Anti-Territorium des Nicht-mehr-Vermessbaren. Die Naturerscheinungen sind hier selbstverständlich ästhetische Phänomene, die Landschaft bietet die Filmnatur im doppelten ästhetischen Anblick. Die Wahrnehmung und Erfahrung von Natur stellt so die Übersetzungsleistung und Interpretation her und verweist auf die Notwendigkeit einer ästhetischen Theorie der Natur, eben auch im Diskursfeld von Stimmung, Witterung und Atmosphäre. Marc Ries schreibt in moving landscapes von einer Reontologisierung, die das Kino an der Natur mittels seiner Bewegtbilder ausführen würde. Es gäbe Zeugnis ihrer Existenz und gar ihrer Seinsweise. Landschaft wird in diesem Verständnis zu einem ästhetischen Programm von Kino-Natur. (Ries 2006: 35) Das gebrochene Bewusstsein einer Anwesenheit in der Kinoerfahrung kommt dem zugute: Es ist, als ob etwas anwesend wäre.
Die widersprüchliche Anwesenheit dieser Kino-Natur, ihr gleichzeitiges Da-Sein und Nicht-Da-Sein im filmischen Bewegtbild macht eine ungeahnte Qualität aus. Distanz und Nähe können hier einen anderen Bewusstwerdungsprozess der kadrierten Natur gegenüber in Gang setzen, bieten Möglichkeiten, die die Eins-zu-Eins-Erfahrung so nicht hätte. Die konjunktivische Präsenz der Natur im Film ist eine tatsächliche Erfahrung – eine ästhetische Erfahrung. Und an der schlichten Aisthesis hängt bekanntlich einiges. Als Vergegenwärtigung ist sie verwirklichter Vollzug von sinnlich Wahrnehmbarem und im Film immer Arbeit mit Material und Spur. (Böhme 2017: 22ff.) Die Natur im Film operiert in dieser Hinsicht weit über ihre Repräsentation hinaus u.a. auch als sensorisches Szenario für die Rezeption, das die diskursiven Verhandlungen weiter ausbaut. Was Kino ist und was wir in Bezug darauf sind, lässt sich durch die Natur im Kinofilm somit erweitern: Was ist Natur für uns und was sind wir in Bezug auf sie? Das wird in diesen Filmen explizit und implizit verhandelt.
In Bezug auf die filmische Darstellung von Natur am Beispiel des Films FERIEN von Thomas Arslan schreibt Sabine Nessel anknüpfend an André Bazins Überlegungen zum Thema:
D.h., um Natur filmisch vorzutäuschen, bedarf es nicht in erster Linie eines besonders fotogenen Waldes, sondern einer Präsentationsweise, in der einzelne Bilder vom Wald als ‚ästhetischer Katalysator‘ fungieren. [...] Natur im Film zu zeigen, die Bewegung der Blätter im Wind hat heute einen anderen Stellenwert. Arslans Naturschauspiel ist nicht auf der Schnittstelle von Film und Theater angesiedelt, sondern verweist auf die Schnittstelle von Film und Film. Der Film als Medium wird in FERIEN ausgestellt, nicht in einem dogmatischen, sondern in einem fotografischen Sinne, als Nachträglichkeit. (Nessel 2007: o.S.)
Anknüpfend an Kracauers Überlegungen zum Material wird hier die fotografische Arbeit des Mediums betont, sprich: Das Vermögen des Mediums Film kommt durch die Darstellung von Naturphänomenen überhaupt erst zu seinem Ausdruck. Film ist Enthüllungs- und Entdeckungsmedium, seine registrierenden und enthüllenden Funktionen hatte Kracauer in seiner Theorie des Films explizit betont. (Kracauer 1985) Zur Frage des Blicks auf Augenhöhe innerhalb filmischer Naturdarstellungen lässt sich wiederum an Trunigers Anfangsfrage anknüpfen. Wie ist Natur dann überhaupt darstellbar? Vielleicht im Sinne einer anderen konzentrierten Sichtbarkeit, die einen bestimmten Rezeptionsmodus ermöglicht? Trunigers Beobachtung bezieht sich wiederum auf Malicks Film, die Parallelen zu unserem Szenenbeispiel sind aber nunmehr offensichtlich:
Dann folgt, begleitet durch aufkommende Geräusche des Windes und unterstrichen durch das endgültige Ausblenden der Wagner-Ouvertüre, eine knapp vier Sekunden dauernde Nahaufnahme, die im Erzählfluss des Films nur als kurzer Moment des Innehaltens vor einem Szenenwechsel wahrgenommen wird: Das eben noch stumme Gras wird nun vom Wind gezerrt und aufgewühlt. – Und unvermittelt haben wir das Gefühl, Natur zu sehen. Doch Natur ist unsichtbar. Was wir sehen, sind zunächst einmal berückende Landschaftsbilder, Bilder von unberührten Flecken der Natur, in Grün, in Blau, im Braun des Waldes und immer wieder in Grün, den Horizont und den Himmel, der über alles gespannt ist. Malick komponiert seine Einstellungen meisterhaft zu spektakulären Blicken, zuletzt beispielsweise in überwältigenden Tableaus sprühender Gischt über einem Wasserfall und riesiger Bäume mit üppigem Blattwerk in The Tree of Life (2011). Solche Bilder verweisen auf Natur, als absichtsvolle Versuche einer Überwältigung aber sind sie in erster Linie Landschaftsbilder. Zwischen diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – phänomenalen Einstellungen finden sich aber einzelne Bilder, wie jene des wogenden Grases, die gleichzeitig Natürliches ästhetisch überformt zeigen, aber auch figurativ darzustellen vermögen, was Natur im Innersten ausmacht. (Truninger 2013: o.S.)
Zwischen der Evidenzwerdung von Natur mittels Film und ihrer ästhetischen Erfahrung anhand/durch größere/r szenischer Einschübe oder auch kleinerer, impliziter oder expliziter, déphasagen innerhalb eines klassischen Handlungsverlaufs, gilt es dabei einmal mehr, die Bandbreite dieser Naturverhandlungen in den Blick zu nehmen. Insofern stellt sich dies eben auch immer, mit Roger Odins Semiopragmatik gedacht, als eine Frage an die jeweiligen Lektüremodi dar, mit denen ein Film gesehen wird. (Odin 2019) Und dann: Tritt die Narration in den Hintergrund, wird die Rezeption womöglich gar anders von der Naturinszenierung im Film in irgendeiner Form ‚angerufen‘? Kurosawas Dersu Uzala scheint genau dies zu ermöglichen: die Eröffnung/ Erschließung neuer Rezeptionsmodi der Natur.
Arsenjew, Wladimir (1952) Dersu Usala der Taigajäger, übersetzt von A. Böltz. Dresden: Sachsenverlag.
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