Der wiederkehrende Tote als Figur des Dritten in Denis Côtés GHOST TOWN ANTHOLOGY
Als filmische Figuren markieren und problematisieren Geister und Gespenster die Schwelle zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Anwesenheit und Abwesenheit auf verschiedene Weisen. In diesem Sinne soll der als Gespenst oder ,Revenant‘ zurückkehrende Tote hier als eine differenztheoretische Diskursfigur des Films ausgedeutet werden, die als eine Figur des Dazwischen, des Übergangs, aber auch der Konfrontation mit dem Unheimlichen verstanden werden soll. Leitthematisch orientiert sich die Betrachtung an den Figurationen des Dritten, die in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Kontexten als eigenständige Agenten beschrieben wurden. Dabei hat sich der Begriff des Dritten in den vergangenen Jahrzehnten in den unterschiedlichsten kulturwissenschaftlichen Teildisziplinen als fruchtbarer Terminus erwiesen und seine Funktionalität in einer Vielzahl an teils historischen, teils interkulturellen Forschungszusammenhängen deutlich gemacht (vgl. Koschorke 2010). Alle diese Bereiche nutzen Begriffe oder Figurationen des Dritten, um duale Denkmodelle entweder in einer höheren Einheit zu synthetisieren, sie also in einer wie auch immer hierarchisch strukturierten Ordnung aufzulösen, oder diese zu stören und das Dritte so als eigenständige und bisweilen auch widerständige Größe vorzustellen.
Das Dritte markiert so vor allem eine „Nahtstelle“ (Waldenfels 1997: 115), einen Schwellenbegriff, der bestehende Bruchstellen in Diskursen sichtbar macht oder diese zuerst hervorruft. So ist es keine „Lösungs-, sondern eine Strategiefigur, Möglichkeit der Artikulation von Widerständigem an den Grenzen des Denkens in Dualismen, die es ausstellt und durchkreuzt, nicht aber überwindet“ (Breger/Döring 1998: 3). Dass der Film ein ausgesprochenes Interesse an diesen Qualitäten des Dritten aufweist, haben zuletzt Lisa Åkervall und Chris Tedjasukmana deutlich gemacht, die gerade die figürliche Paradoxalität „schattenhafter Erscheinungen“ wie „Phantomen, Wiedergängern, Gespenstern, Vampiren und anderen Untoten“ im Kino hervorheben (Tedjasukmana/Åkervall 2016: 11). Am Beispiel von Denis Côtés Film GHOST TOWN ANTHOLOGY (Originaltitel: RÉPERTOIRE DES VILLES DISPARUES; CAN 2019) soll gezeigt werden, dass der wiederkehrende Tote als Revenant die Konfrontation des Menschen mit dem Fremden und Unheimlichen als Figur des Dritten verkörpert. Der Film setzt einen innerfilmischen Diskurs über die Grenze an sich und ihre Perforation in Gang, der auf dem differenztheoretischen Potenzial des Dritten aufbaut. Die Auseinandersetzung mit dem Gespenst im Film kann auch als ein Prozess des Vertraut-Machens mit den eigenen Gespenstern und dem eigenen Fremden gedeutet werden. Denn, wie Julia Kristeva ausführt: „Als Unheimliches ist das Fremde in uns selbst: Wir sind unsere eigenen Fremden – wir sind gespalten.“ (Kristeva 1990: 198)
Der wiederkehrende Tote ist einer der zentralen Fixpunkte der ,Hantologie‘ (frz. ‚hanter‘ = heimsuchen) Jacques Derridas, der den Revenant zuerst aus einer Lektüre Heideggers (Derrida 1992), dann einer Lektüre von Marx und Shakespeare (Derrida 2004) und schlussendlich aus dem Medium Film selbst ableitet (Derrida 2017). In diesen drei Stationen entwickelt sich ein Verständnis des Revenants als Figur der Liminalität par excellence, die die Aporie des Sterbens sowie die des Überlebens, des Erbes und des Lebens mit den Gespenstern gleichermaßen entwirft. Dabei wird ein Bogen gespannt von einer Kritik an der metaphysischen Trennung von Leib und Seele hin zur Übertragung und zum (spektralen) Nachleben des Menschen als sein eigenes Gespenst im Film. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Gespenst als Figuration des Dazwischen stehen für Derrida zwei Szenen, die beide seine Beschäftigung mit dem Erbe und dem Nachleben des Kommunismus in Marx’ Gespenster (Derrida 2004) strukturieren.1 Erstens ist dies Marx’ einleitende Beschwörung der Gespenster des Kommunismus in dessen Manifest der kommunistischen Partei und zweitens das Auftreten des Geistes in Shakespeares Hamlet, dessen Ausruf „the time is out of joint“ („die Zeit ist aus den Fugen“, Shakespeare 2001: 33) zum Motto der ganzen Untersuchung wird. Die komplexe Zeitstruktur, die das Erscheinen von Gespenstern nach Derrida auszeichnet und die dessen temporale Zwischen-Position beschreibt, wird deutlich, wenn Derrida fragt:
Gibt es eine Gegenwart des Gespensts? Ordnet es sein Kommen und Gehen gemäß der linearen Abfolge eines Vorher und Nachher, zwischen einer vergangenen, einer gegenwärtigen und einer zukünftigen Gegenwart, zwischen einer ‚realen‘ und einer ‚aufgeschobenen Zeit‘? Wenn es so etwas gibt wie die Spektralität, das Gespenstige, dann gibt es Gründe, diese beruhigende Ordnung der Gegenwart anzuzweifeln, und vor allem die Grenze zwischen der Gegenwart, der aktuellen oder präsenten Realität der Gegenwart, und allem, was man ihr gegenüberstellen kann: die Abwesenheit, die Nicht-Präsenz, die Unwirklichkeit, die Inaktualität, die Virtualität oder selbst das Simulakrum im Allgemeinen usw. (Derrida 2004: 61–62)
Diese paradoxe Zeitstruktur lässt den Spuk, also das Auftreten des Gespenstes in einem komplexen Prozess der Wiederholung und der Rückkehr erscheinen: „Frage der Wiederholung: Ein Gespenst ist immer Wiedergänger. Man kann sein Kommen und Gehen nicht kontrollieren“ (ebd.: 26). Gemäß der „Logik der Heimsuchung“ (ebd.) die die Hantologie auszeichnet, stellt das Gespenst so „die Frage von Leben und Tod jenseits der Opposition zwischen dem Leben und dem Tod“ (ebd.: 81). Hier ist das Gespenst als prototypische Figur des Dritten zu verstehen, die nach Koschorke immer dort aktiv wird, „wo von Schwellen, Ursprüngen, Enden und Grenzen die Rede ist und sich mit der Bildung und Auflösung von Polaritäten vom Typ innen/außen, vorher/nachher zugleich die Frage nach Vermittlern, diskursiven Doppelagenten, Grenzwärtern und Schmugglern stellt“ (Koschorke 2010: 29).
Dass Derrida das Konzept der Hantologie auch als ein medientheoretisches und konkret filmisches versteht, wird klar, wenn er die „kinematographische Erfahrung“ als „durch und durch zur Gespensthaftigkeit“ gehörend beschreibt (Derrida 2017: 273). Dabei rückt Derrida die Rückkehr der Toten im Film in den Umkreis jenes Begriffs des Unheimlichen, den Freud in der Wiederholung des Heimlichen, des „Altbekannten“ und „Längstvertrauten“ unter veränderten Vorzeichen beschreibt (Freud 1999b: 231). Dabei bindet Derrida den Film direkt an eine Form der Trauerarbeit, die den Toten auf der Leinwand zurückkehren lässt: „Als gespensthafte Erinnerung ist das Kino ein großartiger Trauerprozess, eine vergrößerte Trauerarbeit“ (Derrida 2017: 275). Das Kino ist so der Ort des Überlebens der Gespenster: „[S]ie werden wieder vergegenwärtigt, sie erscheinen in ihrer ganzen phänomenalen, phantastischen, d.h. gespensthaften Sprache (als Gespenster zurückkehrende Überlebende).“ (ebd.: 279)
Eine der wohl detailliertesten Darstellungen des „Gespenstes“ bzw. des „Phantoms“ als film- und medienwissenschaftliche Diskursfigur hat Petra Löffler in ihrem Essay „Phantome. Begegnungen mit dem Ungewissen“ vorgelegt (Löffler 2009).2 Hier wird vor allem mit Blick auf den Film und das Kino ein umfassendes „Denken der Phantome“ beschrieben, das sich aus medienhistorischen, literaturtheoretischen wie auch aus phänomenologischen Betrachtungen speist und sich direkt an Derridas Gedanken zur filmischen Hantologie anschließen lässt. Im Kern wird hier das Phantom und somit auch das Gespenst als „Mittlerfigur“ bestimmt, die „in die vermeintlich sichere Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion, Sichtbarem und Unsichtbarem, Anwesendem und Abwesendem“ interveniert und die „sich in dem Raum dazwischen einnistet und die Logik dieser Unterscheidung verkehr[t]“ (Löffler 2009: 98). So versteht Löffler das Phantom als „Kippfigur“, die als „Gegenstand von Kultur- und Mediengeschichte, […] als Topos, als Ort und als Figur des Dritten das Problem der Darstellbarkeit des Undarstellbaren“ (ebd.) bezeichnet. Die Situierung des Gespensts als Figur des Dritten basiert auf dieser Bewegung zwischen den Paramenten der An- und Abwesenheit, die nach Derrida die Logik des Gespensts bestimmt. Diese Dynamik kann nach Christian Sternad „in einer binären Analyse nicht abgebildet werden“ und so lediglich in einem „prekären Zwischenbereich“ lokalisiert werden, „in der alle Ordnungsraster in der Spektralität des Gespensts zu Bruch gehen“ (Sternad 2013: 41). Dieses Verunsicherungspotenzial, das dem Gespenst eingeschrieben ist, prägt die anhaltende Faszination des Films für die Ausprägung verschiedenster Gespenster-Figurationen.
Für Mark Fisher ist der Derrida’sche Begriff der Hantologie ein Schlüsselbegriff der Postmoderne und für das in ihr zum Ausdruck kommende anachronistische Verhältnis zur Geschichte. Mit Bezug auf Jameson und Fukuyama konstatiert er: „What haunts the digital cul-de-sac of the twenty-first century is not so much the past as all the lost futures that the twenty-first century taught us to anticipate” (Fisher 2012: 16). Für ihn manifestiert sich dieses Gefühl einer verlorenen Zukunft einerseits in der elektronischen Musik der 1990er Jahre wie in spezifischen Filmen dieser Zeit. Vor allem in Stanley Kubricks THE SHINING (UK/USA 1980) kommt für ihn jene anachronistische Erfahrung als „experience of a time that is out of joint“ (ebd.: 20) in der verlassenen Architektur des Overlook Hotels zum Ausdruck, dessen Ballsaal zum Schauplatz einer Überblendung von Vergangenheit und Gegenwart wird. Nach Fisher entsteht das Gespenstische „durch den Ausfall der Absenz oder den Ausfall der Präsenz“ (Fisher 2017: 75). Das Gespenst ist da, obwohl es nicht da sein sollte. Gleiches gilt ihm für den Leichnam, der umgekehrt präsent ist und doch nur die Absenz des Subjekts markiert. „Das Gefühl des Gespenstischen stellt sich dann ein, wenn entweder etwas da ist, wo nichts sein sollte, oder wenn nichts da ist, wo doch etwas sein sollte.“ (ebd.)
Denis Côtés Film GHOST TOWN ANTHOLOGY ist in der franko-kanadischen Provinz verortet, genauer einem 215-Seelen-Ort namens Irénée-les-Neiges, der bereits vor dem Einsetzen der Handlung als Geister-Dorf bezeichnet werden kann und im Laufe der Geschichte vollends zu einem solchen werden soll. Die geographische Abgeschiedenheit sowie die prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen stellen die Bewohner_innen der Ortschaft permanent vor die Frage, ob sie in der Peripherie bleiben und sich der extremen Witterung und den schlechten Zukunftsperspektiven stellen sollen, oder ob sie, wie so viele vor ihnen, den Kampf aufgeben und in die nächstgrößere Stadt ziehen sollen. Der Konflikt von Zentrum und Peripherie, der hier deutlich wird, spiegelt sich auch in den Haltungen der Menschen wider, die, wie etwa die Bürgermeisterin deutlich macht, in einer trotzigen Verbissenheit münden, welche sich nur schwerlich als stolze Standhaftigkeit zu tarnen versucht, oder in gleichgültige Hoffnungslosigkeit.
Innerhalb dieses Settings beginnt der Film mit dem Tod des 21-jährigen Simon, der mit dem Auto auf einer Landstraße von der Fahrbahn abkommt und gegen die Überbleibsel einer Baustelle prallt. Noch in derselben Szene, die den Unfall zeigt, erscheinen die ersten Gespenster. Zwei Kinder kommen aus dem nahegelegenen Wald und nähern sich dem noch dampfenden Wrack (Abb. 1). Ihre Gesichter sind durch graue Masken verdeckt, ihre Bewegungen wirken ruckhaft und steif. Sie sprechen nicht oder versuchen dem Fahrer zur Hilfe zu kommen. Zwar sind sie innerhalb dieser ersten Szene nicht explizit als Gespenster inszeniert – allein ihre Maskierung sorgt für eine äußerliche Distinktion –, doch ist es gerade diese seltsame Passivität dem Unfall gegenüber, die irritiert. Der Tod ist hier das Ereignis, das die eigentliche Handlung des Films einsetzen lässt, die Krise der Gemeinschaft auslösen wird und die Katastrophe darstellt, die alles verändert. Auch das Auftreten der Gespenster ist hier direkt an das Ereignis des Todes geknüpft.3
Der Schock, den der Tod Simons im Dorf auslöst, ist den Gesichtern der Bewohner_innen in der darauffolgenden Trauerfeier zutiefst eingeschrieben (Clip 1). Dabei scheint allen Anwesenden klar zu sein, was die Bürgermeisterin in ihrer Rede ausspricht: Die Gemeinschaft selbst ist bereits im Begriff, sich aufzulösen, und permanent mit der Frage konfrontiert, wie es weitergeht. Die Kriegsrhetorik, die die Bürgermeisterin in ihrer Rede verwendet, macht deutlich, dass das Leben im Dorf ein Kampf ist. Ein Kampf also nicht nur gegen die Trauer, sondern auch gegen die Einsamkeit, Leere und die Perspektivlosigkeit einer mit ihrem eigenen Verschwinden konfrontierten Gemeinschaft.
Im Zentrum der Erzählung steht fortan die Trauerarbeit, die einen weiten Teil des Gespensterfilm-Genres nach Glasenapp ausmacht (vgl. Glasenapp 2020: 158–161). Der filmische Trauerprozess wird im Genre des „Trauerfilms“ als Heldenreise in Szene gesetzt, der die Wandlung des Trauernden im Sinne Freuds als einen Weg beschreibt, an dessen Ende die Bewältigung steht und die den Trauernden „frei und ungehemmt“ (Freud 1999a: 430) entlässt. In Côtés Film dagegen ist die Trauerarbeit als Prozess einer Gemeinschaft verstanden, die in ihrer kollektiven Trauer mit der eigenen Fremdheit konfrontiert wird und verschiedene Wege finden muss, diesen Konflikt zu durchleben. Dieser Prozess entfaltet sich im Anschluss an die Trauerfeier im privaten, aber auch im öffentlichen Geschehen im Dorf als Verfallsgeschichte. So etwa im Falle der Bürgermeisterin, welche sich gegen jede Hilfe ‚von außen‘ wehrt und auch die Psychologin abweist, die ihr von offizieller Seite aus geschickt wird. Sie ist bemüht, den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft zu beschwören und für jeden im Dorf da zu sein, hat dabei aber mit dem eigenen Alkoholproblem zu kämpfen. Auch die Ehe der Eltern Simons zerbricht am Tod des Sohnes. Der Vater, der die Familie verlässt, folgt schließlich seinem Sohn in den Tod. Der Suizid des Vaters ist dabei als Gang in den Wald inszeniert, aus dem dieser nicht mehr hinausfindet.
Dass der Tod Simons ein Ereignis von größerem Ausmaß darstellt, macht dessen unvermittelte und rätselhafte Rückkehr deutlich sowie das allmähliche Auftreten auch anderer Toter an verschiedenen Schauplätzen im Dorf. So erscheint Simon seinem Bruder Jimmy, seiner Mutter und seinem Vater, nachdem alle drei sich auf die Suche gemacht haben, mit ihm in Kontakt zu treten: die Mutter, indem sie in der Nacht den Arbeitsplatz ihres Sohnes aufsucht, der Bruder, der am Sarg Simons stehend nach ihm ruft, und der Vater, der mit Auto ziellos durch die Landschaft fährt und Simon plötzlich an der Straße stehen sieht.
Das Erscheinen der anderen Verstorbenen, die nach und nach im Dorf auftreten, wird von den meisten Bewohner_innen als ein Zeichen gesehen, das das Ende ihres Kampfes einläutet. Im Sinne der christlichen Apokalyptik ist die Auferstehung der Toten verbunden mit dem Ende der Welt. So sieht es auch das kauzige Paar Richard/Louise, die beim Spazierengehen im Wald den aufgerissenen Kadaver eines Rehs finden. Der hinzutretende Jimmy beugt sich über das tote Tier und fragt sich mit den anderen, was dieser neuerliche Tod zu bedeuten hat. Louise ist es, die die Frage mit den Ereignissen zuvor in Verbindung bringt: „Seit dem Tod deines Bruders ist alles möglich.“ Auf die Frage Jimmys, was sie damit meine, antwortet sie nicht weniger lakonisch-kryptisch, dass „die Welt auf dem Kopf“ stehe (Abb. 2). Das „Aus-den-Fugen-Sein“ der Zeit und somit der Welt ist auch die Schlussfolgerung der Nachkommen Hamlets, die in dem Auftritt des Geistes des verstorbenen Vaters genauso ein Zeichen dafür sehen, dass weder das eine noch das andere nach der bisherigen Logik funktioniert, die auf der strikten Trennung von Leben und Tod basiert.
Der Grund, warum der tote Simon plötzlich zurückkehrt und sich erst seiner Mutter, dann seinem Bruder und schließlich auch dem Vater zeigt, bleibt den ganzen Film über im Unklaren. Einen Hinweis, der aber keineswegs als finaler Schlüssel zum Film gelesen werden darf, liefert einerseits die Frage nach dem vermeintlichen Selbstmord Simons, der nach katholischem Glauben nicht nur ein Begräbnis auf dem Friedhof der Gemeinde ausschließt, sondern auch den Zugang ins Himmelreich. Andererseits kann die Schwierigkeit, den Leichnam standesgemäß zu begraben, als Hinweis gedeutet werden: Aufgrund des zu stark gefrorenen Bodens wird Simon zunächst nicht beigesetzt, sondern soll bis zum Frühjahr in einer Hütte neben der Kirche aufbewahrt werden. Die Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Begräbnisriten ist bereits bei dem antiken Autor Plinius das Motiv einer der ersten überlieferten Geistergeschichten und Urszene des ,Haunted House‘-Topos des filmischen Gespensternarrativs (vgl. Glasenapp 2020). Dieser berichtet in einem seiner Briefe die „grausige“ aber auch „wunderbare“ Geschichte von einem verlassenen Haus in Athen, in dem nachts die Geräusche von rasselnden Ketten zu hören sind und der Geist eines alten Mannes gesichtet wurde (Plinius 2003: 417–421). Das Gespenst, das jede Nacht durch das Haus zieht und die Nachbarn in Angst und Schrecken versetzt, weist schließlich einen mutigen Philosophen, der es wagt, eine Nacht darin zu verbringen, an jene Stelle, an der der Leichnam des Mannes unwürdig und in Ketten verscharrt wurde. Erst nachdem die Überreste des Mannes ausgegraben und öffentlich bestattet wurden, finden das Gespenst und mit ihm die Menschen im Umfeld des Spuk-Hauses Ruhe. Der Grund für die Heimsuchung der Lebenden durch den Toten liegt hier also in der nicht standesgemäßen Ausführung der Begräbnisriten. Der Tote kehrt zurück, um die Lebenden mit der Aufgabe zu betrauen, dieses nachzuholen. Gleichzeitig erteilt der Tote dem Lebenden eine „moralische Lektion“ (Brittnacher 1994: 101), die ihn zum Respekt gegenüber den Traditionen und Gesetzen ermahnt. Das Erscheinen des Gespenstes ist so als Störung in der symbolischen, moralischen oder religiösen Ordnung zu verstehen, die auf die eine oder andere Weise korrigiert werden muss (vgl. Davis 2007: 2). Auch in Côtés Film kann Simons Leichnam zunächst nicht bestattet werden und bleibt in einem Zwischenreich gefangen, das so die nicht bewältigte Trauer, die nicht abgeschlossene Trauerarbeit der Hinterbliebenen figuriert.
Hier unterscheidet sich die Figur des Gespensts deutlich von anderen filmischen Figurationen Untoter, wie Vampiren und Zombies.4 Diese sind zwar auch Wiedergänger, die einen Transit-Status zwischen Leben und Tod markieren, doch sind sie immer noch von einem sinnlich-kreatürlichen Verlangen getrieben und von einer „überwältigenden Körperlichkeit, mit Gewimmel, Gestank oder klebriger Konsistenz“ (Brittnacher 1994: 83) ausgestattet. Hunger und Durst, die den Vampir und den Zombie antreiben, sind auch für den Menschen nachvollziehbare Bedürfnisse. Auch der Wunsch nach einer angemessenen Ruhestatt oder der Aufklärung eines Verbrechens, das zum Tod des vormals Lebenden führte, somit nach Gerechtigkeit oder Rache (wie im Falle von Hamlets Vater), sind verständliche Motive. Und es sind Probleme, die sich lösen lassen – oftmals mit dem wiederholten Tod, der als endgültiger die vornehmliche Ordnung wiederherstellt. Das Gespenst hingegen, das ohne ersichtlichen Grund erscheint, „insistiert auf der Ratlosigkeit als der konstitutiven Wirkungskategorie“ (ebd.: 101) und übersteigt in seiner spektralen Körperlichkeit jegliche natürlichen Bedürfnisse.
In Côtés Film erscheinen die Toten so ohne klare Agenda, ohne Anklage, ohne eine Nachricht oder einen Auftrag an die Lebenden – „ohne erkennbaren Anlass“ (ebd.). Zwar bittet Jimmy seinen Bruder immer wieder um ein Zeichen aus dem Jenseits, um eine Antwort auf die Frage nach dessen Freitod zu bekommen, doch sind diese Versuche weder als rituelle Beschwörungen inszeniert, noch im Sinne einer Nekromantie mit der konkreten Absicht verbunden, den Toten auferstehen zu lassen (Abb. 3). Vielmehr entspringen die Kontaktversuche Jimmys dem Wunsch zu verstehen, warum der Bruder sich vermeintlich selbst umgebracht hat. Dieser unerfüllt bleibende Wunsch ist die eigentliche Trauerarbeit, die der Film erzählt.
Die Gespenster, die die Gemeinschaft heimsuchen, benehmen sich, wie bereits angedeutet, äußerst widersprüchlich und halten sich kaum an die genretypischen Verhaltens- und Erscheinungsweisen, die sonst aus Gespenster- oder Horrorfilmen bekannt sind – auch nicht an zeitliche Regeln, etwa die der „Geisterstunde“ als Schwelle zwischen den Tagen. Die Toten im Film erscheinen bei Tag und Nacht, und das ohne jegliche inszenierten Begleiterscheinungen. Ihr Auftreten ist in der Regel beiläufig und wird im Laufe der Handlung immer alltäglicher. Allein die Erscheinungen in den Privaträumen werden teilweise nach genretypischen Mustern erzählt, was die Intensität dieser Szenen deutlich steigert.
Vor allem verzichten die Revenants auf die direkte Ansprache der Lebenden. Hamlet dagegen überträgt seinem Sohn den Auftrag, den eigenen Tod zu rächen und ihm so posthume Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hier sind die Toten jedoch stumm. Allein ihr Blick ist fest, neutral, aber nichtssagend. Auch verfügen sie über keine bedrohliche äußerliche Erscheinung, wie sie etwa im Totentanz (,Danse macabre‘) der klassisch romantischen Geistererzählung deutlich wird. Dort ist die Auferstehung der Toten als pompöser Reigen figuriert, der den Lebenden „die Schöpfung so vor[…]führt, wie sie in ihrem Wesen ist, wenn der Zuckerguß einer kurzen Schönheit abgeblättert ist: Physiologische Zuckungen, vergehende Natur, das Knacken von Knochen und Klappern von Gebein“ (Brittnacher 1994: 103). Die Toten in Côtés Film hingegen sind nicht körperlos oder in ihrer Phänomenalität als Gespenster zu erkennen – tatsächlich sind sie, wie sie im Leben waren, und können sogar fotografiert werden. Die minimale Differenz, die sie von den Lebenden trennt, liegt also nicht in einer filmisch inszenierten Andersartigkeit, die sich in einer fragilen Körperlichkeit oder einer spektralen Durchsichtigkeit äußert. Es sind ihr plötzliches Erscheinen, ihre Passivität und ihre Stummheit, die die einstmals vertrauten Familienangehörigen von den Lebenden scheiden und die das Rätsel, das sie darstellen, potenzieren. Ihre scheinbare Untätigkeit und Sprachlosigkeit sind so die Marker ihrer Fremdheit. Wenn der lebende Tote als „idealer Botschafter, um den Lebenden vom Reich der Toten zu berichten“ (Meteling 2007: 526) verstanden wird, so unterlaufen die Gespenster hier genau jene Funktion der Vermittlung und werden zu „einer rhetorischen Projektionsfigur, die allein das Begehren nach Verstehen spiegelt“ (ebd.: 527).
Nachdem das Auftauchen der Toten mehreren Bewohner_innen aufgefallen ist und auch die Bürgermeisterin ihr Erscheinen wahrgenommen hat, beginnt im Dorf ein hitziger Diskurs über die Fremden, die das Dorf heimsuchen. Es wird deutlich, dass die Rückkehr der Toten nicht als glückselige Wiedervereinigung gedeutet wird, sondern als tiefe, kollektive Verunsicherung. Die Frage nach der Bedeutung ihres Erscheinens ist dabei nur sekundär, da sie sich, wie schnell erkannt wird, einer Beantwortung entzieht. Stattdessen macht sich ein allgemeines Misstrauen unter den Bewohner_innen breit. Weil die Geister äußerlich durch nichts von den Lebenden zu unterscheiden sind, stellt sich für sie die Frage, wem sie noch trauen können. Die Fremden im Dorf werden als Bedrohung wahrgenommen, gerade weil nicht klar ist, was sie eigentlich wollen.
Das Paar Louise/Richard sinniert, die Geister auf dem Feld vor ihrem Haus beobachtend, was sie tun sollen (Abb. 4). Louise schlägt vor, nur noch mit Menschen zu sprechen, die sie kennen, sich also noch weiter abzuschotten und allen zu misstrauen, die sie als Außenseiter_innen ansehen. Richard ist sich der Sache nicht so sicher und glaubt gar eine Ähnlichkeit mit den Anderen zu erkennen. Diese beiden Haltungen den Toten gegenüber sind die zwei Wege, die der Film als Möglichkeiten aufzeigt: der weitere Rückzug in die Isolation, die mit der Ablehnung allen Fremden gegenüber einhergeht, oder die Akzeptanz der Toten und der ambivalenten Situation, die sie forcieren.
Für Zygmunt Bauman steht die Figur des Fremden als Dritter zwischen dem Freund und dem Feind. Für ihn ist die gesellschaftliche Ausgangslage die „Freund/Feind-Opposition“, die „Wahres von Falschem, Gutes von Bösem, Schönes von Hässlichem“ trennt, aber gerade in dieser klaren Differenz und Struktur die Welt „lesbar und deshalb instruktiv“ (Bauman 1992: 93) macht. Er sieht diese „zweiteilige Matrix“ und den „behagliche[n] Antagonismus“ (ebd.: 95) der dualen Opposition von Freund und Feind durch den Fremden als Dritten fundamental bedroht:
Er [der Fremde, F.F.] stellt die Opposition zwischen Freunden und Feinden als die completa mappa mundi in Frage, als der Unterschied, der alle Unterschiede aufzehrt und deshalb nichts außerhalb seiner sein lässt. Da diese Opposition die Grundlage ist, auf der alles gesellschaftliche Leben und alle Unterschiede, die es zusammenflicken und zusammenhalten, beruhen, untergräbt der Fremde das gesellschaftliche Leben selbst. Und all dies, weil der Fremde weder Freund noch Feind ist; und weil er beides sein kann. (ebd., Herv. i. O.)
Die Gemeinschaft des Dorfes ist also durch das Auftreten der Toten nicht nur vor ein metaphysisches Dilemma gestellt, in ihm spiegelt sich auch ein konkret gesellschaftliches, das sich in dem Umgang mit dem Fremden generell offenbart. Da es sich bei den Revenants um Menschen handelt, die vormals selbst im Dorf lebten, ist die prekäre Gemeinschaft so mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert und jeder selbst mit der eigenen Zukunft als Gespenst. Die ambige Unbestimmtheit, die die Revenants ausstrahlen, ist dabei mit Bauman als ihre eigentliche Handlungsmacht zu deuten:
Ihre Unterbestimmtheit ist ihre Macht: weil sie nichts sind, können sie alles sein. Sie machen Schluss mit der ordnenden Macht der Opposition und ebenso mit der ordnenden Macht des Erzählens der Opposition. Oppositionen ermöglichen Wissen und Handeln; Unentscheidbare lähmen sie. Unentscheidbare exponieren brutal das Künstliche, die Fragilität, das Heuchlerische der lebenswichtigen Trennungen. Sie bringen das Außen nach innen und vergiften das Tröstende der Ordnung durch den Argwohn gegen das Chaos. Dies ist genau das, was die Fremden tun. (ebd.: 96)
Die Kinder sind die einzigen Gespenster-Figuren im Film, die sich nicht allein über Passivität definieren, sondern über spezifische Handlungsweisen, die an ihre Aktivitäten im Leben erinnern mögen. Ihr erstes Auftreten ist wie erwähnt an den Tod Simons geknüpft, von dem sie scheinbar angezogen werden. Später sind sie immer wieder in kurzen unzusammenhängenden Einstellungen zu sehen, wie sie gemeinsam durch die Landschaft laufen oder an verlassenen Orten spielen und toben. In allen Szenen sind ihre Gesichter durch Masken und dicke Wollmützen verdeckt (Abb. 5). Diese Maskierungen heben sie visuell von den anderen Revenants ab, die im Verlauf des Films zu sehen sind. Sie markieren die Kinder einerseits als eigenständig gruppierte Agent_innen, die nicht der Ordnung der erwachsenen Toten angehören, andererseits treiben sie das unheimliche Spiel von An- und Abwesenheit weiter voran. Die Maske ist dabei selbst die paradoxe Form der Unterscheidung von An- und Abwesenheit, die im Sinne eines dritten Elements zwischen die Betrachter_in und das Subjekt tritt. Den Effekt der Maske und den Blick, den diese figuriert, beschreibt Derrida als grundsätzlichen „Visier-Effekt“ des Gespenstes (Derrida 2004: 21). Dieser besteht aus der „gespenstischen Dissymmetrie“ der Blicke, daraus, „dass wir uns gesehen fühlen von einem Blick, den zu kreuzen immer unmöglich bleiben wird“ (ebd.: 21–22). Die Maske verdeutlicht die Asymmetrie zwischen der, die die Maske trägt und der, die der Maske gegenübertritt. Dieses Ungleichgewicht bestimmt auch den epistemologischen Bruch zwischen den Revenants und den Dorfbewohner_innen insgesamt. Als Rückkehrer_innen aus dem Reich der Toten wissen sie, was nach der Überschreitung der Grenze kommt, ohne dieses Wissen zu teilen.
In der prägnantesten Szene, in der die Kinder auftreten, interagieren sie mit einer der Dorfbewohnerinnen und offenbaren sich hierbei wiederum selbst als Mittlerfiguren. Die als depressiv dargestellte Adele, die von den anderen als „Welfare-Girl“ bezeichnet wird und die so innerhalb der Gemeinschaft bereits eine Sonderrolle einnimmt, entdeckt die Kinder beim Spielen in einer verlassenen Garage. Sie geht auf eines der maskierten Kinder zu und versucht, es in ein Gespräch zu verwickeln (Clip 2). Ihre Fragen sind dabei ganz basal und die gleichen, die auch den Zuschauenden in den Sinn kommen könnten: „Als was bist du verkleidet? Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Schnell wird Adele dabei klar, dass sie von dem Kind keine Antworten erhalten wird und sie schließt, sichtlich verunsichert, das Garagentor zwischen sich und dem Kind. Der anschließende Blick durch das Fenster zeigt ihr dann eine Landschaft, die bevölkert ist von einer Vielzahl an Menschen, die stumm und vereinzelt vor der Garage stehen. Allein die Kinder laufen und springen durch diese hindurch.
Das Schicksal der Kinder erschließt sich im Verlauf der Handlung weiter. Es findet sich eingebettet in die Geschichte des Café-Besitzers Pierre, der wie der Philosoph in der Geschichte von Plinius ein altes verlassenes Haus am Rande des Dorfes kaufen und renovieren möchte. Als er die Bürgermeisterin nach dem Haus fragt, rät diese ihm von dem Kauf ab – mit der Begründung, das Haus habe „schlechte Energie“. Sie berichtet ihm von dem vorherigen Besitzer, einem schwer depressiven Mann, der sich und seine vier Kinder im Haus umgebracht hatte. Pierre, der zunächst nichts auf diese Warnung gibt, wird später dem Geist des Vaters im Haus begegnen – und auch die Kinder bei ihm finden (Abb. 6a). Anders als der Philosoph in der Erzählung von Plinius verlässt er das Haus, ohne dem Grund für die Wiederkehr der Toten zu weiter nachzugehen, und sieht von dem Kauf ab. Seine Geste ist dabei unmissverständlich: Er überlässt den Toten ihr Haus und entschuldigt sich für die Störung. Wie als Dank für seinen Rückzug gewährt ihm eines der Kinder einen kurzen Blick hinter die Maske: Was sich hier offenbart, ist kein schreckliches Geheimnis, kein grausames Schicksal, das durch die Maske gnädig verdeckt wurde, sondern lediglich das Gesicht eines Mädchens, das überraschenderweise kein Zeichen des Todes trägt, sondern nur von einer ausdruckslosen Schwermütigkeit gezeichnet ist (Abb. 6b). Das ‚defacement‘, die De-Maskierung offenbart hier auf frappierende Weise, dass die Gespenster und die Lebenden sich kaum unterscheiden.
Der Konflikt unter den Bewohner_innen im Angesicht der Revenants bricht in der abschließenden Gemeindesitzung vollständig aus (Clip 3). Nachdem Jimmy und seine Mutter erstmals öffentlich davon berichten, dass sie den zu Beginn des Films verstorbenen Simon gesehen haben, bestätigt die von außerhalb gekommene Psychologin die Sichtung mehrerer Toter in der vergangenen Woche – und nicht nur im Dorf Irénée-les-Neiges, sondern in peripheren Gemeinden im ganzen Land. Was die Erscheinungen der Toten bedeuten, kann niemand sagen, auch die offizielle Seite nicht, doch ist für einige der Bewohner_innen klar, dass es das letzte Zeichen ist, das sie benötigen, um das Dorf zu verlassen. Andere wiederum bekunden, dass sie keine Angst vor den Geistern haben und gewillt sind zu bleiben. Die Gemeinschaft im Ort zerbricht so in zwei Lager: in jene, die angesichts der wiederkehrenden Toten die Flucht ergreifen (zu ihnen gehören auch Jimmy und seine Mutter, die die Präsenz ihres verstorbenen Sohnes bzw. Bruders nicht mehr ertragen können), und in jene, die es wie die Bürgermeisterin auf sich nehmen, mit den Gespenstern zu leben.
Die Figur des Revenants ist nach Derrida (1992: 93) auf das Kommende und die Zukunft ausgerichtet. Als Wiedergänger kündigen sie immer auch vom Gespensterdasein, das noch kommen wird, das wiederkommen und so die Zukunft heimsuchen wird. „Lernen, mit den Gespenstern zu leben“ (Derrida 2004: 10, Herv. i. O.) ist somit Derridas Weisung für die Lebenden. Der Verlust wird sich niemals kompensieren lassen, der Schmerz des Verlusts wird nicht vergehen, er wird wiederkommen. Für Christian Sternad heißt das auch, zu lernen „mit sich selbst [zu leben] – mit sich selbst als Sterblicher“ (Sternad 2015: 69) und „sich selbst als Gespenst zu akzeptieren“ (ebd.: 70). Die eigene Fremdheit einzugestehen, ist auch Julia Kristevas Weg im Umgang mit den Phantomen, die das Fremde in uns selbst darstellen:
Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewusstes – dieses ‚Uneigene‘ unseres nicht möglichen ‚Eigenen‘. (Kristeva 1990: 208–209)
Somit widerspricht der Derrida’sche Entwurf der Hantologie als unabschließbare Trauerarbeit dem psychoanalytischen und auch dem filmischen Konzept der Trauer, die hier als eine „Phase“ figuriert wird, die durchzuarbeiten und zu überwinden ist.
Die Figur des Revenants im Film verdeutlicht dies: Als ungebetener Gast erscheint der Verstorbene und konfrontiert die Hinterbliebenen mit der Infragestellung der Trennung, die sie erfahren haben. In Côtés Film kommen die Toten nicht zurück, um mit den Lebenden zu leben und die Wunde zu heilen, die durch die Trennung entstand. Ihre Präsenz und gleichzeitige A-Präsenz verunsichert die grundlegende Unterscheidung von Leben und Tod. Alle Fragen, die an sie gestellt werden, bleiben unbeantwortet. Weder haben sie einen Auftrag an die Lebenden, noch tragen sie zur Entdeckung eines Geheimnisses bei, weder dürsten sie nach Rache, noch verlangen sie nach einem standesgemäßen Begräbnis. Zwar sind sie an gewisse Orte gebunden, doch machen sie keine Anstalten, ihr Recht mit irgendeiner Form von Gewalt einzufordern – sie sind da, wo sie scheinbar nicht (mehr) hingehören. Indem sie zurückkehren, stellen sie jegliche binär gedachte Trennung von Leben und Tod zur Disposition. Im Film von Côté geschieht dies in einer so genreuntypischen Weise, das sich die Frage der Hinterbliebenen im Film auf die Zuschauenden überträgt – denn auch für sie liefert der Film keine Antworten, sondern immer nur mehr Fragen.
Als Figuren des Dritten stürzen die Wiedergänger auch die bestehende soziale Ordnung der Menschen in eine Krise und „spiegel[n] dabei die grundlegende Ambivalenz des Sozialen: Zum einen erscheint der Dritte als potentielle Quelle von Irritation und Konflikt, zum anderen als möglicher Mittler von Integration und Versöhnung“ (Hessinger 2010: 79). Die Krise ist dabei eine der Trauer, die in eine der Unterscheidung mündet: So wie die Bewohner_innen des Dorfes nicht mehr unterscheiden können, wer zu den Toten und wer zu den Lebenden gehört, wird auch die depressive Adele schlussendlich in einen tatsächlichen Zwischen-Zustand versetzt. Nach der letzten Versammlung der Gemeinde ziehen einige der Bewohner_innen in einer kleinen Gruppe hinaus auf eines der Felder. Hier finden sie Adele, die mit ruhiger und bestimmter Miene mehrere Meter über dem Erdboden schwebt (Abb. 7a und 7b). So erscheint sie zunächst als von ihrem Leiden erlöste Heilige, die den irdischen Wirrnissen enthoben ist. Ihre Levitation zeigt sie allerdings buchstäblich in einer Zwischen-Position: zwischen Himmel und Erde.
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