Mary Ann Doanes feministische Theoriearbeit zwischen Standbild und Bewegungsbild
Die Theorien der feministischen Filmwissenschaft waren in den 1970er Jahren angetreten, um mit politischem Impetus die in den Film eingeschriebenen Dichotomien (insbesondere das Verhältnis der Geschlechter) zu kritisieren. Die Geschlechtercodierung der Zuschauerschaft durch einen ‚männlichen Blick' war dabei ein zentraler Kritikpunkt am Hollywoodkino. Es geht im Folgenden nicht darum, diese Theorien noch einmal zu referieren, sondern darum, sie im Kontext einer späteren Diskussion um die Modalitäten des Bildes (Standbild versus Bewegungsbild) – also nachträglich – noch einmal zu lesen und zu befragen. So hat beispielsweise Laura Mulvey nach einem linchpin, einem Achsnagel, gesucht, der das patriarchale Blicksystem des Hollywoodfilms zusammenhält (Mulvey 1973-75: 198). Ihre Analysen von innerfilmischen Momenten des ‚Anhaltens' des Laufbildes beim Auftritt des weiblichen Stars und ihre Bezugnahmen auf das fotografische Starportrait beziehen sich auf die Frage des Bildes, auf das Verhältnis von Standbild und Bewegungsbild im allgemeinen und auf Filmstandbilder als spezifische Bildkategorie im besonderen.
Filmstandbilder sind Gebrauchsfotografien der Filmindustrie oder Werbeträger. Manche erreichen den Status von Ikonen oder Fetischobjekten, aber die Mehrzahl ist Massenware, die ein Schattendasein führt neben der eigentlichen Attraktion, dem Film. Filmstandbilder sind keine Werke im eigentlichen Sinne. Es gibt zwar die Berufsgruppe der Standfotografen, diese treten aber in der Regel nicht als Autoren ihrer Fotos auf. Als Zusätze im wörtlichen Sinne werden Filmstandbilder einem Werk (dem Film) beigefügt. Ihr Status ist der eines Klappentextes bei einem Buch. Der genuine Einsatzort, an dem Filmstandbilder öffentlich präsentiert werden, ist das Kino. Filmstandbilder sind dort einem ganz bestimmten Bereich vorbehalten: der Schwelle zwischen Stadtraum und Kinosaal.
Genau an diesem Übergang sollen sie das Laufpublikum, die Kinogänger, verführen und ins Kino locken. Filmstandbilder sind also Teil einer Passage und vermitteln zwischen zwei Orten. Und so wie jede Vermittlung nicht ohne Ansprache des Begehrens auskommt, arbeiten auch Filmstandbilder mit einem Versprechen. Sie vermitteln dabei nicht einfach nur von der Straße ins Kino wie Jahrmarktschreier oder Animierdamen. Sie begleiten vielmehr die Filmaufführung: sie bereiten sie vor und trauern ihr nach. Es sind die letzten Standbilder vor dem Film, auf die man als Betrachter noch einen prüfenden Blick werfen kann. Man betrachtet die Bilder und vergewissert sich seiner selbst, bevor man einen Teil dieser Selbstverfassung vorübergehend im Kino aufgibt. Nach dem Film sind sie dann wieder zur Stelle und zeigen sich in einem anderen Licht: Es sind jetzt Erinnerungsbilder, die ein Wind aus Melancholie umweht, vergleichbar mit den Fotos vom letzten Urlaub. Gleichzeitig ist ihre Präsentation von Anfang an als vorübergehende gekennzeichnet. Sie werden in Schaukästen mit Nadeln oder Reisnägeln angesteckt und bilden ein Provisorium, solange wie der Film im Kino gezeigt wird. Danach verschwinden sie entweder in einem Archiv, bei Sammlern oder Fans oder im Abfall.
Bildtheoretisch markieren Filmstandbilder eine Differenz zwischen zwei unterschiedlichen Bildauffassungen. Die gängige Bildauffassung, zu der auch die Fotografie gerechnet werden kann, begreift das Bild als ein Standbild. Mit der Erfindung des Films wurde diese Bildauffassung zu einem theoretischen Problem: Zum einen erscheint der Film als ein Bewegungsbild, das den Betrachter aufgrund seiner zeitlichen Struktur in einen anderen Wahrnehmungsmodus versetzt. Zum anderen besteht der Film in seiner Materialität weiterhin als ein Filmstreifen aus einzelnen statischen Bildern. Dieses bildtheoretische Paradox zeigt sich in der Filmtheorie bis heute 1.
Der Aufsatz von Mary Ann Doane „Film and the Masquerade" ist einer der Schlüsseltexte feministischer Filmtheorie. In diesem Aufsatz fragt Doane nach einer weiblich konnotierten Zuschauerschaft jenseits der festgeschriebenen Dichotomien (Doane 1982) 2. Ihr Text lässt sich gleichzeitig wie ein verschlüsselter Kommentar zum Thema Filmstandbilder lesen, ohne dass diese Bildform darin ausdrücklich benannt wird. Bereits im ersten Abschnitt – mit ihrer Platzierung der Metapher des »Hieroglyphischen« als einer verzifferten Bilderschrift, die sie durch einen Rekurs auf Sigmund Freud einführt, der seinerseits Heine zitiert – enthüllt sie den Charakter der Filmstandbilder als einer ‚latenten' Bilderschrift. Einerseits – so Doane – sind Hieroglyphen (respektive Filmstandbilder) unentzifferbar, ohne den Kontext oder Schlüssel zu ihrer Sprache zu besitzen. Andererseits – so Doane weiter – ist das Hieroglyphische die lesbarste aller Sprachen. Direktheit und Zugänglichkeit ergeben sich aus dem Status einer bildhaften Sprache, als einer Schrift in Bildern (Doane 1994: 79).
Die von Doane in diesem Kontext zitierte Filmszene aus NOW VOYAGER (USA 1942) zeigt die Transformation einer jungen Frau (Miss Vale/Bette Davis), der durch Zufall auf einer Schiffsreise eine neue Identität angetragen wird (Miss Beauchamp). Der Bildstatus, den die Frau dabei erhält, ist sicherlich der eines weiblichen Stars und Schauobjekts (wie der frz. Name unterstreicht). Die Verwandlung hat einen Vorlauf: eine psychiatrische Behandlung, an deren Ende die Brille der Patientin vom Psychiater konfisziert wird. Die Opposition der ‚Frau mit Brille' versus 'ohne Brille' ist seither zu einem Topos feministischer Filmtheorie geworden.
Die fehlende Brille wird aber – und das lässt Doane unkommentiert – durch einen Hut ersetzt. Und dieses Schweigen Doanes über den Hut ist deshalb kurios, weil ihr Text mit dem bereits erwähnten Freudzitat beginnt und ausdrücklich auf Kopfbedeckungen Bezug nimmt. Der Hut in NOW VOYAGER unterstreicht gleichsam das Wiedererscheinen der jungen Frau als Star. Er ist dabei nicht nur eine Requisite des Schauobjekts, sondern eine andere Art des Blickschutzes. Wie eine Leinwand schiebt sich die vorstehende Hutkrempe immer wieder verhüllend zwischen die Augen des Stars und die Kamera. Im Auf und Ab des Hutes entsteht gleichsam ein kinematografischer Effekt, der noch zeitlupenhaft zwischen Blick und Bild oszilliert und der jetzt tatsächlich eine Bilderschrift entfaltet, die ihren Sinn enthüllt.
Die Maskerade erlaubt das Oszillieren zwischen Bild und (weiblichem) Blick. Auch wenn sich dieses Oszillieren nicht in Filmstandbildern zeigt, so funktioniert diese innerfilmische Szene dennoch analog zu den Übergängen der ‚Maske' beim Film, die die Verwandlung eines Schauspielers in eine Rolle begleitet. Filmstandbilder zeigen solche Momente des Übergangs. Als Zusätze des Films zeigen sie die Schauspieler in Momenten, die noch nicht ganz in der Rolle aufgehen. Gleichzeitig erlaubt diese Differenz dem Zuschauer/der Zuschauerin eine Re-Lektüre, die analog zum ‚Hut-Effekt' gedacht werden kann. Sie maskiert und bringt das Verhältnis von Bild und Blick in Bewegung.
Im zweiten Abschnitt thematisiert Doane das Nähe-Distanz-Verhältnis der Filmwahrnehmung. Dabei setzt sie einen fetischistischen männlichen Zuschauer voraus, der immer eine Distanz zwischen sich und der Leinwand aufrecht hält. Abgesehen davon, dass bestimmte Filmgenres mit einem solchen Blick operieren, generalisiert Doane den cinephilen Zuschauer in seinem Fetischismus (Doane 1994: 71). Dagegen lassen sich andere Positionen anführen. Gerade in Bezug auf eine cinephile Zuschauerschaft gibt es Positionen, die umgekehrt die charakteristische Nähe der Kinoliebhaber zur Leinwand betonen. Die Cinephilie eines Roland Barthes oder eines Karl Kels drückt sich gerade in einem Versuch der Annäherung und Berührung der Leinwand aus. Beide sprechen von (imaginären) taktilen Kontakten mit dem Bild. Deutliches Kennzeichen dieser cinephilen Positionen ist nicht der Bezug auf die symbolische Ordnung des Phallus, sondern ein Bezug aufs Mütterliche3.
Dennoch erscheint das Nähe-Distanz-Verhältnis für Film und Kino eine wesentliche Rolle zu spielen. Beim Kinobesuch lässt sich dieser Aspekt als ein gegenläufiger Komplex beschreiben, der sich vor dem Übergang des Zuschauers in den Kinosaal als Effekt einer noch möglichen Distanzierung vor den Filmstandbildern im Schaukasten einstellt, obwohl man diesen ganz nah herangehen kann. Im Kino – folgt man Barthes – erscheint die Situation dann umgekehrt: Man klebt an der Leinwand, auch wenn man in größter Distanz sitzt.
Zu Doanes Abschlussfrage des zweiten Abschnitts, „Was könnte es bedeuten, sich als Zuschauer der Maskerade zu bedienen?" (Doane 1994: 79), lassen sich einerseits mit Reflexion auf das Filmstandbild, andererseits mit Blick auf den Hut der Miss Beauchamp Vorschläge machen. Letztere benutzt ihren Hut für ein Oszillieren zwischen Bild und Blick (und zwischen zwei Identitäten) und plädiert damit gleichsam dafür, das Prinzip des Kinematografen als Wechsel zwischen Bild und Verhüllung zu imitieren (Allerdings ist das Tragen von Hüten während der Kinovorführung wegen der Sichtbehinderung anderer Zuschauer verpönt). In NOW VOYAGER schließt sich die Protagonistin jedenfalls gerne ihrem neuen Reisebegleiter an, der alles sehen will, wie er sagt.
Doanes vierter Abschnitt titelt „Vom Kino auf die Straße: die Zensur des weiblichen Blicks" (Doane 1994: 81). Damit benennt Doane den Wechsel von bewegtem zu stehendem Bild, der gleichfalls das Ins-Kino-Gehen strukturiert, als einen zweiten Wechsel der Modalität des Bildes. Doane konzentriert sich aber nicht auf das Verlassen des Kinos als Überschreiten einer Schwelle, bei dem die Wahrnehmung der Filmstandbilder eine Rolle spielt. Sie versucht vielmehr – ähnlich wie Mulvey –, die patriarchalen Blickverhältnisse innerhalb und außerhalb des Kinos gleichzusetzen. Als illustrierendes Beispiel wählt sie eine Fotografie von Robert Doisneau: „Un Regard Oblique" (1981).
Doisneaus Aufnahme ist äußerst aufschlussreich für das Verhältnis von stehendem und bewegtem Bild und lässt sich auf einen Kinobesuch übertragen. Einerseits thematisiert er mit dem Schaufenster einer Galerie eine Situation analog zu der vor einem Schaukasten am Kino. Darin spiegelt sich geradezu der Moment des Verlassens des Kinos, bei dem die Straße schon im Blickfeld ist. Seitlich hängt ein Bild, das man flüchtig wie im Vorbeigehen (noch einmal) sehen kann. Weiter begegnet der Blick der Kamera zwei Schaulustigen (einem Paar), das sich möglicherweise für die nächste Vorstellung interessiert. Folgt man Doanes Analyse der Blickkonstruktion, stößt man auf den Blick des Mannes. Der Blick der Kamera bildet ein Dreieck zusammen mit dem Mann (rechts) und dem Bild (links). In dieser ‚männlichen' Perspektive gibt sich die Fotografie scheinbar ganz zu erkennen. Die Begehrensstruktur fährt einmal das Dreieck ab, bevor sie verlöscht. Alles ist vorgegeben. Das ist die Zote, die Doane in ihren Ausführungen beschreibt, jene Zote, die auf Kosten der Frau erzählt wird und die die weibliche Zuschauerschaft ausschließt (Doane 1994: 83f).
Wenn man Doisneaus Fotografie aber als Filmstandbild denkt, führt dies zu der Frage nach dem Blick der Frau und zwar aus folgendem Grund: Folgt man diesem Blick – und jetzt gehe ich über Doane hinaus –, so ergibt sich keine unmittelbare Auflösung als Zote (oder als Witz, wie es bei Freud heißt). Der Blick führt in eine Off-Struktur innerhalb des Bildes, die nur von einem zweiten Bild, einer zweiten Einstellung, einem Gegenschuss aufgeklärt werden kann, bei der die Kamera auf die Seite der Protagonistin wechselt (die Fotografie muss dazu filmisch werden). Durch den Blick der Protagonistin wird eine andere, anhaltende Begehrensstruktur erzeugt, die typisch ist für Filmstandbilder. Durch den ‚weiblichen Star' (und damit analog zur feministischen Filmtheorie) – aber nicht durch eine Fixierung – wird hier eine metonymische Struktur (meine Phantasie als Betrachter) in Gang gesetzt.
Allerdings beschränkt sich dieser ‚weibliche' Blick weder auf eine Zote, noch handelt es sich um einen ‚fehlenden Blick', wie Doane es vorschlägt (Doane 1994: 85). Im Gegenteil birgt er das Potential eines elaborierten Spiels von Ersetzungen, die die Voraussetzung für einen Spielfilm darstellen, der ja gewöhnlich neunzig Minuten dauert und der sich gerade nicht in einem Witz erschöpft oder entlädt. Das Problem liegt in der Reduktion der Fotografie auf die Zote oder in der Betrachtung des Bildes von Doisneau als einfache Fotografie. Dabei ist es gerade das von Doane zusammengetragene Material, das die Facetten eines zweiten Textes liefert, bzw. die Fotografie als Filmstandbild oder impliziten Film erscheinen läßt. Trotz Doanes eigener Skepsis erzählt ‚sich' in dieser Fotografie – und im Kontext des Textes von Doane – die Geschichte eines anderen, möglicherweise weiblichen Blicks.
Die Anordnung der weiblichen Protagonistin ähnelt der Szene aus NOW VOYAGER. Mein Blick verbleibt zunächst bei der weiblichen Zuschauerin, denn sie eröffnet eine Schaulust, die kein unmittelbares Lachen, keine unmittelbare Eruption oder Auflösung verspricht. Er wandert über das Gesicht der Frau, zur Brosche auf dem Mantelkragen, zu ihrer Hand im Handschuh, mit der sie sich ans Revers greift und verweilt dann eine ganze Zeit auf ihrem komplizierten Hut, der eine Art Knotenpunkt bildet. Wenn Doane mit ihrer Vermutung richtig liegt, dann schaut diese Frau vielleicht in einen Spiegel und begutachtet ihren eigenen Hutknoten. Das Merkwürdige ist nun, dass es sich bei diesem Hut mit dem eigenwilligen Knoten tatsächlich um eine Art ‚Hieroglyphenmütze' handelt, die Doane zu Anfang ihres Textes zwar zitiert, aber später nicht auf dieses Bild bezieht 4. Es ist dieser ‚weibliche Star', den Doisneau fotografierte und den Doane (offenbar unbewusst) in die Beziehung zur Hieroglyphenmütze (von Heine über Freud) setzte. Auch hier gerät der Hut (wie das Filmstandbild als Zusatz zwischen Kinogänger und Film) zwischen Bild und Blick. Über den Hut (als Maske) und den Blick des weiblichen Stars wird die philosophische Frage des Heinezitats noch einmal formuliert (und ich zitiere jetzt nur die letzten drei Zeilen): Sag mir, was bedeutet der Mensch? Woher ist er gekommen? Wo geht er hin? (Windfuhr 1975: 419).
Doane nennt diese Zeilen Heines, um auf eine Verkürzung des Zitats bei Freud hinzuweisen. Mit dieser Montage von Zitat und Fotografie verlässt Doane allerdings den Bereich der Zote. Sie liefert, ohne es zu benennen, einen Beleg für eine geglückte Maskeraden-Technik.
Man kann die Diskussion des Heinezitats noch weiter ausloten. Denn auch bei Heine ist die philosophische Frage innerhalb seines Textes das Zitat eines „Jüngling-Mann[es]" innerhalb des Gedichts „Fragen". Im „Jüngling-Mann" hebt Heine eine Figur des Übergangs hervor. Dieser richtet schließlich seine Fragen ans Meer, erhält aber keine Antwort und am Ende des Gedichts wird er von Heine zum Narren erklärt. Der Epilog dieses Reisezyklus folgt eher der Freudschen Interpretation, wenn Heine dem Gedanken des Menschengeistes die Liebe gegenüberstellt (Windfuhr 1975: 427).
Schließlich bleibt zu fragen, was der Titel der Fotografie von Doisneau „Un Regard Oblique – ein schräger Blick" – eigentlich bedeutet. Der Mann schaut aus seiner Position ganz geradeaus und dazu noch fast horizontal, während der Blick der Frau schräg nach vorne und unten verläuft. Ihre Augen sind ein wenig zur Seite gerichtet. Es ist also eher der Blick der Frau, der einen schrägen oder auch indirekten Weg und noch dazu in ein verstelltes Off des Bildes unternimmt.
Doane hat die Diskussion dieser Fotografie in einem späteren Text wieder aufgegriffen (Doane 1988-89). Angeregt durch eine Kritik von Tanja Modleski unterscheidet sie darin zwei Arten der Lektüre. Die eine entspricht dem bisherigen kritisierten getting the joke (also die Zote, den Witz verstehen, auf Kosten der Frau) – und die andere einem ‚reading', also einer Lektüre. Allerdings bezieht sie das ‚reading' eher auf einen Prozess des Verstehens und nicht – wie die Ausbreitung ihres Materials nahe legen würde – auf die Entzifferung einer (Hieroglyphen-)Schrift, ein Lesen der Fotografie. Nimmt man das ‚reading' einmal beim Wort, dann lässt sich nicht nur der Titel des Bildes „Un Regard Oblique" als zusätzlicher Paratext lesen – um schließlich fragen zu können, um welchen Blick es sich eigentlich handelt.
Und es lässt sich tatsächlich buchstäblich in der Fotografie lesen. Der Blick der Kamera endet auf einem Laden auf der anderen Seite der Straße. Dieser Laden stellt mit seinen Schaufenstern eine gewisse Ähnlichkeit zum Ladenlokal der Galerie her, in der sich die Fotokamera befindet. Er trägt eine Aufschrift: „Ceinturerie". Nun lässt sich wiederum an Doane anknüpfen, die darauf hingewiesen hat, dass es sich bei dieser Fotografie nicht um einen Schnappschuss, sondern um eine durchkomponierte und kalkulierte Einstellung handelt, die gerade auf die Beiläufigkeit (z.B. der Jungen auf der Straße) setzt. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die ‚Ceinturerie' wie ein zweiter Titel des Bildes, ein Untertitel, der dem allzu klaren ersten Titel einen weiterreichenden Horizont öffnet. Es handelt sich um das Geschäft eines Gürtelmachers. Der Begriff der „ceinture" beschränkt sich im französischen nicht nur auf den Gürtel, der die Taille einfasst, sondern hat weitere Bedeutungsfacetten wie z.B. Rahmung. Mit diesem Begriff lassen sich nun die Blicke und das Thema der Fotografie noch einmal neu fassen. Die Verschiebung, die dabei stattfindet, ist die von einem Objekt des Blicks im Zentrum des Bildes, auf die Bedeutung der Rahmung in den verschiedenen Bild-Blick-Beziehungen.Der männliche Protagonist wirft seinen Blick unter die Gürtellinie der entkleideten Frau auf dem Bild (er starrt auf ihren Hintern). Hier wird ein voyeuristischer/fetischistischer Blick vorgeführt, der sich aber zwischen seinen Möglichkeiten der Bewunderung und der Bestrafung entscheiden muss. Unter dem Stichwort der ceinturerie lässt sich dieser Blick in eine sadistische Phantasie treiben, die das weibliche Gesäß z.B. mit einem Ledergürtel traktiert und für ihr Entkleidet-Sein bestraft.
Betrachtet man den Bildaufbau, so präsentiert der Blick des männlichen Betrachters die Fotografie als ein geschlossenes Bildfeld. Die Blickkonstruktion läuft auf eine Fixierung zu, die nun die Einfassung des Blicks des Betrachters vornimmt und genau jene drei Eckpunkte umschließt, die auch Doane benennt, männlicher Protagonist (rechts), Bild der Frau (links) und Betrachter bzw. Kamerastandpunkt. Diese Konstruktion beschreibt dann einen geschlossenen Gürtel. In der Zote offenbart sich mehr als ein Witz auf Kosten der Frau, nämlich die Fixierung und Beschränkung des voyeuristischen Blicks.
Folgt man dem Blick der Protagonistin, so handelt es sich nicht um einen Blick unter die Gürtellinie. Im Gegenteil gewinne ich den Eindruck, als sei die Frau (wie vor einem Spiegel) mit ihrer eigenen Einfassung beschäftigt. Ihre Gürtellinie ist verstellt und stattdessen landet der Blick des Betrachters/ mein Blick auf ihrem Hutknoten. Aber ist nicht gerade dieser Knoten ein Zeichen ihrer Einfassung? Beschreibt er nicht gerade stellvertretend jenen Punkt, der nicht gezeigt werden kann?
Das Thema des Gürtels – über den Blick der Protagonistin gelesen – offeriert keine geschlossene Situation, sondern das Potential einer Bewegung. Gerade weil der Blick auf ihre Taille verstellt ist und dieser Bereich in einer Off-Struktur verschwindet, setzt sich die Fotografie metonymisch in Bewegung und überschreitet den Rand ihrer Einfassung (bzw. generiert ein fortlaufendes Spiel von Ersetzungen).
Der Gürtel zeigt sich aber weder geschlossen (noch als Schlagwerkzeug). Er ist vielmehr verhüllt und deutet auf ein ‚anderes' Unterhalb der Gürtellinie, sozusagen auf ihre zentrale Markierung unter dem Gürtelverschluss, auf den Bauchnabel. In meiner Phantasie wird dieser unsichtbare kleine Knoten vertreten und ausgestellt in der ‚Hieroglyphenmütze'.
Dieser ‚weibliche' Blick lädt mich ein, ins Kino zu gehen. Er erzeugt ein Begehren und weckt die Erinnerung an einen Zustand einer dyadischen Verbindung, als die auch der Nabel als Signatur am Körper auftritt. Das Filmstandbild, so könnte man meinen, verweist auf den Nabel in der Off-Struktur und gibt eine Antwort auf eine der gestellten Fragen aus dem Heine-Zitat, mit dem Doane ihren Aufsatz eröffnet: „Woher ist er [der Mensch] gekommen?".
Dieses Ergebnis ist mit Rückblick auf Doanes Interpretation insofern verblüffend, weil Doanes Anordnung des Materials – gelesen auf dem Hintergrund einer Theorie des Filmstandbildes – ganz andere Schlüsse bereithält (z.B. einen anderen Blick). Die Fotografie von Doisneau führt nun auf fast didaktische Weise zwei unterschiedliche Blicke vor, einen schrägen und einen geraden. Der Blick des Betrachters vollzieht dabei selbst einen schrägen Blick zum Rand der Fotografie, um den geraden Blick des männlichen Protagonisten, wie auch dessen Objekt (das Bild der Frau) am anderen Rand zu fokussieren. Der gerade Blick des Betrachters wiederum trifft die Protagonistin, die ihrerseits einen schrägen Blick wirft, der eine Leerstelle für den Blick des Betrachters bildet. Diese Verknüpfung von Blicken beschreibt beispielhaft die zwei Übergänge zwischen Stillstand und Bewegung bei einem Kinobesuch. Der schräge Blick des Betrachters führt über den Blick des männlichen Protagonisten in eine Fixierung und Abgeschlossenheit des Bildes, während der gerade Blick auf das Gesicht der Frau in eine Bewegung oder Offenheit mündet.
Eine Geschlechtercodierung ist zwar über die Protagonisten im Sinne der Repräsentation im Spiel, für den Betrachter stehen aber beide Blickwege offen. An dieser Stelle lässt sich mit Doanes Verweis auf Gertrud Koch schließen, dass die ästhetisch avancierten Filme sich dichotomer Zuschreibung entziehen, weil sie aus komplexen Codes bestehen:
„The aesthetically most advanced films resist any facile reading, not only because they operate with complex aesthetic codes but also because they anticipate an expanded and radicalized notion of subjectivity. What is achieved in a number of these films is a type of subjectivity that transcends any abstract subject-object dichotomy; what is at stake is no longer the redemption of woman as subject over or against the male conception of woman as object"
(Doane 1988-89: 42).
Doanes Aussicht findet sich aber nicht nur in den ästhetisch avancierteren Filmen. Sie findet sich vor allem in den Zusätzen des Films: in Filmstandbildern, die immer ein Zuviel anbieten, das nicht im Filmtext aufgeht. Sie findet sich auch in der Verdoppelung des Bildes im Filmstandbild, in der nicht der weibliche Star als das hieroglyphische Rätsel erscheint, sondern das Filmstandbild als Hieroglyphe, als eine Art Metabild, das sich zwischen Film und Zuschauerschaft schiebt und dort den Balken der Dichotomien zwischen Bild und Blick zu einem Zwischenraum erweitert, in dem sich ein Bewegungsraum von verzifferter Sprache und direkter Lesbarkeit öffnet.
Barthes, Roland (1970) Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins, in: ders. (1990) Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 47–66. Frz. Orig.: Le troisième sens: Notes de recherche sur quelques photogrammes de S. M. Eisenstein. Paris: Cahiers du Cinéma 222 (1970). S.12-19.
Barthes, Roland (1976) Beim Verlassen des Kinos, in: Filmkritik Nr. 235, Juli 1976, S. 290–293.
Doane, Mary Ann (1982) Film and the Masquerade. Theorizing the Female Spectator, in: Screen 23, 3/4, 1982, dt. Übers.: Film und Maskerade. Zur Theorie des weiblichen Zuschauers, in: Weissberg, Liliane (Hg.) Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt am Main (1994).
Doane, Mary Ann (1988–89) Masquerade Reconsidered: Further Thoughts on the Female Spectator, in: Discourse 11(1) (Fall/Winter), S. 42–54.
Mulvey, Laura (1973–75) Visuelle Lust und narratives Kino, in: Nabakowski, Gislind (Hg.) Frauen in der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. S. 30–46. Engl. Orig.: Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Screen, Fall 1975, Vol. 16(3), S. 6-18.
Pauleit, Winfried (2004) Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino, Frankfurt am Main: Stroemfeld.
Windfuhr, Manfred (Hg.) Heinrich Heine, histor.-kritische Gesamtausgabe der Werke, Hamburg: Hoffmann und Campe 1975.