In technischer Hinsicht ist das Kino von Anfang an mit dem Drehen verbunden: Ein Film wird buchstäblich gedreht. Die Filmspule dreht sich bei der Aufnahme und muss sich beim Abspielen im Projektor wieder drehen. Doch wo und wie dreht das Kino durch? Was heißt Überdrehen im Hinblick auf Film und Fernsehen? Welche Produktivität entwickelt die Figur des Überdrehten für filmwissenschaftliche Fragestellungen? Diesen Fragen ging der Workshop „Überdreht im Kino" nach, der im Dezember 2004 (10.-12.12.2004) im Kino 46 in Bremen das thealit-Laboratorium „Überdreht. Spin Doctoring, Politik, Medien" 2004/2005 eröffnete. Nach dem Film präsentiert mit der No6 die (zumeist unbearbeiteten) Vortragsmanuskripte dieses Workshops und stellt sie mit diesem Experiment zur Diskussion.
Den Auftakt zum Workshop stellte ein von Christine Rüffert zusammengestelltes Kurzfilmpogramm „Die überdrehte Kamera" dar. In den präsentierten Kurzfilmen, die mit dem Drehbewegungen der Kamera selbst operieren und experimentieren, werden drei Aspekte des ‚Überdrehten im Kino' unmittelbar sichtbar: Das Überdrehen der Kamera verstört und versetzt in Schwindel, es eröffnen sich neue Zeit- und Raumpersektiven und die drehende Kamera zieht eine Ebene der Selbstreferentialität und Reflexivität ein. Mit diesen drei Ebenen sind die Facetten angesprochen, die sich - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - durch die hier verfügbar gemachten Vortragsmanuskripte ziehen. In ihrem eröffnenden Beitrag beschäftigt sich Anja Streiter mit den Filmen von John Cassavetes. Scheint es hier vordergründig und auf Inhaltsebene um überdrehte Frauen(figuren) zu gehen, zeigt Streiter, wie Cassavetes' bedingungslose Regiearbeiten „performative Exzessse" produzieren, in denen Autorschaft vervielfältigt und klare Grenzen zwischen Regisseur, SchaulspielerInnen und Filmfiguren verwirrt werden. In einem ersten Block - „Theorie-Perspektiven" - werden feministische Filmtheorien nach ihrem überdrehten Potential und ihrer Produktivität für heute befragt. Winfried Pauleit unternimmt ausgehend von Filmstandbildern eine Relektüre von Mary Ann Doanes Maskerade-Konzept und Sabine Nessel fragt ausgehend von den Katastrophenfilmen der 1990er Jahre nach der Brauchbarkeit der „Blick-Geometrie" der feministischen Filmtheorie der 1970er. Andrea Braidt, Andrea Seier, Sabine Nessel und Christine Hanke führten ein Gespräch über Perspektiven feministischer Filmwissenschaft (Abstract).
Die Medialität des Films gerät in einem zweiten Block anhand verschiedenener Materialien in den Blick: Claudia Reiche unternimmt eine Relektüre von Hans Scheirls DANDY DUST (AT/UK 1998) anhand des experimentellen Videokorns - dem „Fernsehrauschen". Petra Lange-Berndt unternimmt eine überdrehte Lektüre von Splatterfilmen entlang der Materialität der Blutersatzstoffe. Ute Holl zeigt an frühen ethnographischen Filmen, wie Kamera und Bilder von den gefilmten Tänzen affiziert werden. Ein dritter Bock wendet sich den aktuellen Überdrehungen des Fernsehens zu. In Judith Keilbachs Beitrag zu den Celebrity-Shows auf MTV wird die Semantik des „Überdreht-Seins" kritisch hinterfragt. Mira Fliescher untersucht die Ver- und Überdrehungen des Post/Feminismus in ALLY MCBEAL (USA 1997-2002).
Christine Hanke für die Redaktion
in Kooperation mit thealit Frauen.Kultur.Labor Bremen