überdrehte/unterdrehte Blicke, unbewußt.
Der Blick, von dem in dieser Rede die Rede sein sollte, der Blick, den das Kino bahnt zwischen Licht und Bewegung, zwischen dem Rhythmus der Apparate und dem der Körper, dieser Blick ist im Falle des ethographischen Films ein kolonialer oder imperialistischer. Selbstverständlich. Aber er versteht sich nicht von selbst. Er weiß — in den Fällen die wir sehen werden — trotz aller Methodologie nicht, woher er seinen Gestus der Überlegenheit bezieht, woher seine Halluzination, zu Wissen, woher seine Macht kommt, über die er gleichwohl nicht verfügt. Der Blick der kolonialen Kamera ist einer, der sich angesichts dessen, was er nicht weiß und nicht wissen kann, dreht und wendet, oder auch überdreht.
Fangen wir an mit den ersten ethnografischen Bildern. Die ersten systematischen Bewegungs-Aufnahmen von Kolonisierten, wurden von Félix Regnault gemacht, einem französischen Arzt, der sich auf pathologische Anatomie spezialisiert hatte. Da wurde noch nicht gedreht, nur geschossen. Da wurde noch nicht getanzt, nur gelaufen. Regnault photogaphierte auf der Station Physiologique Mareys im Bois de Boulogne, mit Mareys Apparaten und mit Mareys Assistenten, Charles Comte: Gehende, Gangarten. Systematisiert nach Rasse und Geschlecht. Alles in einer Ebene vor weißem Tuch. Zur rasterbaren Vermessung des Fremden. Die Aufnahmen waren chronophotographische. Die meisten Aufnahmen machte Regnault später auf der Exposition Ethnographique de l'Afrique Occidentale in Paris, 1895. Die vorgeführten Kulturtechniken werden als typische Bewegungen den Körpern der anderen angedreht.
(Beispiel: animierte Chronophotographien von Félix Regnault, bearbeitet aus der Sammlung des IWF Göttingen)
Thomas Edison hatte Tänze in seiner Black Maria aufführen lassen, 1894 bereits, mit Tänzern die er sich aus Buffalo Bill's Wild West Show ausgeliehen hatte, einen „Buffalo Dance" und einen „Sioux Ghost Dance." Die ersten animierbaren Tanzbewegungen. Kommentare berichten, der Tanz soll sichtbarer gewesen sein als die Tänzer, Licht und Bewegung in schwarz weiß, Geister der Sioux und Geister des Kinetoskops.
Die ersten bekannten Filmaufnahmen aus dem Feld sind die der Cambridge Anthropological Expedition zu den Torres Straits, die Alfred Cort Haddon (1855-1940), ein früherer Zoologe, 1898 leitete. Ihm ging es darum, alle Aspekte „eingeborenen Lebens zu retten", Daten zu aufzubewahren, „save vanishing data". Die neuesten der neuen Medien schleppte er ins Feld: Photographie, Wachszylinder Tonaufnahmegeräte. Und eine Lumière-Kamera. Der größte Teil des aufgenommenen Materials wurde durch klimatische und chemische Einwirkungen zerstört. Geblieben sind Bilder einmal eines Tanz dreier Männer und eines Versuches, Feuerzumachen.
(Ausschnitt aus Alfred Cort Haddons Filmen von der Cambrigde Anthropoligical Expedition, 1898-1899: die Malu-Zogole Zeremonie in Kiam)
Die Zuschauer, wir, werden in diese Szenen sehr verwickelt. Die Kamera ist dicht an den Protagonisten, Details der Kostüme und der Masken sind sichtbar. Haddon hält im Drehen die Kontinuität, es geht nicht um Anfang oder Ende einer Zeremonie, sondern um den Rhythmus des Tanzes, wie er sich in den Bewegungen der Tänzer verkörpert. Dieser Rhythmus bestimmt das Bild, den Rhythmus des Bildes, den Rhythmus, schließlich, in den Kinokörpern.
In den Bewegungen auf der Leinwand ist auch arhythmisches Zucken und Ziehen zu sehen. Das lässt sich zweifach erklären. Die Lumière Kameras wurden gekurbelt, handgedreht, also gibt es Unregelmäßigkeiten im Bild. So kann durchaus die Anwesenheit eines Beobachters hinter der Kamera spürbar werden, das noch zögerliche Eindringen der Forscher mit ihren Geräten ins Feld der anderen. Oder aber wir sehen es so, dass das, was die Tänzer tanzen, zucken und drehen macht, die Götter also, die sie bewegen, auch für das Zucken und Drehen auf der Leinwand zuständig ist. Unentscheidbar wird, zum ersten Mal, ob die Bewegung der Leinwandtänze von Göttern oder von der Kinematographie initiiert sind. Neben den Göttern jedenfalls wird die Anwesenheit des Kinos und seiner Ankurbelung aller müden Geister spürbar.
In Haddons Tanzfilm fällt der Raum und der Ort des Rituals ins Auge. Offensichtlich legt Haddon wert darauf, den Tanz in einer originalen Umgebung zu zeigen, um deutlich zu machen, wie dieses spezielle „etwas überdrehte Verhalten" nur im Kontext einer bestimmten Umgebung zu verstehen sei: genauso wie es Darwin für biologische Beobachtungen in der Natur gefordert hatte. Die Blätter der Kostüme passen genau zu den Blättern der umgebenden Bäume. Es scheint auf den ersten Blick sogar, als tanze der Wald. Der Tanz als Animation der Buschgeister. Das Kino als Animation der Buschgeister. Strukturell bleibt das immer parallel.
Mit den Bildern liefert Haddon Evidenz für etwas, das in Worten zu beschreiben sehr umständlich wäre, und auch „more valuable than tedious verbal descriptions"1. Die Leute, deren Kultur Haddon mit der Kamera zu „retten" („to salvage") beabsichtigt, werden gezeigt als Teil eines größeren Systems. In diesem Sinne offenbart sich Haddon als Anhänger des Evolutionismus in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts. Durch seine Bewegung zeigt das Kino dieses Verhältnis zwischen Individuum und System, aber auch als ökologisches, als Logik des Kreisverkehres, der Umdrehungen, der Revolutionen.
Haddons Anliegen, den Tanz als aufgeführte Interferenz von Umwelt, Verhalten und Entwicklung vorzuführen, kann erst der Film zeigen. Anders als Völkerschauen oder Weltausstellungen kann Kino die ökologischen Verschränkung vor Ort, im Wald, in der Wirklichkeit der Tänzer sichtbar machen. Nur die Kamera selbst wird hier noch nicht zum System des Tanzes oder des Tanzens gezählt.
Haddons Kamera ist mitten auf dem Tanzplatz aufgestellt. Dem Blick auf die Tänzer fehlt jegliche Form oder jegliches Zeichen des Respekts, der Furcht oder des Schauderns, an einer göttlichen oder dämonischen Evokation teilzunehmen. Der koloniale Blicks nimmt die Kamera in den Dienst seiner Tradition, wie sie aus den Weltausstellungen und Völkerschauen, Zoos und Zirkussen daherkommt. In seinem Buch Colonising Egypt zitiert Timothy Mitchell den Orientalisten Rifa á Rafi al-Tahtawi, der auf dem Weg zu einem Kongress in Stockholm sich die Weltaustellung in Paris anschaut und schockiert ist von der Darstellung „des Ägypters". Er schreibt: „Zu dem tiefverwurzelten Glauben der Europäer gehört, dass der Blick keinen Effekt habe."2
Walter Baldwin Spencer (1860-1929) sah Haddons Filme in der Cambridge Anthropological Society und nahm 1901 auf seine Expedition nach Australien ins Feld der Aboriginees ebenfalls eine Kamera mit. Er verdrehte er etwa 2500 m Filmmaterial: vor allem Zeremonien, meistens Tänze. Vor allem filmte er die Tjitjingalla-Zeremonie der Arunta. Spencer hatte die Zeremonie, deren Vorbereitungen und Nachbereitungen in 8 Sequenzen aufgeteilt, Schwenks und sogar Gegenschüsse eingesetzt. In seinen Aufnahmen nahm er unterschiedliche Standpunkte ein, und führte damit einen Kultur-Relativismus filmisch in den ethnologischen Blick ein: der Herrenblick ist nicht mehr räumlich fixiert. Spencer drehte den Blick des Ethnologen. Übriggeblieben und erhalten sind von Spencer's Dreharbeiten jedoch leider nur 2 kurze Szenen, die aus festen Einstellungen bestehen:
(2 Szenen aus: Walter Baldwin Spencer, Australien Expedition 1901-1902)
Spencer beginnt, in seinen Filmaufnahmen nach einem autonomen sozialen System in den Interaktionen und Reaktionen zu suchen. Die Logik der Bewegungen und die etwas überdrehten Gestik in der öffentlichen (d.h. exklusiv unter Männer geführten) Versammlung, der Diskussion, interessierten ihn genau so sehr wie die Bewegungen der Tänzer oder des Tanzes. Seine Filme gelten als die ersten, die versuchen „primitive" Gesellschaften als soziale Systeme nach eigenem Recht darzustellen, anstatt sie als exotische oder historische Zustände menschlicher Gesellschaften zu begreifen. Somit markieren Spencers Filme das Ende einer linearen Konzeption evolutionärer Geschichtlichlichkeit. Erste Risse erscheinen im Bild des Evolutionismus. Der Blick des Ethnologen wird, allmählich, als Aufforderung zum Tanz begriffen.
Ein letztes Beispiel von Tänzen in frühen ethnographischen Filmen stammt aus dem Archiv der Südseeexpedition von 1908-1910, die der deutsche Arzt Augustin Krämer nach Melanesien and Mikronesien unternahm. Damals waren das zum Teil deutsche Proktektorate: das Bismarck-Archipel, or Neu-Pommern (später New-Britanny). Wir sehen einen Film der einen Kampf zwischen den Masken des Rhinozerosvogels und dem der Schlange zeigt.
(Szenen von Augustin Krämer, Südsee-Expedition 1908-1910)
Krämer, der übrigens das Tübinger Ethnologische Institut gründete, stellt sich mit der Kamera mitten auf den rituellen Platz, fast unter die Tanzenden, und dreht. Aber die Bewegung, der Tanz, geht an der Kamera vorbei, der Kasch des Ethnologen unterbricht die Bewegung sogar.
Mit Rifa á Rafi al-Tahtawi könnte man sagen: Zu den tiefverwurzelten Glaubenssätzen der Ethnographen-Filmer gehörte, dass die Kamera keine Effekte zeitige. Dass es der Wunsch der Ethnologen sei, mit der Kamera in eine Situation einzutauchen und darin zu verschwinden, unsichtbar zu werden und aus einer Distanz zu betrachten, damit die Szene selbst ohne die Intervention von Regisseuren und Kameramännern auf der Leinwand erscheine.
Zum Teil hängen wir bis heute diesem Glauben an, finden Leute peinlich, die im Musée de l'homme anfangen zu tanzen oder durchzudrehen. Finden Szenen peinlich wie die in Murnaus Tabu, 1929/1930, die kurzerhand die Südseeszenerie zur Musicalbühne machen.
(Ausschnitt aus Friedrich Wilhelm Murnau, Tabu, 1929/1930)
Die imaginäre Bühne, die eingespielte Musik und die Broadway Choreographie sind als Interventionen eines Filmteams ziemlich sichtbar. Flaherty, mit dem Murnau den Film begonnen hatte, hatte sich damals schockiert vom Set verabschiedet. Nicht weil seine Filme weniger inszeniert wären, sondern weil es zum ethnographischen Ethos gehörte, das zu verstecken. Murnau jedoch war wiederum der erste, der sich ganz der Logik und dem Rhythmus der Südsee aussetzte. Nicht am Hollywood Regime, das er ständig überlistete, scheiterte er, sondern er am Tabu, das er mit den Dreharbeiten überschritt. Natürlich lässt sich der melodramatischer Unfall, an dem er starb auch als Inszenierung begreifen. Ritual und filmische Inszenierung greifen ineinander. Drehen sich gegenseitig.
Wenige Jahre später, zwischen 1936 und 1939 wurde dann der erste ausdrückliche Versuch unternommen, das ethnographische Wissen durch den Film grundsätzlich umzudrehen, und zwar von Margaret Mead und Gregory Bateson.
Ihr Versuch, auf Bali die wissenschaftlichen Methoden mit einem neuen Aufzeichnungs-system zu revolutionieren, sollte die ganze abgedrehte Wirklichkeit jenseits theoretischer Begrifflichkeiten aufzeichnen. Die Wirklichkeit der Fremden sollte künftig nicht mehr in westliche Begrifflichkeit übersetzt, sondern in ihren Oberflächen, ihren Bewegungen, ihren Geschwindigkeiten oder Rhythmen und in ihren eigentümlichen Lichtverhältnissen gezeigt werden.: „We treated the cameras in the field as recording instruments, not as devices for illustrating our theses." (Bateson/Mead 1942: 49)
Mead und Bateson hatten jedoch keine bestimmte Technik oder Methode prä-pariert, nach der sie drehen wollten. Sie versuchten lediglich, Logozentrismen und ihr europäisches Selbst aus dem Spiel oder dem Tanz zu halten, um auf diese Weise, wie Bateson schrieb, eine Form des Beobachtens herzustellen, die nichts vorschreibe, nichts vorhersage, nichts vorwegnehme etc. Die Kontingenz der Ereignisse oder des Verhaltens um die Ethnographen herum, der Zufall sollte die Methode machen:
„In general, we found that any attempt to select for special details was fatal, and that the best results were obtained when the photography was most rapid and almost random.“
(Bateson/Mead 1942: 50)
Die Abbildung unvorhergeseher Ereignisse, dessen eben, was nicht in die vorgeschriebenen, programmierten Netze symbolischer Bezeichnung ging, alles das, wofür es keine Sprache gab, was also nicht „predictable", was nicht vorher-sagbar war, weil es der Ordnung der schreibenden Anthropologen durch die Maschen ging, sollte die Revolution in der Anthropologie herbeiführen.
Erst als Mead und Bateson nach New York zurückkehrten, wurde deutlich, dass das Drehen erst der erste Schritt zu einer Revolution der anthropologischen Epistemologie darstellte. Die Montage der Bilder setzte irgendein strukturierendes oder organisierendes Prinzip voraus, nach dem geschnitten werden könnte. Dieses Prinzip fehlte. Die Post-Produktion wurde zunächst verschoben. Bateson begann daraufhin, sich im Rahmen seiner Seminare an der New School of Social Research mit dem Verhältnis von Medien und Anthropologie auseinander zu setzen und entwickelt nicht zuletzt aus diesen Reflektionen die Grundzüge seiner kybernetischen Theorie als einer Ökologie des Geistes (mind).
Margaret Mead indessen hat das Filmmaterial später, 1952, doch noch zu Lehrfilmen zusammengesetzt und kommentiert. Ein Ausschnitt aus „Trance and Dance in Bali", das aus Material besteht wie Gregory Bateson und Jane Belo es gedreht haben, zeigt ein Ritual, das einen Kris Tanz, einen Tanz mit scharfen spitzen Messern einschließt. Das rituelle Motiv, der Kampf zwischen Leben und Tod, ist dramaturgisch als Tanz choreografiert. Der Kampf wird ausgetragen zwischen einer Hexe und einem Drachen. Die Anhänger des Drachens werden von der Hexe in einen somnambulistischen Zustand versetzt und wenden die Messer gegen sich selbt.— Solange sie in Trance sind, verletzen sie sich nicht.
(Szenen aus Gregory Bateson, Margaret Mead: Trance and Dance in Bali, USA, 1952.)
Was immer Mead auch kommentiert, der Film zeigt, ob sie will oder nicht, am Ende der Sequenz den Kameramann selbst im Bild, als Relais in der Ökologie des Tanz-Rituals.
Trotz der etwas mangelhaften Qualität dieser Bilder gegenüber den 16mm Kopien ist offensichtlich, dass uns hier mehr geschieht als jeder schriftliche Bericht hervorrufen könnte: die physische Anwesenheit der Tänzer, die Kostüme, die Gesichter und vor allem ihre spezifischen Bewegungen ziehen uns in den Bann. Wir sehen den Platz der Rituals mit allen seinen Details, die der Aufmerksamkeit eines wissenschaftlichen Beobachters entgehen müssen, die sekundären Dinge, die Zuschauer, die die Ereignisse kommentieren, Kinder und Hunde, die vorbeilaufen.
Zugleich erscheinen Dinge, die nur mithilfe der Kinematographie sichtbar werden. Filmische Mittel zeigen, was das Auge des Ethnographen allein nicht wahrnehmen könnte: Dank der Zeitlupe können wir Bewegungen und Interaktionen sehen, die zu schnell oder zu klein sind, als dass sie in Bewegungen des echten Lebens deutlich würden.
Im Film wie Margaret Mead ihn geschnitten hat, ist diese Zeit-Lupe offenbar unsystematisch eingesetzt. In ihrem Kommentar kündigt Mead zwar an, wann Sequenzen in Zeitlupe gedreht sind, gibt aber keinen Hinweis darauf, warum bestimmte Szenen verlangsamt sind und andere nicht.
Mead hat dieses Problem natürlich von Batesons Zufallsfilmmethode geerbt. In seiner Einleitung zum Photobuch über Bali, the „Balinese Character" beschreibt Bateson, welche optische Geräte er benutzt hat, aber er bemerkt lediglich, dass „more active and interesting moments" mit der Filmkamera aufgenommen wurden, alles andere auf Photographie, da die Anthropologen sparen mussten: we had to „economize on motion-picture film" (Bateson/Mead 1942: 50). Er erklärt nicht, wann beim Drehen eines Rituals er Zeitlupe oder Zeitraffer benutzt. Karl Heider, Professor für Ethnographie an der Brown University, berichtet, dass ständig unterdreht wurde, einfach um zu sparen (vgl. Heider 1976), und wir müssen davon ausgehen, dass ökonomische Gründe und dann wieder eine seltsame Neugier dazu führten, das immer mal unter- oder überdreht wurde, also nur 16 oder 24 oder aber 32 und mehr Bilder pro Sekunde an der Kamera eingestellt wurden.
Aber nicht immer sehen wir, wie schnell oder langsam gedreht wurde: Da ja auch die Bewegungen der Tänzer , wenn sie in Trance überdrehen oder gehen, dazu neigen, langsamer zu werden, können wir den Unterschied der Filmgeschwindigkeiten manchmal nur feststellen, wenn wir die Zuschauer im Film beobachten, die sich am Rande des dramatischen oder rituellen Geschehens bewegen. Und eine andere Unterscheidung wird schwierig: Die Zeitlupenaufnahmen erscheinen als Illustrationen oder Simulationen der Trancezustände.
Bateson und Mead aber können diese Simulation der Trance durch das Medium des Films oder des Kinos selbst nicht beabsichtigt haben, denn ihre filmische Aufnahme des Rituals und des balinesischen Charakters sollte ja eben besonders objektiv sein. Selbst wenn es eine bewusste Entscheidung war, die Geschwindigkeit der Aufnahme zu manipulieren, um einen genaueren Blick auf bestimmte Bewegungen der Tänzer zu werfen, reflektiert Margaret Mead den Effekt dieser Überdrehung nicht.
Im Kino jedoch sind die affektiven Effekte von zeitmanipulierten Bewegungen — wie Rudolf Arnheim, Experimentalpsychologe und Gestalttheoretiker unterstreicht — in unterschiedlichen Projektiongeschwindigkeiten ganz andere, evozieren andere Gestalten. „Die bloße Geschwindigkeitsveränderung bewirkt zugleich eine grundlegende Ausdrucksveränderung" (Arnheim 1934/1979: 41).
In den Bildern aus Bali sind zwei Bewegungsformen, zwei Geschwindiggkeitsformen, zwei Tranceformen ineinander geblendet. Die ritualistische der Kris-Tänzer und die technische der Kinematographie. In den Tänzen und Gestalten, die sich in unseren Kinoköpfen und -körpern drehen, lässt sich das jedoch nicht unbedingt unter-scheiden.
Mead, die mit ihrem gleichbleibenden Kommentar Ordnung in das rituelle Überdrehen der Balinesen bringen wollte, bekam die Effekte dieses Mangels an Differenzwahrnehmung am eigenen Kino-Leib zu spüren. Karl Heider passte in seinen Vorlesungen die Geschwindigkeit der Projektion im laufenden Betrieb einer mittleren Normalgeschwindigkeit an. Waren ihm die notorisch ausgeglichenen Balinesen auf der Leinwand zu zappelig, dreht er die Geschwindigkeit auf 16 Bilder zurück. Zeitlupen beschleunigte er kurzerhand.
Gleichzeitig natürlich rutschte die Stimme Margaret Meads eine Oktave tiefer oder höher, je nach Zeitmanipulation. Die große alte Dame der Anthropologie, die ihre wichtigsten Bücher über die kulturelle Ausdifferenzierung der Geschlechter geschrieben hatte, klang mal wie ein Mann, mal wie ein Mädchen. So wurde den Studierenden gleich klar, dass jede kulturelle Kodifizierung immer auch Mittel zur Transformation ist.
Die Macht und die Möglichkeit der Transformation im Kino an den eigenen Leib rückzukoppeln wurde schließlich das Programm Maya Derens, der Mead und Bateson das Bali-Material zunächst für ihre eigene Studie über Rituale überlassen hatten. Im Briefwechsel mit Gregory Bateson entwickelt Maya Deren ihr Filmprojekt anhand von dessen systemischen Thesen weiter. Bateson hatte 1946 wie Deren ein Guggenheim Stipendium erhalten, sie als Filmkünstlerin, er zur Erforschung der Möglichkeiten kulturellen Wandels, genauer, zur „formulation of a nucleus of theory relating to concepts of culture, personality and character formation and the extension of this nucleus to cover the phenomenon of cultural change". Für Deren ließe sich das Projekt eher als „cultural formation of personal change" beschreiben, oder als going native mit neuen Mitteln. Als going cinematic.
Wie immer man den Briefwechsel zwischen Deren und Bateson lesen mag, als methodisches Tauziehen oder als Liebesgeschichte, beide werden am Ende das feed-back, die Rückkopplung — das Rückkoppeln — zum Prinzip ihres künstlerischen und (zugleich) wissenschaftlichen Verfahrens machen.
Maya Deren hat auf ihrer folgenden Reise nach Haiti, schließlich ohne Bateson angetreten, viele Stunden Filmmaterial gedreht, das sie nie geschnitten hat. Auch im Netzwerk ihrer Transformationen gab es am Ende kein übergeordnetes Prinzip.
In ihrem Buch über die haitianischen Götter beschreibt Deren ihre eigene Besessenheit durch die Göttin Erzulie, einer komplizierten, skandalösen, und am Ende wird man sagen können, hysterischen Göttin, die die Patronin des Traums, der Liebe und die Muse der Schönheit ist.3
Wenn ich jetzt Material zeige, das Maya Deren in einem Ritual für die Göttin Erzulie gedreht hat, so kommt das einem Sakrileg gleich, denn ich kann es nur in der Form zeigen, wie es ihr Ehemann Teiji Ito und dessen spätere Frau Cheryl geschnitten und mit einem Kommentar aus Derens Buch unterlegt haben. Ich könnte den Ton insbesamt abdrehen, jedoch hören wir darauf neben der Kommentarstimme auch akustische Aufnahmen dieses Rituals, die Deren mit ihrem Drahtrecorder gemacht hat.
(Ausschnitt aus Maya Deren, Divine Horsemen, USA, 1947-1951 (Dreharbeiten) und 1977 Itos Schnitt)
Besessenheit oder Besessenwerden ist auch hier wiedergegeben als allmählicher Übergang in Zeitlupe. Durch Überdrehen. Aber es ist mehr als „Wiedergeben", es ist die Simulation und Übertragung eines Zustandswechsels mit den Mitteln des Kinos.
In Derens Buch liest sich ihre eigene Besessenheit durch Erzulie als eine, die durch die Göttin oder durch das Kino hätte evoziert sein können. Die Unterscheidung ist, wie in allen Tänzen auf der Leinwand, die Licht und Bewegung diesseits und jenseits verschmelzen, nicht zu machen. Sie beschreibt die Wahrnehmung einer Verdopplung, oder, gleichzeitig, eines Auseinanderfallens ihres „Selbst" das sich im Weiß eines Rhythmus' als „Ich" verwechselt und vergisst. Filmerfahrung.
„As sometimes in dreams, so here I can observe myself, can note with pleasure how the white skirt plays with the rhythms, can watch, as if in a mirror, how the smile begins with a softening of the lips, spreads imperceptibly into a radiance which, surely, is lovelier than any I have ever seen."
(Deren 1953: 258)
Die Relation des Ich zur Doppelgängerin, zu diesem anderen Ich, dem Ich als Anderem, wird zunächst gehalten durch den Rhythmus der Trommeln, um sich dann im Schwarz der Zwischenräume, die die Dauer skandieren und ein Reglement, Schaltungen möglich machen. Die Subjektive des Besessen-Werdens tritt auf wie ein allmählich heruntergedrehter Projektor.
„I (...) pick up the dancing rhythm of the drums as something to grasp at, (...) No sooner do I settle into the succor of this support than my sense of self doubles again, as in a mirror, separates to both sides of an invisible threshhold, except that now the vision of the one who watches flickers, the lids flutter, the gaps between moments of sight growing greater, wider. I see the dancing one here, and yet in a different place, facing another direction, and whatever lay between these moments is lost, utterly lost. I feel the gaps will spread and widen and that I will, myself, be altogether lost in that dead space and that dead time."
(Deren 1953: 259)
Besesseneit beschrieben als Filmriss. Die Besessenheit im Voudounritual schließt für Deren an andere Selbst-Experimente an, in denen sie Film überdreht, Projektionen unterdreht, sich selbst an ein Sichtgerät anschließt und die eigene Aufregung mit ihren Kubelbewegungen kurzschließt, um „sich" zu exzentrieren. Im Voudoun entdeckt sie eine Kulturtechnik, die dem Kino nahe kommt: Rückkopplungen durch Rhythmen, die Transformationen generieren. Allerdings setzt die vollständige Transformation voraus, die Technik und ihre Umdrehungen zu vergessen. Sich dem Dunkel zu überlassen.
Die Kamera und ihre drehbaren Geschwindigkeiten waren schon immer Teil einer Transformation der Ethnologen, deren technischer Blick heimlich ins heimische Werk gesetzt ist, während sie sich noch im Feld der anderen wähnten.
Der Preis, den die Göttin Erzulie oder Kinematographie allerdings für diese Befreiung aus der imaginären Befangenheit verlangt, ist der, dass das Wissen fortan an die Filmbilder geknüpft ist. Das, was nicht Bild für Bild aufgezeichnet ist, das, was als Trancetechnik dazwischen liegt, ist unbewusst. Dass Deren nach diesem Zusammenfallen von Film und Gedächtnis, Film und Realität ihr Material nicht mehr schneiden will, ist alles andere als die Abkehr vom Medium Film. Es ist vielmehr seine Beförderung in das Pantheon der Aufzeichnungstechniken, die Seelen, Geister und Gedächtnisse schon immer gebildet haben.
Arnheim, Rudolf (1934) Bewegung im Film, in: Ders./Diederichs, Helmut H. (Hg.) Kritiken und Aufsätze zum Film, Frankfurt/Main: Fischer 1979. S. 39-45.
Bateson, Gregory/Mead, Margaret (1942) Balinese Character: A Photographic Analysis. Special Publications of the New York Academy of Sciences vol. 2, New York, NY.
Deren, Maya (1953) Divine Horsemen. The Living Gods of Haiti. Kingston, NY: McPherson & Company.
Griffiths, Alison (1997) Knowledge and Visuality in Turn of the Century Anthropology. The Early Ethnographic Cinema of Alfred Cort Haddon and Walter Baldwin Spencer, in: Visual Anthropology Review, 12.2. S. 18-43.
Heider, Karl G. (1976) Ethnographic Film, University of Texas Press, Austin.
Métraux, Alfred (1958) Le Vaudou haîtien. Paris.
Mitchell, Timothy (1991) Colonising Egypt, University of California Press, Berkeley/Los Angeles/Oxford.