"Und um das alles zu begreifen Wird man, was man furchtbar hasst, nämlich Cineast" Tocotronic: Meine Freundin und ihr Freund
Zu Beginn des Jahrtausends hatte das Abschiednehmen Konjunktur. 2005 plädierten Marijke de Valck und Malte Hagener in ihrem wegweisenden Band Cinephilia deshalb dafür, den Begriff der Cinephilie durch den der „Videosynkrasie“ (de Valck/Hagener 2005: 14) zu ersetzen, weil er der der Fluidität zwischen Medien, (Subjekt-)Positionen und vor allem Zeitformen Rechnung trage. Wie die beiden Herausgeber/innen zeigen, aktualisiert sich damit der Begriff der Cinephilie im neuen und seither weiter ausdifferenzierten Medienverbundsystem. So weit so gut. Warum dann noch einmal auf die Cinephilie zurückkommen und sich dem Verdacht der Nostalgie aussetzen?
Eine kurze Rekapitulation: Historisch (und aus westlicher Perspektive), gründet die Cinephilie insbesondere in ausdifferenzierten v.a. innerfranzösischen Debatten seit den 1920er Jahren um die Frage nach dem Film als Kunst. In immer neuen Auseinandersetzungen – sei es in filmtheoretischen Schriften oder in politisch ambitionierten Filmmanifesten – ging es darum, die spezifische Ästhetik des Films zu erkennen, seine unterschiedlichen Stile und Epochen zu klassifizieren oder das Kino als Ort einer besonderen Erfahrung zu beschreiben, vor allem auch einer politischen Erfahrung. Politische Erfahrung wurde hierbei im Sinne eines Zugangs zur Welt in der Spannung zwischen Individuum und der Teilhabe am Gemeinwesen verstanden. Höhepunkt dieser stets auf neue und mit neuen Schwerpunkten immer wieder ansetzenden Debatte war dementsprechend die sog. „politique des auteurs“. (vgl. ebd.: 11ff.) Diese „politique des auteurs“ bedeutete in den 1950er bis 70er Jahren auch die Hinwendung zum Avantgarde- und zugleich zum Genrekino: Man begann im Nachkriegseuropa mit dem Kino als Leitmedium der Zeit, einerseits die avantgardistischen Ansätze der 1920er und 1930er Jahre weiterzuentwickeln und entdeckte insbesondere in Frankreich andererseits auch das Genrekino, vor allem das Hollywoodkino der 1940er und 1950er Jahre als künstlerisch hochstehendes, keineswegs auf industrielle Massenfertigung zu reduzierendes Medium, in dem sich Handschriften und stilistische Eigenheiten von Autor/innen wie in den Gemälden großer Künstler/innen entdecken ließen. Diese Debatten manifestierten sich vor allem auf Filmfestivals (de Valck 2008). So nimmt es auch nicht Wunder, dass sich Filmfestivals in den letzten 20 bis 30 Jahren (gerade über die A-Festivals wie Berlin, Cannes und Venedig hinaus) explosionsartig vermehrt haben. Filmfestivals sind somit – und interessanterweise zeitgleich mit dem Bedeutungsverlust des Kinos durch den Siegeszug der digitalen Medien – zu zentralen Orten der Cinephilie geworden.
Gleichzeitig haben sich mit den elektronischen Medien Zugänge zum Film ergeben, die selbst neue Formen der Cinephilie hervorgebracht haben; zu denken ist etwa an all die Gesten und kurzen Sequenzen, die Filmfreund/innen heute aus allen Genres und Epochen zusammengestellt haben und als Klassifikationen oder Modulationen der Filmgeschichte oder einfach als serielle Bewegungsstudien im Internet veröffentlichen. Die Filmgeschichte wird der Cinephilie damit zum Steinbruch, aus dem etwas neues, eine neue Form von Filmfreundschaft entstehen kann, die nicht mehr strikt an den Autorengedanken und damit an große Namen wie Quentin Tarantino gebunden ist.
Gerade diese letzten, quasi demokratischen Formen der Cinephilie sind de Valck und Hagener Anlass dafür, ihren Begriff der „Videosynkrasie“ systematisch zu verstehen. Denn in dieser Aneignung von Filmformen sehen sie einen ganz neuen Umgang mit Zeit – und d.h. für sie mit Geschichte – begründet. Cinephilie wird für beide so zu einer spezifischen Form audiovisuellen Erinnerns.
Mir geht es nun um die Frage, ob es bei dem genannten Verständnis von Cinephilie um Erinnerung als ‚Gedenkritual‘ (Knigge 2013), d.h. um Nostalgie geht oder um die angedeutete Art und Weise, Kino (Schlüpmann 2004) und Film (Kappelhoff 2019) selbst als soziale Praktik zu verstehen, die etwas mit Freundschaft zu tun hat (versteht man die Cinephilie eben ganz wörtlich als die Freundschaft zum Film). Damit verbunden ist für mich zweitens die Frage nach einem medienspezifischen Verhältnis von Film und Freundschaft. Ich frage also, ob das Medium Film eine intrinsische Beziehung zur Freundschaft hat, unabhängig zunächst von allen denkbaren Repräsentationen von Freundschaft im Film. Beide Fragen zusammengenommen zielen noch einmal neu auf die politische Dimension der Cinephilie: Dabei geht es aber weder um die ‚politischen Filme‘ noch um die ‚Filme, die politisch gemacht sind‘, vielmehr geht es mir, wie ich nun zeigen will, bei der Filmfreundschaft um eine eigene Art der Teilhabe am Gemeinwesen und deshalb um Politik.
Ein Hinweis für Cinephilie als besondere Form der Filmfreundschaft ergibt sich daraus, dass sich ein entsprechender Begriff wie der der Freundschaft zum Film weder für Fernsehen noch für Video oder andere digitale Formen bis hin zum Internet durchgesetzt hat: anders als bei der Cinephilie, die ja nicht nur Filmtheorie und „politique des auteurs“ meint, sondern auch einen breiten Amateurbereich des Aufnehmens, Sammelns und Tauschens betrifft, tauchen die Begriffe der Fernseh-, Video- oder Internetphilie nur im wissenschaftlichen Fachzusammenhang auf (de Valck/Hagener 2005: 14). Die besondere Nähe zu diesen letzteren Medien wird heutzutage hingegen meist als Sucht beschrieben (und ist, was das Internet oder Videospiele betrifft, seit 2018 sogar von der Weltgesundheitsorganisation WHO offiziell als Krankheit anerkannt). Man beschreibt diese Krankheitssymptome, die die neuen Medien hervorrufen, vielfältig; als zentrale Folge wird immer wieder die soziale Vernachlässigung und Isolation genannt, sowie die Indifferenz allen anderen Interaktions- und Kommunikationsformen gegenüber. Spielende und Surfende werden paradoxerweise als passiv beschrieben, die weniger agieren denn reagieren; man könnte auch sagen, die User geben das Heft des Handelns aus der Hand. Wenn das, so frage ich schließlich im Umkehrschluss, für den Film nicht gilt, was hat er dann mit Handeln und was mit Freundschaft zu tun?
Genau dies, das Handeln und Herstellen, hat man als Grundlage der Freundschaft begriffen; am prominentesten ist dies bei Hannah Arendt der Fall, die in ihrer Vita activa (2008) Politik als Handeln versteht, zu dem auch Liebe und eben Freundschaft gehören. In Freundschaft als Liebe zur Welt. Im Kino mit Hannah Arendt spricht Ringo Rösener (2017) vom Fehlen eines Verbs in der Etymologie des Wortes Freundschaft. Das stößt ihm umso stärker auf, als es sein Ansatz ist, die Praktiken der Freundschaft zu beschreiben; er spricht daher mit einem Neologismus von „Freundschaftstun“ als einer existentiellen „Tätigkeit des Miteinander“, die unter den Beziehungsformen diejenige ist, die am wenigsten einen Zweck erfüllt und die am wenigsten einem vorgegebenen Sinn entspricht (Ebd.: 21).
Der Bezug zu Hannah Arendt in Röseners Arbeit ergibt sich daraus, dass sie (in ihrem nach dem 2. WK entwickelten Politikverständnis) von der existentiellen Notwendigkeit des Miteinander der Menschen spricht, davon, dass Existenz immer im Plural gedacht werden muss, von Vielheit, und prozesshaftem Austausch her – als existentielle und als politische Kategorien. D.h. die Bedingung der Möglichkeit des Miteinander-Sein-Könnens ist die Zweiheit bzw. Vielheit, die die Existenz ausmache. Freunde tauchen bei Arendt nicht auf, um sich selbst zu ergründen, sondern um sich selbst unter den Mitanderen zu verorten. Dafür hat sie Aristoteles’ ‚Der Freund ist ein anderes Selbst‘ quasi umgedreht und behauptet nun: auch das Selbst ist eine Art Freund, mit dem man in Worten und Gedanken zusammenlebt (Arendt 2016: 548f.).
Dieses „Freundschaftstun“ meint im Falle der Cinephilie also eine spezifische Form des Teilens oder der Teilhabe an der Welt: als Fan, als Historiker/in, als Wissenschaftler/in, als Sammler/in, als Filmemacher/in und als diejenigen, die Filme sehen. Dieser Begriff des Handelns ist mein Scharnier zu dem, was ich weiter aufzeigen will: nämlich, was es bedeuten kann, von Film als einer Praktik der Freundschaft zu sprechen. Während Rösener (angelehnt an Cavells Filmanalysen), die repräsentierten Formen von Freundschaft in verschiedenen Filmen untersucht, geht es mir wie gesagt um die intrinsische Verbindung von Film und Freundschaft. Der freundschaftliche Akt, die Teilhabe, das Mit-teilen, von dem ich oben sprach, entsteht im Film durch die Wahrnehmung wahrgenommener Wahrnehmung.
Das Handeln des Films besteht also darin, strukturell Freundschaft herzustellen, und zwar als Eigenschaft des Mediums. Film stellt generell Wahrnehmung her, genauer stellt er wahrgenommene Wahrnehmung her. Systematisch beschreibt diese Verbindung von Kino und Wahrnehmung nach dem Zweiten Weltkrieg Maurice Merleau-Ponty. In dessen Phänomenologie der Wahrnehmung (1976) wird Wahrnehmung nicht mehr als eindimensional von einem Subjekt auf ein Objekt gerichtet gedacht, sondern als ein relationaler Prozess, in dem Subjekt und Objekt immer schon in einem Wahrnehmungsprozess eingeschlossen sind, immer zugleich Objekte und Subjekte der Wahrnehmung sind. Paradebeispiel für dieses prozessuale Denken ist Merleau-Ponty der Film als ein Medium, in dem es immer um die Wahrnehmung von Wahrnehmung, um wahrgenommene Wahrnehmung geht; oder anders gesagt, um das Miteinander von Wahrnehmung.
Im Kino findet Merleau-Ponty (2003) also genau jene Kunst, die sich systematisch mit Wahrnehmung als durch einen Körper hindurchgegangene Erfahrung von Welt auseinandersetzt, wie er in seinem Vortrag Das Kino und die neue Psychologie von 1947 darlegt. Merleau-Pontys Bezug auf das Kino lässt sich als Teil des Versuchs deuten, mit seiner Phänomenologie auch unbegriffliche Erfahrungsräume beschreiben zu können. Anders gesagt führt das Kino für den französischen Phänomenologen die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung vor: Wahrnehmung als Bewegung, die nicht zwischen Polen changiert oder in Dichotomien funktioniert, also nicht zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und anderem, zwischen Geist und Körper, zwischen Idee und Welt unterscheidet – sondern genau die Verbindung von beidem bezeichnet: „Das Kino ist nun auf bemerkenswerte Weise fähig, die Verbindung von Geist und Körper, von Geist und Welt und den Ausdruck des einen im anderen hervortreten zu lassen“ (Merleau-Ponty 2003: 45).
Das Kinematografische wird für den Philosophen zum Marker seines neuen phänomenologischen Denkens, in dessen Zentrum die Wahrnehmung steht – „[…] weil die Kunst nicht gemacht ist, um Ideen darzulegen, und […] weil die zeitgenössische Philosophie […] darin besteht […], die Durchdringung von Bewusstsein und Welt, sein Engagement in einem Leib, seine Koexistenz mit den Anderen zu beschreiben, und weil dieses Thema im höchsten Grade kinematografisch ist“ (Merleau-Ponty 2003: 46).
In Bezug also auf die Relation zwischen leiblicher Wahrnehmung der Welt und der Erfahrung der Paradigmen dieser Wahrnehmung durch das Kino kann man also von wahrgenommener Wahrnehmung sprechen, die immer eine „Koexistenz mit den Anderen“ voraussetzt.
Hier sehe ich den Anknüpfungspunkt an das Verhältnis von Film bzw. Kino und Freundschaft, und zwar in Bezug auf den Begriff der Koexistenz, der Mit-Wahrnehmung des anderen. Film kann als Hervorbringung einer Poetik der Freundschaft im Wortsinn verstanden werden, nämlich als Herstellung von Freundschaft durch das Herstellen von wahrgenommener Wahrnehmung, und damit von der Notwendigkeit des anderen, des Gegenübers. Denn im Begriff der wahrgenommenen Wahrnehmung stecken immer schon zwei, steckt immer schon die Notwendigkeit des anderen, die existentielle Notwendigkeit der Koexistenz. Im Film ist diese Koexistenz die wahrgenommene, die Mit-Wahrnehmung oder Mit-Teilung der eigenen Wahrnehmung in der Wahrnehmung des anderen.
Genau diese Lesart kennzeichnet wiederum das Verständnis der Freundschaft bei Giorgio Agamben: „Denn was ist Freundschaft, wenn nicht Nähe, die derart beschaffen ist, dass man sich weder eine Darstellung noch einen Begriff von ihr machen kann? Jemanden als Freund zu erkennen, bedeutet, ihn nicht als ‚etwas‘ erkennen zu können. Man kann nicht ‚Freund‘ sagen, wie man ‚weiß‘, ‚Italiener‘, ‚heiß‘ sagt – die Freundschaft ist keine Eigenschaft und keine Beschaffenheit eines Subjekts“ (Agamben 2012: 18) – sondern, so ist hinzuzufügen, immer etwas, das sich nur in einer per se bestehenden Geteiltheit realisiert. Der italienische Philosoph verbindet in seinem Aufsatz L’amico/Der Freund (2012), der eine Lektüre eines Abschnitts aus der nikomachischen Ethik von Aristoteles darstellt, entsprechend Wahrnehmung und Freundschaft:
In [der] Wahrnehmung des Existierens besteht eine andere, spezifisch menschliche Empfindung fort, die die Form eines Mit-Wahrnehmens (…) der Existenz des Freundes hat. Die Freundschaft ist die Instanz dieser Mit-Wahrnehmung der Existenz des Freundes in der Wahrnehmung der eigenen Existenz. Aber das bedeutet, dass die Freundschaft einen ontologischen und zugleich politischen Rang besitzt. Die Wahrnehmung des Seins ist nämlich immer schon geteilt und mit-geteilt, und die Freundschaft benennt diese Mit-Teilung. Hierin liegt keinerlei Intersubjektivität – diese Chimäre der Modernen – keinerlei Relation zwischen Subjekten: Vielmehr ist das Sein selbst geteilt, ist nicht-identisch mit sich selbst, und das Ich und der Freund sind die zwei Gesichter – oder die zwei Pole – dieser Mit-Teilung (Ebd.: 19f., Herv. i. Orig.).
Agamben verschränkt hier – im Anschluss an Maurice Blanchot (2011) und vor allem an die Theorie der Gemeinschaft bei Jean-Luc Nancy (1988) – Welterfahrung als per se geteilte Erfahrung, die ein „mit“ nicht hinzufügt, sondern immer schon voraussetzt, d.h. die die Gemeinschaft als Notwendigkeit sieht, weil sie aus einem Mangel des Einzelnen herrührt, und die zugleich verbindet: deshalb spricht etwa Nancy (1988: 31f.) von der Gemeinschaft der Lebewesen, die schlicht verbindet, dass sie sterben müssen. Dann ist ihr gemeinsam geteilter Grund das Menschsein. Agamben hat dieses Gemeinschaftsdenken, d.h. das Gemeinsame und die Differenz als eine Form der Wahrnehmung, der „Mit-Wahrnehmung“ beschrieben, in der Freundschaft zugleich das Eigene und das Andere darstellt – ausgedrückt im „mit“. Was man im 20. Jahrhundert als Kennzeichnen der modernen Massengesellschaft Entfremdung genannt hat, wäre hier als Weise des geteilten Seins zu begreifen, die sich in der Freundschaft realisiert.
Darin lässt sich umgekehrt auch wieder die Philosophie der wahrgenommenen oder eben geteilten Wahrnehmung von Merleau-Ponty wie eine Webstruktur im Untergrund erkennen und ihre Erfahrbarkeit im Film. Wenn Film also per se Freundschaft ist, dann im Sinne dieses In-der-Wahrnehmung-geteilt-und-mitgeteilt-Seins. 1
Freund[schaft] wird demnach verstanden als anderes Selbst – als alter ego, d.h. fremd und ähnlich zugleich: Filmerfahrung ist dann als Veranschaulichung einer Freundschaftserfahrung zu begreifen. Wir nehmen im Kino teil an einer Welt, von der wir kein Teil sind, zu der wir nicht gehören; diese Welt ist unserer Welt ähnlich und zugleich sind wir von ihr abgeschottet (Cavell 1979). Die Leinwand/der Screen schirmt uns zugleich vom Geschehen ab, wie sie uns auch in das Geschehen hineinzieht, indem wir mit-erfahren; eine Welt, die sich uns Zug um Zug in ihrer eigenen Zeitlichkeit und Räumlichkeit, ihrem eigenen Rhythmus entfaltet und die Teil unseres Selbst und zugleich das andere daran ist. Wenn Film strukturell Freundschaft herstellt, dann in dieser Weise einer Erfahrung per se geteilten Seins.
Freundschaft als Praktik des Films, als das, was der Film herstellt, also die Poetik der kinematographischen Freundschaft, könnte man dann zudem bezeichnen als seine Fähigkeit, erstens Unzusammenhängendes zusammen zu bringen (Kracauer 2005: 84-112), zweitens uns in eine Welt einzuweben und emotional anzufassen, zu der wir aber nicht gehören. Schließlich stellt die kinematographische Freundschaft drittens eine nicht notwendige, aber doch existentielle Beziehung her, weil wir über die Wahrnehmung unserer eigenen Wahrnehmung noch die Bedingungen der Art und Weise, wie wir historisch Welt erfahren, erfahren können – somit im Kino also immer die Erfahrung der Alterität machen.
Ein (nicht besonders originelles) Beispiel für diese vielfältigen Verflechtungen und Facetten der Cinephilie, zu der neben der Repräsentation aber auch die kinematographische Erfahrung der Freundschaft zum Film gehört, stellt Bernardo Bertoluccis THE DREAMERS aus dem Jahr 2003 dar. Bertolucci ist zunächst als Person mit der Cinephilie und besonders mit der „politique des auteurs“ verbunden: er ist einer der international bekanntesten italienischen Autorenfilmer neben den älteren Kollegen Rossellini, Fellini oder Antonioni. Er begann in den 1960er Jahren als Assistent Pier Paolo Pasolinis und zeigt sich schon mit seinen ersten Filmen als politischer Autorenfilmer. Das ist das erste, äußere Kennzeichen der Cinephilie in diesem Zusammenhang.
THE DREAMERS selbst erzählt von dem amerikanischen Austauschstudenten Matthew, der in den Pariser Unruhen 1968 die Zwillinge Isabelle und Théo kennenlernt. Es geht also um eine junge Frau und zwei junge Männer, zwischen denen sich im Laufe des Films eine ménage à trois entwickelt. Ausgangspunkt ihrer Begegnung ist ihre Cinephilie. Zweites Kennzeichen der Thematisierung der Cinephilie in diesem Film ist also deren Repräsentation in der Filmhandlung. Die Liebesbeziehung zwischen den drei Protagonist/innen nimmt ihren Ausgang in der gemeinsam geteilten Freundschaft zum Film; sie sind zusammen im Kino, sie diskutieren über Film und Kino, sie stellen Filmfiguren und Szenen nach (von denen der ganze Film voll ist; s. Singkhra 2005: 49f.); eine davon ist die Pose der „femme fatale“, wie sie Isabelle mit Zigarette im Mund (Abb. 1) am Schluss der Anfangssequenz des Films darstellt.
In de Valcks und Hageners Buch findet sich auch ein Aufsatz zu besagtem Film. Sutanya Singkhras Text Dreams of Lost Time (in: de Valck/Hagener (Hg.) 2005: 45-54) betont v.a. das nostalgische Zeitverständnis des Films, das ‚um jeden Preis‘ die Vergangenheit als ‚Suchen und Finden einer verlorenen Zeit‘ vergegenwärtigen will. Ich möchte das Gegenteil behaupten: Die Bewegung des Films gleicht, so will ich nun zeigen, jenem „Tigersprung ins Vergangene“, die bei Benjamin das unmittelbare Aufblitzen der Vergangenheit in der Gegenwart meint (Benjamin 1992: 150).
Die Protagonist/innen gehen zu Beginn des Films auf die Demonstration gegen die Entlassung des langjährigen Leiters der Cinémathèque française, Henri Langlois, im Februar 1968. Bertolucci inszeniert diese Demonstration als Initiation des Pariser Mai 68; der Kampf ums Kino als Ausgangspunkt der Revolution: eine buchstäbliche „politique des auteurs“.
Kino als Ausgangspunkt der Revolution: eine buchstäbliche „politique des auteurs“. Die historischen Umstände, die der Film in seiner Anfangssequenz zeigt, waren folgende: Der entlassene Henri Langlois hatte die Cinémathèque 1935 gegründet und nach dem Zweiten Weltkrieg zur wichtigsten europäischen Adresse des Kinos und der Cinephilie gemacht. Die Adelung des US-amerikanischen Genrefilms zum Autorenkino, das ich oben erwähnte, geht wesentlich auf seine Initiative zurück, die Filme der US-Regisseure in der Kinemathek zu zeigen, wo sie die späteren Regisseure der „Nouvelle Vague“ und die Redakteure der Cahiers du Cinéma sahen.
Was die Ereignisse der Demonstration betrifft, handelt es sich um eine Dokufiktion. Bertolucci stellt einerseits die Demonstration gegen die Entlassung von Langlois mit Schauspielern nach; diese alterniert andererseits mit Schwarzweißaufnahmen der Demonstration vom Februar 1968. Dabei sehen wir einen der berühmtesten Schauspieler der „Nouvelle Vague“, Jean-Piérre Leaud in der Nachstellung der Demo (Abb. 3) wie auch in den historischen Schwarzweißaufnahmen (Abb. 2).
Die nachgestellten Szenen sind so gefilmt, dass die Übergänge zwischen farbig und schwarzweiß fließende Figurenbewegungen und einen überlappenden Ton haben (Abb. 4 und 5).
Das ist der Moment des Films, an dem wir es nicht mehr nur mit einer Repräsentation der Cinephilie im Film zu tun haben, sondern an dem es um die vorhin vorgestellte Struktur der Cinephilie geht: Das liegt daran, dass sich die Dokufiktion zunächst selbst als Fiktion entlarvt: Wir sehen die Originalaufnahmen vom Februar 1968 und das re-enactment. Aber die in Bezug auf Ausstattung und Kostüme ansonsten akkurate Rekonstruktion der Ereignisse in Farbe leistet sich einen groben Schnitzer, indem sie die Demonstration vom Februar 68 im reenactment im fortgeschrittenen Frühling, in üppigem Pflanzenwuchs, also sicher nicht im Februar, sondern eben im Mai zeigt (Abb. 6) – und so erst den unmittelbaren Konnex von ästhetischer und politischer Demonstration herstellt. Anders gesagt wird so die ästhetische zur politischen Demonstration, indem die Cinephilie als soziale Praktik unmittelbar einsichtig wird.
Dieser erzähllogische Bruch ist also Voraussetzung dafür, dass die genannte Struktur der Cinephilie hier unmittelbar zur Aufführung kommt: Nicht das Abbild der Realität, sondern die wahrgenommene, die mit-geteilte Wahrnehmung. Ich meine damit zunächst, dass die Nachstellung der historischen Szene in Farbe die dokumentarischen SchwarzweißAufnahmen von 1968 verlebendigen; und zwar solcherart verlebendigen, dass die schwarzweißen Szenen als immer noch wahrgenommene wahrgenommen werden, deren Kraft in einer Bewegung, einer Geste, einer Wortfolge aktualisierbar ist und sekundenschnell Jahrzehnte überwindet; anders ausgedrückt wird so Zeit als reversibel erfahrbar; d.h. die abgeschlossene Vergangenheit, die die in Ausstattung und Kostümen perfekte Inszenierung von Paris 1968 in den farbigen Szenen zeigt, wie auch die historische Entfernung der Schwarzweiß-Aufnahmen, wird durch beider Kombination bis hin zum Gleichklang von Wort und Geste in einen aktuellen Dialog gebracht: Was sich uns hier mitteilt ist nicht das Abbild der Realität der Ereignisse (Stichwort sind die grünen Bäume im Februar); was sich uns mitteilt ist die Zeit selbst; verkörpert in der Figur des Schauspielers Jean Pierre Léaud, der – als alter und als junger Mann, mit den gleichen Gesten, ähnlich aber nicht identisch auftritt. Die Figur verkörpert so ihr eigenes alter ego, zugleich sie selbst und doch fremd, das Fremde im Eigenen verkörpernd, das Nichtidentisch-Sein mit sich selbst, welches Giorgio Agamben, wie ich vorhin ausgeführt habe, als Seinsweise der Freundschaft beschreibt und das ich als audiovisuelle Struktur der Freundschaft markiert habe.
Dieses Thema der kinematographischen Freundschaft als „Instanz der Mit-Wahrnehmung der Existenz des Freundes in der Wahrnehmung der eigenen Existenz“ (Agamben 2012: 19) führt der Film weiter, sodass man ihn insgesamt als eine Etüde zur Cinephilie ansehen kann:
In der Anfangssequenz des Films hören wir von Beginn an die eingesprochene Stimme des amerikanischen Austauschstudenten Mathew, der davon spricht, wie er mutterseelenallein nach Paris kam, um dann endlich beim Filmesehen Freunde zu finden.
Das sagt zumindest die Stimme aus dem Off. Was wir dann aber sehen, ist, dass Matthew im Kino scharf getrennt von den beiden anderen Protagonist/innen (Abb. 7 und Abb. 8), diese erst bei der Demonstration kennenlernt. Die Freundschaft, um die es hier geht, ist also nicht in erster Linie die der Protagonist/innen, sondern die ihrer Freundschaft zum Film, die sie zugleich verbindet. Es ist also zuallererst diese Freundschaft zum Film, diese spezifische Art der Weltwahrnehmung, die die Figuren zueinander führt. Dass daraus keine Freundschaft der Protagonist/innen wird, davon erzählt der Film im Folgenden: Was sich nämlich dann entwickelt und das folgende Drama von THE DREAMERS ausmacht, hat dann gerade nichts mehr mit dem anderen des Selbst zu tun, sondern mit Begehren, Eifersucht, Liebe, mit Auflösung und Verschmelzung also – und dem Versuch sich dagegen durch den Film zu immunisieren
Die Freundschaft also, von der Matthew am Anfang von THE DREAMERS aus dem Off spricht, ist nicht die Bekanntschaft mit den Zwillingen auf der Demonstration, sondern die der Cinephilie: dies setzt Bertolucci ins Bild, indem er hier die wahrgenommene Wahrnehmung inszeniert, das zugleich verbindende und trennende der Filmwahrnehmung, die wir als Zuschauende wahrnehmen; d.h. die Figuren, die gemeinsam in eine filmische Welt eintauchen und doch vereinzelt bleiben, zusammen und fremd zugleich sind. Wir Zuschauende wiederum nehmen dies wahr und sind doch wiederum kein Teil der Gruppe: die Leinwand schirmt uns von der Kinosituation im Film ab. Aber genau diese Teilung, also dass „das Sein selbst geteilt und nicht-identisch mit sich selbst ist“, wie Agamben sagt, ist das spezifische Kennzeichen der Freundschaft, das wir als audiovisuelle Modulation wie hier in THE DREAMERS unmittelbar sinnlich erfahren können.
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