Muster, Funktionen und Kontinuitäten vom Stummfilm bis zur Tagesschau
„Wenn man die Musik hörte, wusste man gleich, was kam“1 – dieser Satz, gesprochen von einer Person, die in jungen Jahren ein- oder mehrmals wöchentlich ein Kino besuchte, bezieht sich nicht auf den neusten Kinofilm. Der Satz bezieht sich auf die Wochenschau, die in den 1950er/1960er Jahren fester Bestandteil des Beiprogramms im Kino war. Bis zur Etablierung des Fernsehens war sie die einzige Quelle für ‚aktuelle‘ Berichte in bewegten Bildern. Nach dem Redaktionsschluss am Dienstag kam die neue Ausgabe am Freitag in die Kinos. Ihre Themen waren: Politik (oft am Beginn einer Ausgabe), Katastrophen, Mode, Tiere, Erfindungen, Sport (meist am Ende). Für die Wochenschau war es wichtig, die Zuschauer zu informieren – aber auch gut zu unterhalten. Das gelang zum erheblichen Teil durch die Musik, mit der fast jeder der meist zehn Beiträge einer Wochenschau-Ausgabe unterlegt war. Für regelmäßige Kinobesucher2 kann angenommen werden, dass sie diese schon aus den ersten Takten identifizieren und einer Berichtsart zuordnen konnten. Es gab z.B. „Katastrophenmusik“, „Sportmusik“, „Maschinenmusik“ sowie Tanzmusik und ernste klassische Musik.3 Es waren offenbar eingängige Musikmuster, die Generationen von Kinogängern geprägt haben. Und es ist außerdem davon auszugehen, dass diese auf Zuschauerakzeptanz stießen, so dass sie zu einer kontinuierlichen Praxis avancierten.
Die Wochenschau setzte Musik unbestreitbar geschickt ein, wie das folgende Beispiel der ersten Beiträge von Ausgabe Nr. 19 der Neuen Deutschen Wochenschau (NDW)4 vom 6. Juni 1950 zeigen soll.5 Nach der typischen Titelmusik und dem Titelbild beginnt der erste Beitrag mit einem Orgelpräludium von Bach. Auch ohne den Zwischentitel „Regensburger Domspatzen“ hätte man erraten können, dass es nun um etwas Geistliches geht: Die Chorknaben, die als ‚engelgleiche Botschafter für Deutschland‘ von einer Tournee durch die Schweiz zurückgekehrt waren, singen im O-Ton vor der mittelalterlichen Fassade des Doms. Der nächste Beitrag wird mit einer Fanfare angekündigt, während die Schrift „Interview der Woche“ als Zwischentitel über dem Motiv der Londoner Tower Bridge zeilenweise erscheint. Der zukünftige britische Hohe Kommissar, Ivone Kirkpatrick, steht zunächst vor einem Fenster, das im Hintergrund eine Bogenfassade aufscheinen lässt (korrespondierend zur Fassade des Doms im vorherigen Sujet). Dann spricht er am Schreibtisch zum Anlass seiner Amtsaufnahme zu seinen „deutschen Freunden“. Den Übergang von diesem eher politischen Teil zum unterhaltsamen Teil bildet ein Beitrag über Rothenburg ob der Tauber. Bereits mit dem Beitragstitel mit der geschwungenen Schrift „Aus einer kleinen Stadt“ setzt die zarte Streicher-Melodie eines „Altniederländischen Tanzes“ ein. Die Musik passt zu den mittelalterlichen Häusern des Stadtpanoramas und einer Schauspielszene zu Ehren des Gastes – des amerikanischen Hohen Kommissars John McCloy. Wie der Kommentar erklärt, hat er im Zweiten Weltkrieg als Artillerie-Kommandeur die Stadt vor der Zerstörung bewahrt. Nun folgt kein Zwischentitel, sondern ein musikalischer wie visueller Schlusspunkt.
Unvermittelt einsetzende jazzige Klänge und das Bild des nächtlich beleuchteten Hamburger Hotels Atlantic in Untersicht kündigen etwas Extravagantes an. Die Frauenstimme des Kommentars6 braucht nur wenige einleitende Worte, um diesen Eindruck zu bestätigen: „Hamburgs Welthotel Atlantic – Jacques Fath. Der große Pariser Modezauberer schickte uns seine schönsten Mannequins mit den traumhaften Schöpfungen seiner Phantasie […]“. Die Musik unterstützt beim Schnitt in das Hotelinnere das Eintauchen in das glamouröse Ambiente von Kronleuchtern und den neuesten Modellen auf dem Laufsteg. Die Schau ist mit dem Stück „Put the Blame on Mame“ aus dem Spielfilm GILDA (R: Charles Vidor, US 1946) unterlegt; die Hauptrolle spielte Rita Hayworth. Es ist davon auszugehen, dass viele Zuschauer diese Musik kannten7 sowie auch die ‚anrüchige‘ Szene des Films, in der die Hayworth das Lied singt. Sie trägt dabei lange schwarze Handschuhe – ebenso wie das erste Modell der Modenschau (s. Abb. 2 und Abb. 3).
Mit der Musik verweist die Wochenschau geschickt auf ‚den Film‘ bzw. auf ‚das Kino‘ als Medium und damit in gewissen Sinn auf sich selbst (als Teil der Filmwirtschaft) und spielt mit der möglichen Erinnerung der Zuschauer an vergangene Kinoerlebnisse. Zudem sorgt sie durch die Musik dafür, dass die Extravaganz von der erinnerten Filmszene auf die Mode übertragen wird. Die Original-Musik, die an dem Abend im Juni 1950 im Hotel Atlantic erklang, war vermutlich eine völlig andere – keine Trompeten und Saxophone – sondern Streicher.
Die Musiker waren mit ihren Instrumenten am Laufsteg platziert und sind als Schatten im Bild erkennbar (s. Abb. 4). Der Originalton war aber vermutlich nicht attraktiv genug oder die Aufnahmequalität hätte nicht ausgereicht, um den Beitrag eindrucksvoll genug zu unterlegen.
Aus der Skizze der ersten vier Beiträge der NDW Nr. 19 werden bereits einige Prinzipien für den Musikeinsatz erkennbar: Es ging um die musikalische Charakterisierung des Themas – aber auch um Pointierung und Anregung von Assoziationen. Welche Muster und Assoziationen bei Rezipienten individuell angesprochen werden würden, konnten die Produzenten der Wochenschau nicht wissen. Sie gingen aber offenbar von einer bestimmten Kino- und damit Filmmusikerfahrung der Zuschauer aus.
Wie Musik den Film begleiten und unterstützen konnte, wurde bereits am Beginn des Filmzeitalters verstanden. Schon bald wurden kurze Filme von Begebenheiten zu einem Programm aneinandergeklebt. Sie konnten dokumentarisch sein, aber auch Spielszenen enthalten. Alle Filme waren stumm aufgenommen. In der Tonfilmzeit (ab etwa 1930) konnte alles Akustische mit z.B. Lichttonverfahren auf das Filmband aufgebracht werden.8 Bevor dies technisch möglich war, wurden die ‚Filmchen‘ live durch einen Klavierspieler oder ein Salonorchester (vgl. Erdmann, Becce & Brav 1927: S. 26) begleitet. Warum ein Film überhaupt unbedingt mit Musik unterlegt werden musste – dazu gibt es mehrere Vermutungen. Es ist aber anzunehmen, dass die Begleitung zur ‚Kultur‘ einer Filmaufführung gehörte und folglich vom Publikum erwartet wurde.[ (Vgl. Müller 2003: S. 92-93) Auch noch in den 1950er und 1960er Jahren wurden Wochenschaufilme meist stumm aufgenommen und mit Musik, Geräuschen und Kommentar versehen. In den Berichten gab es Reportageartiges, Interviews, Sketche, nachgestellte Szenen und auch Trickfilm. „Das Interessanteste an der Wochenschau war aber nicht die Nachricht (news), die man meist schon vorher im Radio gehört oder in der Zeitung gelesen hatte, sondern das Gefühl (oder die Illusion) des ‚Dabeiseins‘, des Miterlebens im Laufbild (samt Musik und Kommentar)“.9
Musik spielte für die Wochenschau also eine bedeutende Rolle – sowohl als Begleitmusik der einzelnen Sujets als auch als Bestandteil der Titel- und Schlussmarke (als ‚Markenzeichen‘). Denn für Wochenschaufilme wie für Spielfilme galt gleichermaßen, dass sie ‚verkauft‘ werden mussten.10 Für die Neue Deutsche Wochenschau galt es zudem sich von dem NS-Propagandainstrument der ‚alten‘ Deutschen Wochenschau11 abzugrenzen. Bedingt durch fehlendes Personal und damit fehlendes Know-How in der Nachkriegszeit gab es aber diverse Kontinuitäten von der ‚alten‘ zur ‚neuen‘ Wochenschau: von der obersten Ebene des Geschäftsführers über Cutter und Kameramänner bis hin zum Musikverantwortlichen. Daher stellt sich die Frage, ob die Musikgestaltung aus der NS-Zeit grundlegend geändert oder für die NDW beibehalten wurde. Dazu kommt die Frage nach den Produktionsbedingungen. Die Neue Deutsche Wochenschau wurde mit Initiative des Bundespresseamtes gegründet und die Produktion innerhalb von nur sechs Wochen ‚auf die Beine gestellt‘.12 Wie konnte man in dieser knappen Zeit ein Musikarchiv zusammenstellen, das in Menge und Qualität ausreichte, um die Zuschauer zufriedenstellen und gegen die mächtige Konkurrenz (durch weitere drei Wochenschauen auf dem westdeutschen Markt) antreten zu können? Erkenntnisse darüber sind nur durch private Briefe eines der damalig Verantwortlichen möglich. Im Sinne der New Film History13 werden daher im Folgenden unterschiedlichste Materialen zur Klärung herangezogen.
Der ‚Musikredakteur‘ bei der NDW war Carl-Walther Meyer.14 Er war auch schon für die Musik und das Musikarchiv der ‚alten‘ Deutschen Wochenschau zuständig gewesen und erinnert sich in einem Brief an die Anfänge der NDW:
„Als wir anno 50 – ein kleiner Kreis hochqualifizierter Spezialisten daran gingen, dem Kinopublikum in Konkurrenz zu lauter ausländischen Wochenschauen endlich wieder eine Deutsche [unterstrichen] vorzusetzen, fingen wir quasi bei Null an.“15
Der genaue Umfang des Musikarchivs der ‚alten‘ Deutschen Wochenschau ist nicht überliefert. Es muss jedoch ein beträchtlicher Bestand gewesen sein, da es durch die UFA als Produktionsstätte und daher durch die Nähe zum UFA-Orchester und Komponisten der UFA-Filme leicht gewesen sein musste, jede nur gewünschte Filmmusik dem Archiv zuzufügen. Die Musik hatte das Ziel, die Bilder zu emotionalisieren (d.h. bei den Zuschauern innere Empfindungen beim Betrachten der Filmbilder anzuregen oder zu verstärken). Die Deutsche Wochenschau lief mit mehr als 1.900 Kopien wöchentlich vor 20 Millionen Zuschauern. (von Zglinicki 1956: S. 341) Sie war somit ein eindringliches Instrument der ideologischen Lenkung, das die breite Bevölkerung erreichte16 – und damit erreichte auch die Musik Millionen.
Die Produktion der Deutschen Wochenschau war im UFA-Verwaltungsgebäude in der Krausenstraße 37/39, am Dönhoffplatz, in Berlin untergebracht. Ende November 1943 wurde das Gebäude durch einen Bombentreffer so stark beschädigt, dass man für die Bearbeitung Anfang Juni 1944 auf einen Barackenbau am Stadtrand von Berlin auswich.17 Doch nur die wichtigsten Stücke des Musikarchivs wurden in das Ausweichquartier mitgenommen. So wiederholten sich in den letzten Ausgaben der Kriegs-Wochenschau besonders „sieghafte“ Musikstücke. (Stamm 1979: S. 14) Was aber aus dem Großteil des Archivs wurde, ist nicht eindeutig belegt. Fest steht allerdings, dass ein Teil wiederendeckt wurde und Carl-Walther Meyer davon erfuhr.
Die „Kampfgefährten“18 der ‚alten‘ Deutschen Wochenschau standen auch nach dem Krieg noch miteinander in Verbindung; besonders zu Marcel Cleinow, Cutter der Deutschen Wochenschau, der später Chefcutter der NDW wurde,19 hatte Carl-Walther Meyer weiter Kontakt. Zur alten Wochenschau-Belegschaft gehörte zudem der Hauskomponist Franz R. Friedl, der nicht nur für die Deutsche Wochenschau komponiert hatte, sondern auch für NS-Propagandafilme, wie z.B. DER EWIGE JUDE (R: Fritz Hippler, D 1940), und für Heimatfilme20. Friedl suchte Meyer auf und berichtete ihm, dass Teile des „einst so stolzen Musik-Archives bei der Afifa Kopieranstalt in Bl. [Berlin] Tempelhof wieder aufgetaucht seien“.21 Die AFIFA – Aktiengesellschaft für Filmfabrikation (gegründet 1921, das Kopierwerk gehörte ab 1927 zur UFA) war im Jahr 1949 nach Wiesbaden gezogen22. Möglicherweise wollte man sich mit diesem alten Material nicht belasten und hatte die Dosen mit den Rollen zurückgelassen. Meyer flog nach Berlin, um den Bestand zu sichten:
„ […] und fand einen schwer lädierten Sauhaufen vor. Nässe, Kälte und unsachgemäße Lagerung hatten den Großteil der Lichtton!-Kopien [sic] fast bis zur Unbrauchbarkeit zerstört. Und in nur einigen wenigen Fällen gelang es dem hohen technischen Können des Tonmeisters Fuhrmann in Wandsbeck zu retten, was noch eben zu retten ging. Eitel Wohllaut war es nicht eben, was da zum Vorschein kam, aber fürs erste besser als nichts.“23
Die geretteten Musikstücke auf Lichttonmaterial wurden nach einer Restaurierung für die Neue Deutsche Wochenschau eingesetzt. In den Musikaufstellungen der NDW haben sie die Kennzeichnung „Ufa“,24 wie der folgende Ausschnitt aus der Musikaufstellung der ersten Ausgabe der NDW zeigt25.
Komponist | Musiktitel | Herkunft | Archivbezeichnung |
---|---|---|---|
Zeller | Einleitung | Ufa 994 | MzU* festliche 2 |
Windt | Asiatischer Marsch | Ufa 699 | MzU fremdländische 1 |
Perak | Allegro | Ufa 2152 | Intermezzi heiter 1 |
Igelhoff | Mit Schwung | Ufa 1475 | Tänze verschiedene 23 |
Weitere Musikaufstellungen zeigen die Herkunftsbezeichnung „NWDR“. Meyer erinnert sich, dass er „vom Obermotz des NWDR Grimme die Möglichkeit erhielt, das Rundfunk-Musikarchiv durchzukämmen“.26 Es ist aber anzunehmen, dass Meyer das Musikarchiv des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) mehrmals nutzen durfte, denn an der Musikaufstellung zu NDW Nr. 8 ist erkennbar, dass ein Stück noch zur Archivierung ausstand, während alle anderen bereits archiviert waren:27
Komponist | Musiktitel | Herkunft | Archivbezeichnung |
---|---|---|---|
Coates | Marsch aus der Londonsuite | NWDR | MzU flotte 4 |
Künnecke | Saltarello | NWDR | Tanzintermezzo 14 |
Jimmy Dorsay + Dick Jacobs | Clamabake for Saxes | NWDR | Tänze verschiedene 52 |
Schneider-Holberg | Kleine Tanzmusik | NWDR | n.n. archiviert |
Eduard Strauss | Bahn frei | NWDR | Galopps 18 |
Zunächst war die Nutzung des NWDR-Musikarchivs offenbar kostenlos. Im 9. Protokoll der Aufsichtsratssitzung der Neuen Deutschen Wochenschau GmbH vom November 1950 wird allerdings erwähnt, dass der NWDR sein Musikarchiv nun nicht mehr ohne Bezahlung zur Verfügung stellte.28 Seitdem wurde vermutlich nach einer zuverlässigen Lösung für den Ausbau des NDW-Musikbestandes gesucht – und mit dem Komponisten Gerhard Trede29 gefunden. Carl-Walther Meyer erinnert sich:
„Erst später tauchte dann Gerd Trede bei uns auf und schuf neue Musiken […]. Mit seiner Hilfe und seinem dankenswerten Instinkt für meine speziellen Erfordernisse entstand somit das neue Musik-Archiv der Neuen [Wort im Brief unterstrichen] Deutschen Wochenschau, was ich mit narrensicheren Deskriptionen und Archivierungen anno 67 meinen Nachfolgern hinterließ; die damit nicht mehr allzuviel anfangen konnten, denn das Auftauchen des Fernsehens hat ja nun der Wochenschau den Garaus gemacht.“30
Gerhard Trede kam 1953 zur NDW,31 entwickelte den Bestand weiter und ergänzte Stücke nach Vorgaben von Meyer. An den Musikaufstellungen der NDW ist zu erkennen, dass er z.B. die „Sturm“-Musiken erweiterte, die bei Tumulten, Aufständen, Demonstrationen eingesetzt wurden, und auch schon zu UFA-Zeiten Bestandteil des Archivs waren32. Mit Trede etablierte die Neue Deutsche Wochenschau einen Hauskomponisten – wie es Friedl für die NS-Wochenschau gewesen war33. Ab 1955 wurden fast ausschließlich Tredes Stücke verwendet.
In der Zeit vor Gerhard Tredes Einstieg bei der NDW wurde der Bestand z.B. von Hannelore Wright durch Boogie und Foxtrott sowie Swing, aber auch Walzer aufgefrischt. Ihre Stücke findet man z.B. in Mode-Sujets. Des Weiteren sind Stücke von Emil Ferstl aufgeführt – er schrieb bis Mitte der 1960er Jahre Musik zu Heimatfilmen34. Weitere Komponisten waren Erich Bender und Franz Josef Breuer, die beide (später) für den NWDR arbeiteten. Modernisierungen brachten außerdem Stücke von Gerhard Gregor (Organist und Komponist für klassische Musik, Unterhaltungs- und Tanzmusik). Die Stücke der letztgenannten Komponisten tauchen erst ab 1952 in den Musikaufstellungen auf und waren Eigentum der NDW, d.h. die Komponisten konnten sie nicht anderweitig auswerten.
Zu den Strategien für den Einsatz von Musik in der Wochenschau (z.B. in Bezug auf Länge, Zeitpunkt, Tempo, Stimmung) gibt es kaum überlieferte Äußerungen – und wenn, dann nur sehr vage und allgemein gehaltene Erklärungen, wie ‚passende‘ Musik. Welche Strategien für die Nachkriegs-Wochenschau wichtig waren, lässt sich heute nur aus dem Filmmaterial (und wenn vorhanden, aus Produktionsunterlagen) mit dem heutigen Verständnis ableiten. In der zeitgenössischen Literatur (vgl. Arnheim 1974; vgl. Adorno & Eisler 1969) wird in Bezug auf Funktionen von Filmmusik zumeist vom Spielfilm ausgegangen – oder noch allgemeiner vom Tonfilm. Um aber einen Einblick in die Ordnung der Wochenschau-Musik zu bekommen, ist ein Rückgriff auf Literatur aus der Stummfilmzeit notwendig – besonders auf das Allgemeine Handbuch der Film-Musik (zwei Bände) von Hans Erdmann, Guiseppe Becce & Ludwig Brav, das 1927 veröffentlicht wurde35. Zwar geht es in diesem Ratgeber für Filmkomponisten ebenfalls zumeist um Musik für Spielfilm, die Ausführungen lassen sich aber um einiges besser auf die Wochenschau beziehen, als moderne Erklärungen zur Funktion von Filmmusik, die einmal mehr und einmal weniger stark aufgefächert sind. Hansjörg Pauli geht in seinen Modellen beispielsweise von groben Kategorien aus: Paraphrasierung, Kontrapunktierung und Polarisierung (1976), sowie Metafunktionen, vereinheitlichende Funktionen, illustrierende Funktionen (1981), während Zofia Lissa (1965) mit 13 Kategorien an die Filmmusikanalyse herantritt. Die Auffächerung schützt aber nicht vor Überschneidungsfreiheit – so dass eine eindeutige und ausschließliche Zuordnung einer Funktion zu einem Musikstück nicht immer gegeben ist. Claudia Bullerjahn (2001) versucht mit ihrem Modell Schwächen anderer auszugleichen. Sie übernimmt von Pauli die „Metafunktionen“ und fasst Lissas weit aufgefächerte Funktionen in vier weiteren Kategorien zusammen: dramaturgische, epische, strukturelle und persuasive Funktionen. Sie bezieht sich nicht nur auf Spielfilme, sondern auf den Film allgemein.36 Trotzdem passen diese Modelle nur begrenzt auf die Wochenschau. Beispielsweise würde sich bei Lissas Kategorie „Ausdruck psychischer Erlebnisse durch die Musik“ die Frage stellen, welche Fälle es in einer Wochenschau dazu geben könnte und ob dies überhaupt intendiert wurde. Andere Kategorien von Lissa sind wiederum sehr allgemein und universal zutreffend, wie „Musik als Grundlage der Einfühlung“ oder „musikalische Illustration“. Durch den speziellen Aufbau der Wochenschau aus einzelnen Beiträgen und dem ambivalenten Charakter aus Informations-, Präsentations- und Unterhaltungsanspruch dieses medialen Produkts bzw. seiner Produzenten und anderer Interessengruppen (wie Kinobesitzer und Bundesregierung) sind die Praktiken des Musikeinsatzes ebenfalls speziell.
Zudem hatte sich der Musikverantwortliche Carl-Walther Meyer beim Aufbau des Musikbestandes für die NS-Wochenschau an dem Allgemeinen Handbuch der Film-Musik und an dem darin vorgeschlagenen thematischen Skalenregister orientiert.37 Dass sich Meyer an dieses Werk hielt, ist nicht abwegig. Erstens war das Handbuch wegen seiner bausteinhaften Zusammenstellung von etwa 3.000 Stücken (die ‚Kinothek‘38) damals sehr bekannt und ein Standardwerk (Siebert 1990: S. 17); zweitens stand einer der Autoren, Guiseppe Becce, der UFA sehr nahe – der zentralen Produktionsstätte der Deutschen Wochenschau. Becce hatte ab 1918 für die UFA als Dirigent gearbeitet und außerdem die Musik für viele bekannte Bergfilme geschrieben.39 (Vgl. Wulff 2008; vgl. Thomas 1962: S. 81-82)
Im Standardwerk von Erdmann, Becce & Brav geht es darum, Filmillustratoren Hilfen für ihre tägliche Arbeit an die Hand zu geben. „Die Filmmusik ist die beste, die man nicht hört“ – diesen oft diskutierten Satz40 deuten die Autoren so: Wichtig sei vielmehr, dass die Musik „mit der Filmszene untrennbar zusammenfließt“ – als künstlerischer Lehrsatz und „Gesetz von der Einheit“ (Erdmann, Becce & Brav 1927: S. 45). Diese Einheit ist in der Gestaltung der Nachkriegswochenschau häufig zu beobachten. Beispielsweise korrespondieren Musikwirbel mit wirbelnden brennenden Papierblättern auf der Straße, wie in NDW Nr. 177 mit einem Sonderbericht über den Aufstand in Ost-Berlin am 17. Juni 1953.
In der Stummfilmzeit war eine solche Passgenauigkeit kaum gegeben, denn zur Filmbegleitung wurden zunächst ganze Konzert-Stücke gespielt. Das Orchester eines Lichtspielhauses war ursprünglich „ein Ableger des Kaffeehauses“ und man spielte Unterhaltungsmusik. (Ebd.: S. 25) Doch eine durchgängig erklingende Musik funktionierte immer weniger; häufige Szenenwechsel komplizierten für Musikmeister den Umgang mit dem Film. Während z.B. in der Oper Rezitative als Pausen fungieren, gibt es im Film keine Musik für solche Stellen. (Ebd.: S. 47-48) Im Oktober 1950 beschwerten sich Zuschauer, dass in NDW Nr. 39 im Beitrag über die Einweihung der Freiheitsglocke in Berlin der Glockenklang von der Musik („Marathonlauf“, 3. Satz, von Herbert Windt41) übertönt wurde.42 „Wo Musik nicht hilft, da stört sie“ (Erdmann, Becce & Brav 1927: S. 49) wurde bereits 1927 als Grundsatz formuliert.
Ein weiteres Prinzip aus der Stummfilmzeit betrifft Szenen-Übergänge. Zwar war ein Musikwechsel so unauffällig wie möglich zu gestalten, doch konnte – je nachdem ob sich Personen, oder Schauplätze änderten – ein Musikwechsel vom „unbetonten Umschlagen“ bis zum „stark betonten Abriß“ variieren. (Ebd.: S. 53) Dazu ein Beispiel aus der NDW: In Nr. 433 vom 16.5.1958 wird im Sujet über den Wiederaufbau auf Helgoland der Zuschauer durch Archivbilder in die 1930er Jahre zurückversetzt und diese Szene mit Musik aus „Fatinitza“ (Operette von Franz von Suppé) unterlegt – während die anderen Bilder von einem „heiteren Marschfox“ von Trede begleitet sind.43
Außerdem machen Erdmann, Becce & Brav darauf aufmerksam, dass ein Musikwechsel nicht unbedingt sofort im Moment des Bildwechsels erfolgen sollte. Besonders bei starken Gegensätzen sei es sinnvoll, „wenn die Musik ihren neuen Akkord um einige Sekunden vorher anschlägt“, d.h. beispielsweise die Musik für ein drohendes Unwetter früher beginnen zu lassen, als das im Film sichtbar wird. Somit würde sich eine „antreibende Wirkung“ ergeben, Spannung und Erwartung geweckt werden („Aktivität des musikalischen Gedankens“ genannt). (Erdmann, Becce & Brav 1927: S. 53-54) Diese Vorgehensweise wurde offenbar beibehalten und ist auch bei der Neuen Deutschen Wochenschau zu beobachten: Die Musik setzt beim Sujetwechsel kurz vor dem Einstellungswechsel ein, bzw. schon beim Zwischentitel oder einem Bild, das als Trenner dient, wie bei NDW Nr. 19 vom 6. Juni 1950 (vgl. oben).
Neben den aufgezeigten allgemein gültigen Prinzipien geben die Verfasser des Handbuchs dezidierte Empfehlungen für den Musikeinsatz in der Wochenschau,44 für die sie die Bezeichnung „Tagesschau“45 verwenden. Sie empfehlen, diese schwungvoll zu gestalten. Beispielsweise bei Berichten mit dahinstürmenden Menschenmassen oder Unfälle, sportliche Vorgänge, Naturaufnahmen könne man von einem „Rhythmus einer Landschaft!“ [sic] sprechen. Hier finde der Musiker „bewegungsmäßig rhythmische Anhaltspunkte“ und „der glückliche Einfall“ könne „hübsche Momentwirkungen“ erzielen. Die Notwendigkeit, rhythmische Elemente zu bringen, hat sich ständig fortgesetzt und ist praktisch in jeder beliebigen NDW-Ausgabe erkennbar, z.B. bei Tänzen, Sportveranstaltungen, Maschinen in Aktion, Eisenbahnrädern, Zeitungsrotationen, etc.
Eine „Tagesschau“ sei eine Bildberichterstattung und gebe nur Tatsachen wieder, die Musikanmutung dürfe nicht „gefühlvoll“ werden. Eine ‚Neutralität‘ sei besonders bei ernsten Anlässen zu wahren, während man am richtigen Platz auch eine „heitere Note“ einfließen lassen könne. Was als neutral oder gefühlvoll gelten sollte, ist nicht ausgeführt. Da Musik, wie gleichzeitig eingeräumt wird, mit Gefühl einzusetzen ist, ist diese Empfehlung beliebig auslegbar. Trotzdem ist hier der schmale Grat erkennbar, auf dem auch die NDW zu balancieren hatte: auf der einen Seite nüchterne Information und auf der anderen Seite schwungvolle Unterhaltung. Beides musste sich in der Musik spiegeln und wurde von Kinobesitzern und Kinobesuchern vielfach (in Zuschauerpost und Briefen) eingefordert.46
Außerdem waren Abnutzung und schädliche Routine zu vermeiden. Bei national bedeutenden Anlässen konnten festliche Märsche und Hymnen verwendet werden – jedoch „sparsam“. Beispielsweise sollte nicht bei jedem Auftritt des Staatsoberhauptes die Nationalhymne gespielt werden – dies würde „profanierend“ wirken. Offenbar wurde bereits 1927 befürchtet, durch Musik eine Stereotypisierung und damit eine Art Abstumpfung beim Publikum hervorzurufen. Bei sportlichen Vorgängen empfiehlt das Handbuch „auf Bewegung gestellte Stücke“, wie Märsche und Galopps. Diese gehörten auch bei der NDW zu den ausgesprochen oft verwendeten Musikgattungen (z.B. für Sportberichte). Landschaften, Tierbilder und Kinderszenen sollten hauptsächlich „idyllisch“ begleitet werden. Was „idyllisch“ bedeutet, ist an den Notenstücken abzulesen, die sich im zweiten Teil des Handbuchs befinden – und entspricht dem, was wir heute darunter verstehen würden: Wer denkt bei einer ‚Idylle‘ nicht an Flötenmusik und zarte Streicher? (Beispiel dazu s.u.) Michel Chion (1991) merkt allgemein zum Ton im Film an, dass sich schon durch das Theater – und nachfolgend durch das Kino und Fernsehen „sehr starke Konventionen“ gebildet haben, die Erfahrungen eines Rezipienten überdecken, so dass sie diese als korrekte Wahrnehmung annehmen. (Vgl. Chion 1991/2013: S. 62)
Die Autoren des Handbuchs widmen sich zudem ‚musik- und filmethischen‘ Fragen und sprechen sich dafür aus, die Musik bei Bildern von menschlichem Elend und Unglück schweigen zu lassen – es sei im Rahmen einer „Tagesschau“ geschmacklos, dazu „Trauerklänge (Harmonien, Orgel!)“ [sic] anzustimmen. Wenn aber unbedingt Musik eingesetzt werden soll, sollte man „neutral-gedämpfte“ Musik verwenden. Mit diesem Grundsatz brechen die Produzenten der NDW – gerade menschliches Leid und Elend wurde traurig unterlegt. Beispielsweise im Bericht über ein Bergwerksunglück in NDW Nr. 197 vom 4.11.1953 wird „Trauermusik“47 von Gerhard Trede eingesetzt. Unglücksbilder wurden in der NDW der Stimmung und den Folgen des Unglücks entsprechend mit Lamentoso oder Elegien verdoppelt.
Im Allgemeinen sei aber auf ein „flottes“ Aneinander der Musikstücke zu achten: „Schlechte Abrisse und lahme Übergänge“ von einem Sujet zum nächsten seien bei Wochenschauen besonders peinlich, weil es hier nur auf die „äußere Stimmung“ ankomme. Das gelte umso mehr, als dass die Wochenschau am Anfang des Kinoprogramms gespielt wird und das Publikum „angeregt“ werden sollte. (Erdmann, Becce & Brav 1927: S. 10-11) Auch dieses Ziel wurde beständig weiter verfolgt – Übergänge wurden von der NDW perfektioniert. Der Musikredakteur Carl Walther Meyer selbst schrieb aus seinen Erinnerungen, dass die NDW die einzige Wochenschau gewesen sei, die Wert auf passende Übergänge gelegt hat.48 Das setzte voraus, eine gute Systematisierung von Musikstücken zu kennen.
Mit den raschen Umwälzungen im Filmgeschäft und in der Filmproduktion (in Bezug auf Länge und Komplexität von Filmen) wurde es im Laufe der 1920er Jahre notwendig, dass die Kapellmeister in den Kinos nicht mehr mit Zettelkästen arbeiteten, um Noten zu archivieren und Musik für Filme auszuwählen. (Vgl. Erdmann, Becce & Brav 1927: S. 58) Sie sollten ihre künstlerische Intuition sinnvoll nutzen können, indem sie einer bestimmten Ordnung folgten. (Ebd.: S. 38) Die Autoren des Handbuchs wollten eine solche Ordnung herstellen und gehen in ihrem „thematischen Skalenregister“ von drei grundsätzliche Musik-Kategorien aus: „dramatische Expression“, „lyrische Expression“ und die „Incidenzmusik“. (Ebd.: S. 40-41) Bei der Incidenzmusik handelt es sich um Musik für bestimmte Anlässe, die mit der Handlung verknüpft sind, z.B. Märsche, Tänze oder Lieder.49 Dazu können in einem Film verschiedene Arten von Spannungen auftreten: (1) Tiefpunkt (geringste Spannung) – wie im Fall von Monotonie, Melancholie, Resignation oder Traum und (2) Höhepunkt (höchste Spannung). Beim Höhepunkt sind zwei Arten zu unterscheiden: den mehr „schildernden“ Höhepunkt mit Charakteristiken wie Katastrophe, Hochdramatik, Naturmysterium und den „Appassionato-Höhepunkt“ mit Ausprägungen, wie Verzweiflung, Leidenschaft, Jubel. Zwischen Tiefpunkt und Höhepunkt liegen verschiedene Spannungsgrade, die sich bei der dramatischen Expression in „Mysterioso“ (geheimnisvoll) und „Agitato“ (unruhig, bewegt) einordnen und bei der lyrischen Expression als „pathetisch“ (feierlich, gefühlvoll). (Erdmann, Becce & Brav 1927: S. 40-41)
Durch das thematische Register konnte der Komponist eine Nummer ermitteln, die wiederum auf eine entsprechende Gruppe von Notenstücken im zweiten Teil des Handbuchs verweist (s. Abb. 6 und Abb. 7). Beispielsweise ist unter Lyrischer Expression und pathetisch in der Gruppe für „Glück und Dank“ (Nr. 869-902) unter Nr. 895 ein Notenstück einer Ouvertüre von Amilcare Ponchielli (1834-1886) aufgeführt50 und mit „idyllisch“ näher beschrieben (vgl. Abb. 7).
Die Incidenzmusik war die für die Wochenschau wichtigste Musikrichtung, denn die Wochenschau-Berichte sind zumeist an bestimmte Anlässe gekoppelt. Im Handbuch von Erdmann, Becce & Brav werden verschiedene Themen angeführt, die die Incidenzmusik spiegeln konnte: deskriptive Naturschilderungen (mit Naturdramatik), Tonmalerei (mehr ruhige Lyrik) und Volksart (Volksmusik mit Tanzmusik und Nationalhymnen). Die Autoren unterscheiden weiter abendländische und nicht abendländische Musik, d.h. Exotik. Nicht abendländische Musik umfasst alles, was ungewöhnlich – also eben nicht abendländisch – klingt. Man unterscheidet zwischen „kultivierter Exotik“ und „kanibalischer Negermusik“[sic] (gemeint ist Jazz, der zu der Zeit populär wurde51).
Zusätzlich wird davon ausgegangen, dass ein Musikstück durch die Bewegung (Tempo und Rhythmus) gekennzeichnet ist. Das Handbuch arbeitet daher außerdem mit verschiedenen Skalen. Eine der Skalen nimmt drei Bewegungsgrade auf: ruhig, ruhig-bewegt, bewegt (mit Formen Dreieck, Quadrat und Kreis bezeichnet); eine weitere Skala Tönungen: düster, dunkel, ernst, heiter, freudig.52 Die Zeichen für die Tönungen und Bewegungsgrade finden sich an den Noten im zweiten Teil des Handbuchs (s. Abb. 7).
Das bedeutet: Je nach Thema, Stimmung, Bewegung und Tönung konnte ein Komponist die passenden Bausteine für die Filmszenen kombinieren.
Auch wenn zu Beginn der Wochenschau-Produktion noch nicht vollständig klar sein konnte, welche Musik man benötigte, so war es für den Musikverantwortlichen der NDW, Carl-Walther Meyer, möglich, bestimmte Stimmungen aus der Erfahrung heraus zu planen. Aufgrund des übernommenen Teils des alten UFA-Bestandes tauchen in den Musikaufstellungen der NDW Musiktitel und Archivbezeichnungen auf, die denen aus dem Handbuch von 1927 gleichen. Unter den Archivbezeichnungen von Musikstücken, die aus dem alten UFA-Bestand stammten,53 sind beispielsweise folgende Einteilungen der „Musik zur Untermalung“ (MzU) abzulesen: festliche, fremdländische, heitere, heroische, ernste, düstere, groteske, flotte, lyrisch, orientalisch. Als Incidenzmusik lässt sich durch die Archivbezeichnungen identifizieren: z.B. Maschinenmusik, Katastrophenmusik, Sturm, Tänze, Galopps, Trauermusik, Unwetter. Durch die Musiktitel lassen sich weitere Einteilungen ablesen: Marsch (z.B. asiatischer, fröhlicher, flotter, maurischer, festlicher), Hymnen, Walzer, Ländler, Rumba, Polka (z.B. beschwingte Polka), Fox (z.B. flotter Fox) sowie musikalische Vortragsbezeichnungen: Largo, Allegro, Agitato (z.B. espressivo), Allegretto.
Die Musiktitel und Archivbezeichnungen mögen es für den Musikredakteur der NDW Meyer und alle seine Nachfolger und Mitarbeiter erleichtert haben, passende Musik für die Sujets einer Ausgabe auszuwählen. Das war wiederum die Basis für Gerhard Tredes Musik; seine Titelwahl vereinfachte nochmals den Zugriff und die Nutzung für das Wochenschau-Team. Aus Becces Baukasten-Ordnung und Meyers Musikauswahl (teils Altbestand, teils neue Komponisten) wurde in der 3. Stufe der Entwicklung bei Trede ein Musiksystem mit sprechenden Titeln. In den Musiktiteln (und damit in der Musik) spiegeln sich die Themen der Epoche, wie folgende ausgewählte Beispiele zeigen sollen:54
Da die bisherigen Modellen für die Analyse der Funktionen von Filmmusik, wie oben erläutert, nicht vollkommen auf die Wochenschau zutreffen, wird hier versucht, spezifische Kategorien für die Musikfunktionen der Wochenschau aufzustellen. Über die üblichen, in der Literatur über Filmmusik beschriebenen Funktionen hinaus, lassen sich Funktionen zur Strukturierung der Beiträge bzw. der Wochenschau unterscheiden:
Die Beispiele zeigen, dass die Musik in Verbindung mit dem Wochenschaufilm funktionieren konnte. Teilweise waren Tredes Melodien jedoch so eingängig, dass Kinobesucher nach einer Schallplattenaufnahme fragten56. Umgekehrt wurde eigenständige Musik von Schallplatten auch für die Wochenschau genutzt. Der Gesang als eigenständige Form ist in der Wochenschau kaum zu finden.57
Eine Ausnahme bilden Sujets über Volksfeste und Karneval – typische Lieder werden kurz angestimmt (z.B. „Wer soll das bezahlen“ von Jupp Schmitz). Bei der Thematisierung von Musik bzw. Musikstilen in der Wochenschau geht es neben der Musik auch um den zugehörigen Tanz. Je nach dem variierte der Tenor der Berichte dann zwischen Tanz als Kulturgut oder als verachtungswürdige Verrenkungen. So waren Beiträge zu Rock’n‘Roll-Wettbewerben mit beißender Ironie überzogen.
Die neue Musik in den 1950er Jahre war Ausdruck des Wertewandels und eines Hedonismus, der nur langsam akzeptiert werden konnte.58 Der Einsatz von Jazz als akustisches Sinnbild für Fremdes und Exotisches reicht jedoch weit zurück – bis zur Kriegswochenschau.59
Auch bei der Fernseh-Tagesschau war eine Musikunterlegung Pflicht. Ohne Musik waren die meist stumm aufgenommenen Bilder nicht akzeptabel. Der Chefredakteur Martin S. Svoboda war der Ansicht: „Musik treibt“60. Allerdings konnte die Tagesschau durch die knappe Zeit der Bearbeitung einer Sendung die Musikstücke nicht auf jede Szene kunstvoll anpassen, sondern nutzte z.B. Jazzstücke61 oder sinfonische Orchesterstücke als Musikteppich, der unter den gesamten Beitrag gelegt wurde. Mit diesem Musikteppich kehrt die Tagesschau in Bezug auf den Umgang mit Begleitmusik praktisch zur Stummfilmzeit zurück.
Musik als Unterlegung von seriöser Information wurde aber zunehmend als Relikt der Wochenschau kritisiert62 und 1960 bekam die Tagesschau die Form, die wir heute kennen. Somit kommt man bei der Fernseh-Tagesschau auf den Grundsatz des Allgemeinen Handbuchs der Film-Musik zurück, dass Tatsachenberichterstattung nicht gefühlvoll unterlegt werden sollte. Bei der Neuen Deutschen Wochenschau dagegen, hielt man bis zum Schluss an der Tradition fest, die Musik aus jahrzehntelanger Erfahrung heraus, thematisch und der Stimmung entsprechend zum Sujet auszusuchen und bildgenau zu schneiden, um die intendierte Funktion zu erfüllen.
Über das Musikkonzept der ostdeutschen Produktion Der Augenzeuge63 wurde bisher in den Publikationen eher beiläufig berichtet. Günter Jordan schreibt über den Produktionsbeginn dieser Wochenschau im Jahr 1946 im halbzerstörten UFA-Gebäude, dass es kein Musikarchiv gab und die Musik aus dem Bestand des Rundfunks stammte; zudem sei Musik aus Originalaufnahmen archiviert worden. Das Repertoire bestand aus weniger bekannten sinfonischen Motiven, Schlagermelodien und Unterhaltungsmusiken; es sei aber auch experimentiert worden.64 Ebenso wie in der westdeutschen Wochenschau wurde Begleitmusik eingesetzt, die dem Thema des Berichts entsprach, wie afrikanische Musik zu Zoo-Geschichten oder Akkordeon für ein Kinderfest. Als weitere Gemeinsamkeit ist zu nennen, dass die Musik zur Dramatisierung und Emotionalisierung eingesetzt wurde, wie z.B. Pauken für Bedrohung, sanfte Geigen für harmonische und idyllische Motive oder Unmelodisches, wenn Unordnung oder Unstimmigkeit zu demonstrieren war. Es sind zudem die gleichen Funktionen wie bei der NDW festzustellen. Beim Augenzeugen ist jedoch besonders zu beobachten, wie sich der Musikeinsatz durch die politischen Entwicklungen veränderte, und der Kalte Krieg wird durch die Musik verdeutlicht. Beispielweise werden Berichte mit Vorwürfen an den Westen (Neofaschismus, Ausbeutung der Arbeiter, Imperialismus) mit der Moritat von „Mackie Messer“ aus der Dreigroschen-Oper unterlegt (z.B. Der Augenzeuge A 49 vom 13. Juni 1960).
Auch für Der Augenzeuge wurden zu jeder Ausgabe Musiklisten für die Verwertungsgesellschaften (AWA, Anstalt zur Wahrung musikalischer Aufführungsrechte und GEMA) erstellt.65 Die Musiklisten bestanden aus einer handschriftlichen Aufstellung des Musikverantwortlichen Kurt Zander und einer maschinengeschriebenen Version. Festgehalten sind Titel des Stücks, Komponist (Name, Vorname) und eine Nummer, die vermutlich zur Registrierung im Archiv diente. Diese Liste endete stets mit dem von Zander unterschriebenen Vermerk: „Ich versichere nach bestem Wissen, daß die von mir gemachten Angaben der Wahrheit entsprechen“. Die Listen umfassen klassische Stücke (z.B. von Beethoven, Mozart oder Prokofjiew und Tschaikowski), Gesang sowie Folklorestücke. Interessant ist, dass oftmals Musik aus DEFA-Dokumentarfilmen verwendet wurde, vielfach als Klammer und nur wenige Sekunden lang. Solche ‚Fetzen‘ von Film-Musik, z.B. aus Bevor der Blitz einschlägt, ein Spielfilm von 1959 (mit Musik von Hans-Hendrik Wehding), und Dokumentarfilme von 1959, wie Der Fall Heusinger (mit Musik von Wolfgang Hohensee) und aus der propagandistischen Filmproduktion Urlaub auf Sylt und Du und mancher Kamerad (mit Musik von Paul Dessau) kamen bis zu sechs oder sieben Mal in einer Wochenschauausgabe vor.66 Die Filmmusik bot viele melodische Facetten, die zur Unterlegung unterschiedlicher Themen geeignet waren. Ergänzend zu diesen Musik-Stücken hat es offenbar – ebenso wie in der NDW – anlassbezogene und charakterisierende Kompositionen gegeben (wie sich am Titel ablesen lässt, wie „Peitzer Teichballade“, „Sturm“ oder „Revolte“) oder sie waren Institutionen gewidmet, z.B. der „Amiga-Marsch“ (nach dem staatseigenen Plattenlabel). Der Musikverantwortliche des Augenzeugen, Kurt Zander, war selbst Komponist – von 1960 bis 1983 hat er für zahlreiche Dokumentarfilme die Musik geschrieben.67
Die staatliche Wochenschau hat sich zudem dem musikalischen Trend angepasst – sofern es mit der Ideologie zu vereinbaren war. Die Akzeptanz von Jazz und Swing erlebte in der SBZ bzw. DDR eine Entwicklung mit vielen Auf- und Abbewegungen. Nachdem von 1945 bis 1948/49 Swing und Jazz in den sozialistisch geprägten Regierungen als ‚antifaschistische‘ Musik galt und unterstützt wurde, weil sie unter den Nazis als ‚entartet‘ ausgegrenzt worden war, veränderte sich die Haltung im Kalten Krieg zu Jazz als ‚amerikanisch-imperialistische‘ Musik. Kurz nach Stalins Tod, 1953, konnten die Jazz-Fans jedoch argumentieren, dass diese Musik ein Ausdruck der unterdrückten afroamerikanischen Arbeiterklasse war. Durch die Aufstände in Polen und Ungarn wurde der Jazz 1956/57 jedoch wieder zurückgedrängt, da sich Angehörige der Jazz-Szene für einen politischen Wandel einsetzten. Ab 1958 konnte sich der Jazz in der DDR aber durch Rundfunksendungen und Clubs wieder etablieren und war ab 1965 akzeptiert.68 Im Musikkonzept des Augenzeugen lässt sich in den 1960er Jahren eine starke Veränderung bemerken: Jazz und Swing waren selbst als Unterlegung von Industrie-Sujets zu hören, die zuvor mit z.B. antreibendem Marsch begleitet worden waren. Der Grund für diese breite Anwendung liegt in einem Generationswechsel an der Spitze von Der Augenzeuge: 1959 wollte der neue Chefredakteur, Jürgen Hartmann, „das Zeitgefühl seiner Generation und der Jüngeren treffen“.69
Für das mit Jazz durchzogene Musikkonzept von Der Augenzeuge in den 1960er Jahren seien exemplarisch aufgeführt: Reinhold M. Glière mit Musik aus dem russischen Ballett „Der rote Mohn“70, Walter Ulfig mit Musik aus dem Film Oh diese Jugend71, Werner Baumgart72 mit „Fifty-Fifty“, Horst Geipel mit „Immer dufte“ (Tanzmusik mit dem Tanzorchester des Berliner Rundfunks), Harry Seeger mit „Gitarren-Swing“ (aktuelle Tanzmusik)73 und Walter Eichenberg (Leiter des Rundfunk-Tanzorchesters Leipzig, bekannt für Big Band-Sound) mit „Gand mit Vieren“74). Durch den Einsatz von Filmmusik aus DEFA-Produktionen, von DDR-Tanzorchestern, Volksmusik aus sozialistischen Ländern sowie eigenen Kompositionen konnten die Kosten für die Verwertung von Musik vermutlich geringgehalten werden. Trotzdem fehlten auch international bekannte Jazzer nicht, wie William Thomas Strayhorn mit „Nimm den D-Zug“ („Take a Train“), Herman Woody mit „Opus de Funk“ (Jazz), auch Count Basie („Swingin‘ the Blues“ und „Two o’clock jump“) war vertreten. Schließlich kam Louis Armstrong vom 20. bis 22. März 1965 zu Besuch in die DDR (Bericht in Der Augenzeuge Nr. 13/1965 von der Ankunft) und trat im Friedrichstadtpalast auf (Bericht in Der Augenzeuge Nr. 14/1965).
Der deutsche ‚Jazz-Professor‘ Kurt Edelhagen – seit Anfang der 1950er Jahren bereits aktiv – wird von der westdeutschen Wochenschau offenbar erst 1959 entdeckt, als er in Köln Jazz-Unterricht gibt. In der UFA-Wochenschau75 Nr. 130 vom 20. Januar 1959 wird Jazz allerdings noch als ‚umstrittenes Thema‘ dargestellt. 1964 besucht der Vorzeige-Jazzer Edelhagen Moskau, was die westdeutsche Wochenschau mit im Tenor des Kalten Krieges betrachtet und so verdeutlicht, wie Jazz zum Politikum werden kann. In Die Zeitlupe76 Nr. 747 vom 19. Mai 1964 unterlegt die Wochenschau Archivaufnahmen von sowjetischen Aufmärschen mit Jazzmusik von Edelhagen und endet mit der Bemerkung des Kommentars: „Pathos, gigantische Aufbauarbeit und ideologisch beladene Symbole, so scheint es, verändern bei diesen westlichen Rhythmen ihr Gesicht. Die sozialistisch gefilmte Wirklichkeit wird freundlicher und erhält fast zivilen Charakter“77.
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