Die erste Vorlesung von Roland Barthes’ Die Vorbereitung des Romans widmet sich der kleinen Form.1 Was Barthes damit zum Gegenstand macht, ist der Ausgangspunkt des Schreibens. Zunächst widmet er sich dem Notizenmachen, das er zu kleinen literarischen Formen wie dem Haiku und zur großen literarischen Form (dem Roman) in Beziehung setzt. Barthes geht es um das Form-Werden selbst. Altmodisch ausgedrückt: um den Schaffensprozess; oder (in Barthes Worten) um die Vorbereitungen: von der „Phantasie des Schreibens“ (Barthes 2008: 39ff) über das „Begehren zu schreiben“ (Ebd., 211ff) hin zur „Praxis des Schreibens“ (Ebd., 379ff).
Barthes’ Ausgangshypothese ist, „dass die ‘Literatur’ […] immer aus dem ‘Leben’ gemacht wird.“ (Ebd., 53). Er hat dabei aber kein anamnetisches Verfahren vor Augen – einen Schriftsteller, der sein Leben erinnert –, sondern ein Schreibverfahren, das sein Schreiben direkt aus der Gegenwart zu gewinnen sucht: „Man kann die Gegenwart schreiben, indem man sie aufzeichnet“ (Ebd., 54). Der Schluss der ersten Vorlesung mündet in einer Untersuchung dieses Schreibverfahrens, das damit beginnt, „einen Span des Gegenwärtigen abzuheben, aufzulesen, zu ergreifen, zu erbeuten, so wie er Ihnen vor Augen, ins Bewußtsein springt“ (Ebd., 152) und an dessen Ende die Notiz steht. Barthes geht es ferner darum, diese Aneignung der Gegenwart (im Schreiben) im Vergleich mit anderen Medientechniken zu erfassen: Er stellt Analagien zum Schnappschuss der Fotografie her oder zur caméra stylo: „so wie ein Gangster seinen Colt zieht (vgl. die Technik der freihändig gezückten caméra stylo: doch es geht nicht darum etwas zu zeigen, sondern den Keim eines Satzes entstehen zu lassen […])“ (Ebd., 153).
Auch wenn Barthes in diesen Vorlesungen streng genommen immer nur das Schreiben (die Literatur) im Fokus hat („den Keim eines Satzes“) und keine die Künste übergreifende Theorie der ästhetischen Produktion, so sind die Querverweise zu den anderen Künsten mehr als auffällig. Die kleine Form der Notiz wird ausführlich im Vergleich mit der Fotografie untersucht. Es werden zudem Parallelen zur kleinen Form in der Musik herausgestellt, und mit dem Hinweis auf die caméra stylo schließt Barthes – zumindest metaphorisch – auch eine Praxis des Filmemachens in die kleine Form mit ein.2
Für die große Form wird nicht nur der Roman als Zielhorizont gesetzt, sondern auch der Spielfilm und das Theaterstück. Barthes’ erste Vorlesung fokussiert schließlich die kleinen Formen in den großen Formen. Er nennt sie „Epiphanie“ oder „Augenblick der Wahrheit“ (Ebd., 167ff); mit Verweis auf Diderot und Lessing „der fruchtbare Augenblick“ und mit Brecht und Eisenstein der „soziale Gestus“ (Ebd., 179). Barthes konkrete Beispiele stammen dennoch vor allem aus der Literatur. Er zieht literarische Großformen heran: James Joyce Ulysses und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aber dann – überraschend – auch Federico Fellinis CASANOVA (ITALIEN 1976):
„ich denke an andere Augenblicke der Wahrheit (für mich, bei meinen Lektüren): […] die mechanische Puppe in Fellinis Casanova: ihre Schminke, ihre Magerkeit, der Federbusch, die weißen, schlechtsitzenden Handschuhe, die Haltung des zu hoch liegenden Arms […] Der ganze Casanova Fellinis (den ich sonst kaum liebe) ist gerettet, weil die mechanische Puppe klick gemacht hat – in mir, wohlgemerkt […]“ (Ebd., 177ff).3
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass Barthes in seine Überlegungen auch den Film mit einbezieht, oder genauer gesagt, den Ausschnitt eines Films, als kleine Form deklariert und denkt.
Mit dieser Charakterisierung als „Augenblick der Wahrheit“, der im Subjekt des Lesers oder Zuschauers 'klick' macht, bindet Barthes die kleine Form an die menschliche Existenz zurück. Ähnlich wie in seiner Beschreibung des Punctums der Fotografie (in seinem Buch Die helle Kammer) geht es im Augenblick der Wahrheit nicht um ein medientechnisches Klicken der Apparatur, sondern um ein subjektives Klicken in der ästhetischen Wahrnehmung. Was sich in diesen Überlegungen andeutet, ist ebenso eine Methode zur Wahrnehmung der Gegenwart, wie eine mit ihr zusammenhängende (intermediale) Theorie der Form. Beides wird bei Barthes zurückgebunden an den Leser/Betrachter/Zuschauer – und an den Autor. Was damit einhergeht, ist ein spezifisches Interesse für kleine Formen. Aber auch eines, das die kleine Form in den großen Formen aufspürt und herausgreift und davon ausgehend einen anderen Lektüremodus der großen Form entwickelt. Diese Vorgehensweise durchzieht die Schriften Barthes offenbar von Anfang an: Sie trifft bereits für sein erstes Buch Am Nullpunkt der Literatur von 1953 zu, dessen Eingangsbeispiel Details einer spezifischen Schreibweise untersucht, die jenseits des kommunikativen Sinns liegen.4 Sie gilt besonders für Die helle Kammer von 1980, wo er in der Fotografie noch einmal das Detail, das Punctum, entdeckt (die kleine Form in der kleinen Form).
In dem kurzen Essay Der dritte Sinn von 1970 (Barthes 1990) untersucht Barthes das Verhältnis von kleiner Form zu großer Form explizit für den Film. Die kleinen Formen, die er dabei in den Blick nimmt, sind Einzelbilder aus Filmen Sergej Eisensteins. Genauer gesagt handelt es sich um Filmstandbilder aus den Cahiers du cinéma.5 Diese Filmstandbilder unterzieht Barthes einer ausführlichen Lektüre und rollt davon ausgehend die Betrachtung der Eisenstein’schen Werke neu auf. Eisenstein wird dabei zum modernen Filmautor. Das besondere Argument, das Barthes hierbei in Anschlag bringt, ist eines der Form, die sich dem Betrachter zeigt, und in der jenseits des fiktiven Films „das ‘Leben’ und somit das ‘Wirkliche’ selbst zu lesen“ ist (Barthes 1990: 59).
Auch bei den Barthes’schen Filmstandbildern handelt es sich folglich um Augenblicke der Wahrheit, die im Betrachter klick machen. Was Barthes aber im Anschluss an diese Überlegungen in Aussicht stellt, ist ein anderer Lektüremodus des Films: „eine wirkliche Veränderung der Lektüre und ihres Objekts“ (Ebd., 66). Gerade darin besteht der Kern von Barthes’ Überlegungen zur kleinen Form. Er deutet an, dass dieser Lektüremodus (wie beim Lesen) frei über den Film verfügt. Ihn also beispielsweise nach Belieben als Standbild betrachtet oder vor und zurück laufen lässt. Aber das wäre nur die technische Seite. Das zentrale Vorhaben Barthes’ liegt darin, das Objekt tatsächlich zu verändern. Sprich: es geht ihm um ein „[E]rforschen“ des Films, um eine Lektüre von Standbildern und Ausschnitten – also um eine zitathafte Lektüre – in der ein filmisches Palimpsest entsteht.
Die Verschiebung, die dabei im Raum steht, betrifft als Objekt nicht nur den einzelnen Film, sondern eine Theorie des Films und dessen Zuschauer, die Barthes hier analog zur Texttheorie in Aussicht stellt, – die er aber interessanterweise nicht direkt an die Texttheorie anschließt, oder auf den Film überträgt. Barthes spricht stattdessen von einer „Theorie des Fotogramms“ (Ebd., 65). Damit ist allerdings nicht nur eine Theorie des Filmstandbildes gemeint. Was er damit zu denken sucht, ist vielmehr eine analog zum modernen Textbegriff gedachte Theorie des Films. Anders formuliert: Barthes betrachtet den Film nicht mehr als eine Geschichte von Werken, sondern aus der Perspektive eines modernen Zuschauers, – den diese Verschiebung ebenso betrifft und – der in freier Lektüre den Film neu zusammensetzt aus Momenten und Szenen, die in ihm klick machen. Das Ergebnis ist ein modernes Verständnis von Film und Zuschauer: Film als Geschichte einer Lektüre kleiner Formen – als Erforschung von Filmstandbildern, Einstellungen, Filmausschnitten.
Diese hypothetische Theorie des Films, die auf den Lektüren kleiner Formen aufbaut, hat etwas vom Gebrauch des Dias in der Kunstgeschichte. Barthes wurde immer wieder zum Vorwurf gemacht, dass er seine Theorie nur an stehenden Bildern entwickelt hat.6 Die Kunstgeschichte hat ihrerseits aus der Lektüre der (stehenden) Formen eine performative Methode entwickelt. Diese beruht im Wesentlichen auf einer räumlichen Anordnung mit zwei Diaprojektoren. Darin wird die rechte Dia-Projektion mit der linken und die linke mit der rechten verglichen – ein Verfahren, das in gewisser Weise an die Vorformen des bewegten Bildes erinnert. Die Stimme des Vortragenden verbindet die Einzelbilder, fädelt sie auf oder schlägt Brücken. Das Ideal dieser Anordnung (so könnte es einem jedenfalls erscheinen), ist aber weniger die Deutung durch den Vortragenden, sondern das, was sich ohne die Sprache, allein aus dem Neben- und Nacheinander der Formen erschließt – (oder im Betrachter / Zuschauer herstellt).
Die Anordnung der Kunstgeschichte ist auf die Untersuchung der sichtbaren Form ausgerichtet. Ihr Vorgehen wirkt aber auch selbst formgebend (auch wenn diese Formgebung innerhalb des Fachs nur selten reflektiert wird). Die Praxis dieses Dispositivs stellt Dias her. Sie arbeitet mit dem Prinzip der fotografischen Reproduktion und der Verkleinerung. Die fotografischen Miniaturen sind Teil eines Archivs von künstlerischen Werken, das am Leuchttisch des Kunsthistorikers immer wieder neu geordnet werden kann. In der Präsentation werden die Miniaturen dann wieder vergrößert und mit Tonspuren (Vortragstexten) unterlegt.
Auch wenn es auf den ersten Blick wie ein Gag erscheint, so lässt sich bei näherer Betrachtung das Dia des kunsthistorischen Archivs sehr wohl als eine Variante der kleinen Form begreifen. Denn das Dia allein als technisch reproduzierte Miniatur zu fassen, verkennt den Zusammenhang des Archivs, als dessen kleinste Einheit es die Vielzahl kunsthistorischer Präsentationen strukturiert. Im Dia ist wie in der Schrift ein dekonstruktives Moment von Anfang an eingeschrieben. So wie das Dia-Archiv einerseits das klassische Werk bewahrt und es andererseits in seinem Gebrauch – in der Vortragsbewegung der Diadoppelprojektion – dazu tendiert, es als Einzelwerk in der Zeitlichkeit (und Räumlichkeit) der Präsentation aufzuheben, so sind in den Lektüren Barthes’ Wahrnehmungen der Gegenwart enthalten und gleichzeitig neu zusammengesetzt. Barthes verwendet allerdings kein Dia-Archiv, sondern kleine Einheiten des Films: Filmstandbilder, die er neu montiert.7 Die maßgeblichen Unterschiede zwischen der kunsthistorischen Methode und der Praxis von Roland Barthes liegen aber im Schauplatz, an dem sie sich ereignen und in der Behandlung ihres Gegenstandes. Der zentrale Ort des Geschehens bei Barthes ist nicht der kunst- oder filmhistorische Vortrag, sondern die Lektüre des modernen Zuschauers. In dieser Lektüre gibt es zwar Augenblicke der Wahrheit, aber kein Original, das sich als Kunstwerk greifen ließe. Film wird in dieser Lektüre immer erst hervorgebracht, als Spiel oder kinematografischer Akt des Zuschauers, der sich zwischen den Bildern, zwischen kleiner und großer Form bewegt. Oder anders formuliert: als Zusammenhang von Lesen und Schreiben bzw. Zuschauen und Filmemachen.
Barthes’ eigenes Schreiben und seine Untersuchungen der kleinen Form überlagern historisch betrachtet die Entwicklung des modernen Kinos. Seine Konzeption eines modernen Textbegriffs entsteht parallel zum Begriff des modernen Films. Die Filmpraxis der Nouvelle vague und die der Literatur- und Texttheorie scheinen sich gegenseitig zu inspirieren. Beiden ist ein verändertes Werkverständnis gemein. Das Werk wird durch einen Begriff des Textes bzw. der Intertextualität abgelöst – aber auch erweitert im Sinne der Intermedialität. Das impliziert das Arbeiten mit Zitaten und Anspielungen, die Integration von kleinen Formen in großen Formen, aber auch das Spiel mit offenen oder fragmentierten Formen, die sich nur mehr im Kontext von anderen Texten bzw. Filmen erschließen.
Besonders prägnant hat Barthes selbst diese Frage der Form in seinen Mythen des Alltags von 1957 ausgestellt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil versammelt eine Reihe von kurzen Texten, die man als Kritiken bezeichnen kann oder als Analysen an empirischem Material. Der zweite Teil ist eine Systematisierung der Einzelbeobachtungen. In der Vorbemerkung des Buches beschreibt der Autor diesen Aufbau, weist aber gleichzeitig daraufhin, dass er „nicht die alte Überzeugung teilen kann, nach der eine wesensmäßige Differenz zwischen der Objektivität des Gelehrten und der Subjektivität des Schriftstellers besteht, als ob der eine mit einer ‘Freiheit’, der andere mit einer ‘Berufung’ begabt wäre …“ (Barthes 1964: 8). Nimmt man diese Haltung ernst, so stellen sich bereits die Mythen des Alltags als eine frühe Fassung der Vorbereitung des Romans dar: der erste Teil mit seinen Kritiken, der zweite Teil (im Ansatz) eine große (theoretische) Form – wenn auch kein Roman im klassischen Sinne. Was der kleinen Form und den Mythen des Alltags gemeinsam ist, ist die Beobachtung von Gegenwart, von Aktuellem, seine Untersuchung im Hinblick auf die Wirklichkeit und eine Verankerung in der Lektüre des Schreibenden.
Eine der Kritiken des ersten Teils widmet sich dem Guide Bleu, einem traditionellen Reiseführer, der ähnlich dem deutschen Baedeker in erster Linie Kunst- und Architekturdenkmäler verzeichnet. Barthes analysiert zunächst die darin enthaltenen Landschaftsbeschreibungen als einer Mythologie des 19. Jahrhunderts entsprungen. In Bezug auf die Darstellung des (franquistischen) Spaniens wird die Kritik schärfer. Der Vorwurf der Beseitigung der Wirklichkeit wird erhoben:
„Die Auswahl der Denkmäler beseitigt die Wirklichkeit der Erde und zugleich die der Menschen, sie berücksichtigt nichts Gegenwärtiges, das heißt Geschichtliches, und dadurch wird das Denkmal selbst unentzifferbar und somit stumpfsinnig. Der blaue Führer selber wird durch eine Operation, die er mit jeder Mystifizierung gemeinsam hat, zum Gegenteil dessen, was zu sein er verkündet, zu einem Instrument der Blendung“ (Ebd., 61).
In einer Randbemerkung wird die Kritik auch auf andere Reiseführer ausgedehnt, wie den Guide Michelin.8
Die Nouvelle vague scheint diese grundlegende Kritik der Mythen des Alltags aufzugreifen. In ihren Filmen wird das Programm der Barthes’sche Kritik fortgesetzt. François Truffaut geht in seinem Film LES 400 COUPS (FRANKREICH 1959) sogar noch etwas weiter und macht den gleichen Gegenstand zum Thema: den Reiseführer Guide Michelin. Dieser wird Teil der Auseinandersetzung zwischen Antoine Doinel und seinen Eltern. Im ersten Drittel des Films ist er zunächst Gegenstand eines Dialogs:
-Antoine!
-Ja Papa.
-Wohin hast Du meinen Guide Michelin getan?
-Ich hab ihn nicht angefasst.
-Du weißt, ich dulde keine Lügen!
-Das ist die Wahrheit!
-Ich hab ihn gestern zurückgestellt.
-Ich schwöre ich war’s nicht.
-Hier verschwindet einfach alles.
-Ich war es nicht.
-Na schön, dann frag ich Deine Mutter.
Truffaut setzt die Strategie Barthes’ im inszenierten Dialog fort, indem er die Mythologie der Reiseführer auf die Dialoge seiner Nutzer überträgt. Die Aussage „ich dulde keine Lügen“ ist mit der Akzeptanz der Mythologien der Reiseführer nicht vereinbar. Und andererseits ist das „Verschwindenmachen der Mythologie“ (durch den Sohn Antoine) Teil einer angewandten „Entmythologisierung“ des Films. Gleichwohl ist die Szene in den Film nur eingestreut. Sie ist nicht zwingend für das Drehbuch, verleiht dem Film aber einen Span sozialer Realität, indem sie die kleinbürgerliche Ideologie des Elternhauses en passant kennzeichnet. Die Eltern von Antoine Doinel haben nicht den Guide Bleu im Hause, sondern nur den Guide Michelin. Den Guide bleu würde man eher der Familie von Antoines großbürgerlichem Schulfreund zuordnen (mit explizitem Bezug zur historischen Kunst). Schließlich hat der Guide Michelin im letzten Drittel des Films doch noch seinen leiblichen Auftritt.
Die Einstellung schildert die Überlegungen der beiden Jungen zu einer Reise ans Meer. Auch wenn sie sich auf den zurückliegenden Dialog zwischen Antoine Doinel und seinem Vater bezieht, so bildet diese Einstellung (auch wegen ihres zeitlichen Abstands) eine Form für sich. Die Eigenständigkeit der Form wird zudem betont durch die Kamera, die zunächst eine Pariser Straßenschlucht herauf fährt und dann das Fenster einer Dachmansarde zeigt, aus dem heraus zwei Jungen ihre Pusterohre richten. Die Seiten des Guide Michelin werden einer anderen Nutzung zugeführt. Sie dienen als Ladung für die Pusterohre. Gleichzeitig überwinden sie als Papierkugel die Straßenschlucht, gelangen auf die andere Seite der Straße zu einem Ziel, das jenseits der Einstellung für die Zuschauer unsichtbar bleibt. Nicht der Guide schickt hier die Menschen auf die Reise, sondern die beiden Jungen pusten den Guide über die Straße ins Off.
Die Modernität dieses Films, so lässt sich zusammenfassen, liegt in seiner Strukturierung durch kleine Formen. Mit dieser und anderen Einstellungen werden der großen Form des Films immer wieder Akzente hinzugefügt (Späne einer historischen Gegenwart), die eigentlich ohne Bedeutung sind. Sie enthalten aber Verweise auf Lektüren, aufs Schreiben – aber auch auf „grenzüberschreitende“ Lektüren. Die inszenierte Bearbeitung des Guide Michelin ist kein Akt des Vandalismus, sondern eine Rück-Verwandlung von Text (Ideologie) in echtes, körperlich-getränktes Begehren (ohne Ziel). Sie erscheint wie ein Augenblick der Wahrheit, der aus dem Film herausragt.
Es ist also kein Zufall, dass die Schrift und das Schreiben zu einem zentralen Thema des modernen Kinos werden. Schon die erste Einstellung von Trauffauts LES 400 COUPS bringt dies auf den Punkt. Sie zeigt Schüler mit Federhaltern vor ihren Schreibheften – und sie lässt das Kratzen der Federhalter auf Papier hören. Gleichzeitig führt sie auch das ‘Schreiben’ mit der Kamera vor. Allerdings nicht direkt, in dem sie eine andere Kamera fokussiert, wie es Jean-Luc Godard einige Jahre später im Vorspann von LE MÉPRIS (FRANKREICH / ITALIEN 1963) explizit ausgestellt hat: Eine Kamera filmt eine Kamera. Truffaut geht dezenter vor. Er setzt die schreibenden Schüler ins Verhältnis zur aufnehmenden Kamera. Metaphorisch gesprochen buchstabiert er mit der Kamera, und konkret zeigt er, was eine Kamera in einer Schulklasse tun kann: eine Einstellung aufnehmen, sich positionieren, eine Haltung einnehmen.9
Diese Strategie wurde seit den 1960er Jahren immer weiter ausdifferenziert. Sie zeugt von einem spezifischen Verständnis der filmischen Form. Innerhalb der großen (erzählenden) Form, werden kleine selbstreflexive Formen angesiedelt – einzelne Einstellungen oder Szenen –, die der großen Form einen spezifischen Akzent verleihen und sie mit Augenblicken der Wahrheit aufladen. Bisweilen können diese kleinen Formen die große Form bis an den Rand ihrer Konsistenz treiben. Ein zeitgenössisches Beispiel für die Radikalisierung dieser Strategie ist Nanni Morettis Film CARO DIARIO (Liebes Tagebuch) (ITALIEN 1994) von 1994. Auch Morettis Film zeigt in seiner ersten Einstellung das Schreiben und stellt diesem dann Einstellungen mit der Kamera gegenüber. Der ganze Film ist eine Meditation über das Verhältnis von Schreiben und Filmen und die Figur des Autorenfilmers (den Moretti selbst spielt). Die „große Erzählung“ dieses Films gliedert sich in drei Kapitel. Und diese Kapitel zerfallen wiederum in Episoden, die durch die Frage des Schreibens und des Filmens strukturiert sind. So wird im ersten Kapitel von einer ganzen Reihe von Filmprojekten berichtet, die der Autorenfilmer realisieren möchte. Gleichzeitig erzählt der Autor von anderen Filmen, die er im Kino gesehen hat – und er inszeniert diese Erfahrungen. Daraus entsteht eine Sammlung von Fragmenten vergangener Filmerfahrungen und zukünftiger Filmprojekte, die nur durch die Figur des Autors zusammengehalten werden. Diese Figur bleibt allerdings fragwürdig. Denn sie ist fiktiv und real zugleich.
Im zweiten Kapitel des Films setzt Moretti dieses Thema fort. Er zeigt, dass ein moderner Autor nicht aus einer Position der Abgeschiedenheit heraus schreibt. Ein moderner Autor – so Morettis filmisch inszenierte These – setzt sich vielmehr ins Verhältnis zu den Dingen und zu anderen Filmen. D.h. er arbeitet intertextuell oder besser interfilmisch, intramedial und intermedial. In einer Szene wird das besonders anschaulich. Moretti befindet sich in einer Bar und imitiert vor einem Fernsehbildschirm einen weiblichen Star des italienischen Nachkriegskinos: Silvana Mangano. Im Schuss-Gegenschussverfahren zeigt er uns, wie er sich als Autorenfilmer einen Ausschnitt aus dem Film ANNA (ITALIEN / FRANKREICH 1951) von 1951 von Alberto Lattuada aneignet, und wie aus der Aneignung eine eigene Form entsteht – und zwar ganz konkret und mit den einfachen Mitteln des Filmschnitts. Der nachahmende Moretti vor dem Fernseher wird plötzlich – durch eine andere Schnittfolge des Materials – zum Vortänzer für den Filmstar im Fernseher.
Das Notizenmachen vervielfältigt sich in dieser Szene. Moretti arbeitet einerseits mit einer caméra stylo, d.h. er schreibt mit der Kamera (und am Schneidetisch). Andererseits schreibt er auch als Autor und Schauspieler im Film (und ist dabei auf der Leinwand zu sehen, wie er Tagebuch schreibt oder ein Drehbuch skizziert). Und schließlich schreibt er auch als tanzender Schauspieler Zeichen in die Luft, performt Gesten in den Raum und schafft damit raumzeitliche Körper-Notationen auf Film. Dem Zuschauer zeigt Moretti ein Palimpsest unterschiedlicher kleiner Formen, das Exkurse in die Filmgeschichte enthält (hier der Neorealismus). Gleichzeitig entwirft er ein modernes, weiter zu schreibendes Kino der Zukunft: ein Kino des modernen Zuschauers, der als Co-Autor den Film mit Hilfe kleiner Formen in ein eigenes Palimpsest verwandelt.
Astruc, Alexandre (1992): »Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter«, in: Blümlinger, Christa/Wulff, Constantin (Hg).: Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Sonderzahl: Wien, S. 199 – 204.
Barthes, Roland (2008): Die Vorbereitung des Romans, Suhrkamp Frankfurt a.M.
Barthes, Roland (2006): Am Nullpunkt der Literatur, Suhrkamp Frankfurt a.M.
Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer, Suhrkamp Frankfurt a.M.
Barthes, Roland (1990): »Der dritte Sinn« [1970], in Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Suhrkamp Frankfurt a.M., S. 47 – 66.
Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags, Suhrkamp Frankfurt a.M.
Pauleit, Winfried (2008): »Barthes’ dritter Sinn. Ansätze einer Semiologie des Kinos, die von den Körpern ausgeht«, in: Nessel, Sabine/Pauleit, Winfried et.al.: Wort und Fleisch. Kino zwischen Text und Körper, Bertz + Fischer Berlin, S. 66 – 74.
Pauleit, Winfried (2010): »Diesseits der Leinwand: Differenzerfahrung als Persönlichkeitsbildung im Kino«, in: Henzler, Bettina/Pauleit, Winfried et.al. Vom Kino lernen. Internationale Perspektiven der Filmvermittlung, Bertz + Fischer Berlin, S. 29 – 38.