Postfordismus und Potenziale von Politik Ex Machina (mit Kracauer, Tati und Nancy gegen Pabst, Bloch und Boss)
Tanz ist an sich nicht mein Thema, aber seit langem bis zu gewissem Grad mein Ding. Das Tanzen mehr als der Tanz. In dieser Eigenschaft absolvierte ich 1984 eher zwanghaft einen Gymnasien-Kurs der Wiener Traditions-Tanzschule Elmayer: ein Flaggschiff bürgerlicher Distinktionstradition (und heute ihrer Retro-Zyklen). Wie die meisten meiner Mitschüler aus einem damals reinen Buben-Gymnasium hatte ich panische Angst vor fremden Mädchen, zumal jener namens Elisabeth, mit einem schönen Altwiener (sprich: böhmischen) Nachnamen. Durch Zufall wurde ich ihr permanenter Kurs-Tanzpartner. Sie war groß, dünn aber kräftig, hatte (wie meine Freunde feixten) eine fast so große Nase wie ich, ‚böhmakelte‘ beim Reden und bemäkelte meinen Foxtrott. Vor-vor-Seit-Schluss, Rück-rück-Seit-Schluss. Einmal herrschte sie mich beim Tanzen an: „Führ doch, du Affe!“
Dieser Imperativ blieb mir im Gedächtnis und ist mein erster Zugang zum Tanzen im Denken zum Film. Wer nicht hören will, muss führen. Soll heißen: Führung scheint unentrinnbar. Entweder du führst oder du wirst es. Noch perfider: Entweder du bist die Person, die führt, noch dazu, indem sie adäquate Führung fordert, oder du wirst – ob Affe oder nicht – zum Führen angehalten. Ich weiß nicht, ob heute noch beim Zweiertanz so sehr vom „Führen“ die Rede ist; aber der heutigen neo-autoritären Revivalkultur traue ich zu, dass dem so ist. Tanzen also als Sache von Führung mit ihrem Hang zur ‚Allesdurchdringung‘.
Ich beziehe mich da zunächst auf einen kommunistischen Film- und Seins-Denker der Evidenz: Schau! Look! Now see! – französisch: Jean-Luc Nancy. Besagter Nancy sagt Folgendes zur Ununterscheidbarkeit von Tanz und Alltagsverhalten: Die Alltagskonfiguration ist vom Tanz durchdrungen – „und es keimt der Verdacht, dass es wohl unmöglich bleibt, zu unterscheiden, wo und wann der Tanz eigentlich begonnen hat.“ (Nancy 2010: 42) Ein Fall von ‚Evi-Dance‘: In der Evidenz des Singular Plural Seins, des Immer-schon-gemeinschaftlich-Seins von Körpern, einer Gemeinschaft, die ohne Form und Ende ist (Nancy 2005), treten an ihren Routinen choreografische Züge hervor. Was nun in meinem Zugang ebenso hervortritt: wie diese Gemeinschaft, so wie ihr Tanzen, voll Führungen ist. Dies im gouvernementalen Sinn der Lenkung gelehriger, produzierender, genießender Individual- und Kollektivkörper. Führen als Regieren. Das gilt auch für den Film: Da wird ‚Regie geführt‘. Aber auch ungeachtet solcher Kalauer machen Filme – vielleicht weniger evident – vielmehr als ein Macht-Problem einsichtig, und zwar was? Wie das Auftauchen von Tanz in Routineabläufen in deren Führungen eingefügt bleibt und so deren Reichweite bestätigt.
Film führt Führung vor. So etwa diese Tanzszene von 1955. In DER LETZTE AKT (D/A 1955) zeigt G.W. Pabst zehn Jahre nach Kriegsende ein Sittenbild der letzten Tage in Hitlers Berliner Bunker, gedreht in Wien. ‚Führerbunker‘ also. Mein Clip zeigt Bunkerkantinen-Leben im lichtlosen Chaos, darin der Tanz zweier Figuren, die nur in dieser Szene auftreten. Unmittelbar davor ist Oskar Werner als ostentativ ‚anständiger‘ Wehrmachtssoldat mit den Worten „Sagt nie wieder Jawoll“ gestorben; es folgt ein christlicher Belehrungsmonolog.
Pabsts Gegenbild zum Tanz ist die Transzendenz; sie führt heraus aus dem machtvollen Elend menschlicher Sozietät, für das hier der Nationalsozialismus einsteht. Im Unterschied zu solcher Überschreitung markieren der laszive Striptease der Krankenschwester und ihr Boogie mit dem Versehrten einen Stillstand, ein Verharren-Wollen im Elend; dies geht in Stechschritt über, abgesetzt von der realistischen Diegese, und dann in den Schunkel-Marsch des Nazi-Lieds „Es zittern die morschen Knochen“. Die Motivketten sind hier so dicht – der Konnex von Seelenheil im Bruder und seelisch heillos ‚kranker Schwester‘, von zappelnden und zitternden Knochen –, und vor allem ist Pabsts Verständnis von Nazismus so befangen und politisch so falsch, dass das Tanzen nirgendwo hinführt, sondern nur etwas grell vorführt. Vorgeführt wird die Unentrinnbarkeit von Nazismus, hier (wie gesagt falsch!) verstanden als Form der Führung in Entfremdung: In unguter Tiefe bildlich gedacht, erscheint Nazismus als Zuspitzungsform des Sitten-Verfalls und der fernlenkenden Automatisierung von entseelten, nervösen Marionettenkörpern.1 Diese Bedrohung, so insinuiert der Film (typisch für Pabsts Nachkriegswerk), ist weiterhin akut – siehe und höre zumal die ‚weirde‘ Präsenz von Swing und Boogie-Tanz, als wär der Nazi-Bunker Jazz-Spelunke im freien Westen. Vom Jitterbug zum Zitter-Marsch: Ich komme darauf zurück; zunächst einmal scheint auch hier unmöglich zu entscheiden, wo Tanz beginnt, wo Führung endet, sowie: wo normale Warenwelt beginnt, wo Nazismus endet – in diesem sich antinazistisch gebenden, dabei aber bloß antiamerikanischen Film (mehr dazu in Robnik 2009, Kap. 1).
Vom Beton zum Glas, von Berlin ins Paris von Jacques Tatis PLAYTIME (F/I 1967). Die Kritik sozialer Modernisierung ist hier eher sentimental denn ressentimental (wie bei Pabst). Die Ununterscheidbarkeit von Tanz und Nicht-Tanz im geführten Alltag ist bei Tati Teil einer umfassenden Ununterscheidbarkeit, die verbildlicht ist durch Beziehungen des Platztauschs, der Spiegelung und Anverwandlung. Es gibt seit langem eine post-anthropologische Lesart, die in Tatis Kino eine Streuung von Subjektivität sieht: Ökologie von Dingen, deren Sounds und Signalwirkungen sprechen, gemeinsam mit murmelnden Menschen, die automatisiert oder träge sind (Tati-Dossier 1979; Chion 1987; zusammengefasst in Robnik 1997). Aber dieser posthumane Tati macht Sinn nur in Verbindung mit dem geschichtsdiagnostischen Tati, mit seiner Hellsicht für neue soziale Führungsmacht. Die 1967 herandämmernde Führung ist postfordistisch; ein kulturalisierter Kapitalismus, der Platztäusche zwischen aktiv und passiv, Arbeit und Genießen, reguliert. Konsum wird rationalisierte Verrichtung, im Gegenzug wird die Produktion mit Facetten des Spiels aufgeladen: eine Frühform der kreativkapitalistischen Anhaltung von Angestellten und Prekären, sich in der Arbeit ganzheitlich zu verwirklichen. Pause als ultimativer Produktivitätszeitraum. Ein Clip aus PLAYTIME zeigt den ‚Urlauber-Schichtwechsel‘ erst als erschöpft ins Hotel heimkehrende und frisch ausrückende Touri-Kolonne im disziplinierten Paris-Besuch (als wär’s ein Bild aus METROPOLIS, D 1927). Dann ein Stück Tätigkeitsmaterie, die umformbar ist: Musikbegleitung macht die Arbeit von Glasern zu etwas, das ununterscheidbar ist von Tanz.
Arbeit scheint ganz Tanz zu werden. Für den kreativkapitalistischen Arbeitstanz lässt sich eine Phrase aus Claire Denis’ BEAU TRAVAIL (F 1999) ausborgen: „Schöne Arbeit in the rhythm of the night“. Alles passt, weil im Vornhinein automatisch choreografiert. Die Nacht wird zum Tag für Projektarbeit unter Kreativitätsdruck: postfordistische raumzeitliche Ausweitung der Verwertungslogik als „reelle“, nicht bloß „formelle Subsumtion“ unters Kapitalverhältnis. Das ist ein neomarxistischer Name für etwas, das Nancy ontologisch anspricht: eine Gesellschaft, die ohne Ziel und Ende unterschiedslos nur sich selbst, ihr wohlständiges Wachstum, reproduziert. Nancy prägt dafür etwa den Begriff der „werklosen“ bzw. „entwerkten Gemeinschaft“; oder meinte er die ‚ent-twerkte‘ Gemeinschaft?
An diesem Punkt drehe ich Nancy twerkend den Popo zu und gehe nicht mit ihm weiter, sondern folge einer Wendung von Sabine Nessel und Linda Waack, die woanders hinführt. Die Rede ist von „filmischen Markierungen, die der philosophisch veranschlagten Allesdurchdringung von Tanz etwas entgegenhalten“ (Nessel/Waack 2016). Ich greife diese Wendung so auf: An der Allesdurchdringung von Führungsmacht, verbildlicht in der Ununterscheidbarkeit von Tanz, lässt sich etwas ausmachen, das diese Immanenz und Unentrinnbarkeit stört, sich ihr zusetzt – eben durch „filmische Markierungen“. Die Markierung gilt Unterschieden, die einen Unterschied machen, und sie erfolgt in konkreten filmischen Einrichtungen. Das kann mise-en-scène sein, kann aber auch – nicht weniger konkret – Inszenierungen von Denkbildern in Sozialtheorien meinen, die sich vom Film ‚zusetzen‘ lassen, die sich vom Film anziehen oder verführen lassen.
Wie lässt sich an der Ununterschiedenheit eines kapitalistisch geführten Alltags durch die Verbindung von Film und Tanz etwas markieren, das Unterschiede macht? Folgen wir zunächst zwei befreundeten Theoretikern, deren Denken vom jüdischen Messianismus und vom Marxismus her in unterschiedlichem Maß zum Film und zum Tanz gekommen ist; vergleichen wir, was Ernst Bloch und Siegfried Kracauer jeweils dazu sagen. Bloch fasst Film und Tanz in einem Abschnitt von Das Prinzip Hoffnung zusammen, beides als Erfahrungsformen des utopischen Wunschtraums einer aufgeklärten Hoffnung. Das stellt sich zwiespältig dar: Das Utopische des Films, so Bloch, macht wahrnehmbar, wie soziale Objekte viel näher beisammen oder viel weiter auseinanderliegen, als es in der „bürgerlichen Bezugsordnung“ erscheint (Bloch 1959: 477). Da kann ich folgen. Wo ich mich eher twerkend abwende, sind Blochs Passagen zum Tanz, die Utopisches um den Preis des Ressentiments gegenüber der entfremdeten Gegenwart formulieren: Tanz, heißt es, „läßt völlig anders bewegen als am Tag“, Tanz „ahmt etwas nach, das [der Alltag] verloren oder auch nie besessen hat“ (Bloch 1959: 457); die „Tanzheit“ gegen die „Mechanei“ (Bloch 1959: 462), so lauten Blochs Worte. Das mag sein. Was gar nicht geht, ist diese fundamentalistische, dekadenzbesorgte Entgegensetzung: einerseits „Volkstanz“, verbunden mit dem „Unverdorben[en]“, mit dem „Boden, den der immer weiter verkommende bürgerliche Erholungstanz verloren hat“ – anderseits das Tanzen zu Jazzmusik:
Roheres, Gemeineres, Dümmeres als die Jazztänze seit 1930 ward noch nicht gesehen. Jitterbug, Boogie-Woogie, das ist außer Rand und Band geratener Stumpfsinn [...]. Solch amerikanische Bewegung erschüttert die westliche Welt, nicht als Tanz, sondern als Erbrechen. (Bloch 1959: 457–458)
Bloch ist da päbstlicher als Pabst, der ja ungefähr zeitgleich zum Prinzip Hoffnung ebenfalls die Boogie-Marionetten mit Verachtung sieht und zeichnet.
Anders führt es Kracauer vor, in dem Essay „Die Reise und der Tanz“ aus dem Jahr 1925 (Kracauer 1963). Tanz fasst Kracauer ganz als massenkulturellen ‚Betrieb‘, Gesellschaftstanz, zumal zu Jazzmusik. Wie Bloch liest Kracauer Tanz in einem Denkbild, das auf Transzendenz aus der unwirklichen, mechanisierten Welt hinauswill; doch während Blochs Ressentiment den revolutionären Freudentanz in ein Bündnis mit dem Bodenständigen des Volkstanzes manövriert, gibt es solches Ressentiment bei Kracauer nur in seiner Tendenz zur Selbstauflösung in eine abwartende Haltung. Die geht so: Die rastlosen, am Fließbandsystem orientierten Mobilitätskulturen, Reise und Tanz, sind Verdeckung des wirklichen Lebens und zugleich Hinweise auf dieses. Sie sind dessen Zerrbilder. Worin aber besteht das wirkliche Leben für Kracauer? Gerade nicht im Erfüllten einer Unverdorbenheit oder eines verheißenen Ganz-Anderen, sondern: Wirkliches Leben ist von vornherein paradox und gespalten, besteht in der „Führung einer richtigen Doppelexistenz“ (Kracauer 1963: 46) (da ist sie wieder, die Führung). Der Mensch, der wirklich ist, führt ein Doppelleben zwischen der sozialen Gegenwart, in der er oder sie nicht aufgeht, und einer unbenannt bleibenden Unbedingtheit, zu der hin dieses Nicht-Aufgehen gespannt bleibt. Schon klar, Kracauer argumentiert theologisch. Aber gerade sein proto-dekonstruktives Abwarten gegenüber dem Zugriff des Benennens und Verheißens leitet hier eine Selbstdurchkreuzung der theologischen Perspektive ein: Eine Entleerung der Position des Unbedingten hält die soziale Welt in Spannung und Schwebe, ‚in suspense‘. Was bei Kracauer bleibt, ist die Unabschließbarkeit einer Gegenwarts-Formation: Wir sind in Wirklichkeit in der sozialen Ordnung und auch wieder nicht in ihr, weil die Ordnung selbst heterogen und unbegründet ist – und von dieser Wirklichkeit des Zugleich-hier-und-nicht-hier-Seins geben uns Reise und Tanz ein ins Nacheinander der Positionen entspanntes Bild; ein Zerrbild zwar, aber doch ein als lesbarer Verweis gültiges Bild: „Das Zerrbild der Ewigkeit ergibt sich [den Menschen der unwirklichen Gesellschaft] nur im Nacheinander von Aufsichtsratssitzung und tänzerischer Entfaltung.“ (Kracauer 1963: 47)
Tanz zeigt es ganz: zeigt eine Ganzheit, bestehend aus unganzer Wirklichkeit und dem, was sie unganz, unabgeschlossen hält, was sie in Selbstentfremdung hält und sie dadurch erst wirklich macht. Über Tanz schreibt Kracauer nicht oft.2 Aber nach Einrichtungen, die Gesellschaft in Selbstentfremdung wahrnehmen lassen – und eben diese Entfremdung als wahr nehmen lassen, statt sie zu verwerfen –, danach fragt er immer wieder. Im Kontext dieser Frage markiert sein Tanz-Essay einen Übergang: Davor hat Kracauer die Wendung zu den Vorläufigkeiten der unwirklichen Gesellschaft anhand der Form des Detektivromans theoretisiert; danach, ab 1926, nimmt der Film bei Kracauer die Rolle der Wahrnehmungseinrichtung im Zerstreuten ein. Ein bisschen präfiguriert im Tanz ist also jene Wendung, die Kracauer in seinem Film-Denken vollständig vollzieht: hin zu sozialen Formbildungen in ihrer Wirklichkeit, das heißt: in ihrer Unabgeschlossenheit und Geschichtlichkeit als solcher (ohne theologische Voraus-Setzung) – und hin zu einer Diagnostik von kleinen Verschiebungen in Machtverhältnissen oder zumindest von Chancen darauf (zu Kracauers Film-Denken, politisch rekonstruiert, siehe Robnik 2012, 2013, 2014).
Meine Frage war: Wie lässt sich einer Führungsmacht, die sich noch im Tanz als unterschiedslos selbstreproduzierende vorführt, ein Unterschied zusetzen oder abtrotzen? Mit Kracauer kommen wir dorthin: Die Vorführung der Führung zeigt, dass diese unsicher gegründet, dass sie geschichtlich, veränderbar ist. Das geschieht im Tanz, mehr noch im Film. Anders gesagt, mit dem Begriff von Ununterscheidbarkeit, den Gilles Deleuze in seiner Film-Philosophie skizziert: Ununterscheidbarkeit, Unmöglichkeit von Unterscheidung, heißt nicht, dass alles Unterscheiden aufhört; vielmehr fängt es erst an, immer wieder; es heißt, dass Unterscheidung nicht als sicher fundiert vorgegeben ist, sondern gemacht werden muss, als unmögliche, weil unfundierte und unabschließbare, aber nichtsdestotrotz unumgängliche.
Ein solchermaßen hegemonietheoretisch verdrehter Deleuze läuft auf die Frage nach der strittigen Setzung und prekären Einrichtung von Unterscheidungen hinaus. Das entspricht den vorläufigen, kleinen, meist zu kleinen Verschiebungen in Macht-Ordnungen, die wahrzunehmen, zu sammeln, wertzuschätzen Kracauer als Sache des Films sieht. Eine immer wieder auch verlorene Sache. Die Vorführung der Führungsmacht ist ein erster Schritt zur Setzung eines kritischen Unterschieds, sofern die Vorführung entblößend wirken kann und nicht neutralisiert wird. Ich komme noch einmal zurück auf Filmszenen, die die Ununterscheidbarkeit von Routine und Tanz zeigen. Der Gegenwartsblickpunkt meines Zugangs ist der Postfordismus, zumal die Einfügung von Kreativität und Empfindung in die optimierte Reproduktion von Wohlstandsregimes. Szenisch markiert ist mein Blickpunkt durch einen britischen Science-Fiction-Thriller von 2014: EX MACHINA von Alex Garland.
Kurz zum Plot: Ein exzentrischer, genialer, steinreicher Designer künstlicher Intelligenz holt einen jungen Angestellten in die Abgeschiedenheit seines Luxus-Labors, wo er allein mit zwei von ihm gebauten weiblichen Cyborgs lebt, an ihnen tüftelt und testet. Der Angestellte soll die sprechende Cyborg Ava dem Turing-Test unterziehen: soll testen, ob ihre künstliche Intelligenz von menschlicher unterscheidbar ist oder nicht. Dem Angestellten wird manches unheimlich: das Testsetting, die Kontrollparanoia und macho-kumpelhafte Anbiederung seines Bosses, der ihn mit „dude“ anspricht. Als der Angestellte sich bei der stummen Cyborg Kyoko Aufklärung holen will, kommt es zum Tanz, zum Erholungstanz (zu „Get Down Saturday Night“ von Oliver Cheatham). Den leitet der Boss mit dem programmatischen Satz ein: „After a long day of Turing test, you gotta unwind!“
Ich lasse von hier aus meine drei Beispielfilme Revue passieren, mit zwei Ausformulierungen der Frage nach der Macht-Ordnung und ihrer Veränderung. Es geht ums Subjekt, und es geht ums Ganze. Tanz zeigt es ganz: Um Bloch doch Ehre zu erweisen, nehme ich sein Wort von der „Tanzheit“ so wörtlich, dass es sofort die in ihm implizierte ‚Ganzheit‘ auf den Plan ruft. Das Ganze der Gesellschaft umfasst mit das Paradox an ihrem Un-Grund, den Unfug an ihrem Ursprung. Noch einmal die Film-Philosophie von Deleuze (Deleuze 1991: 233): Das Ganze ist zum einen das Offene, in das hinein politisch gehofft und gehandelt und Geschichte gemacht wird. Das gilt fürs Kino als Bewegung, wohl auch soziale Bewegung. Im Kino-Regime radikaler Verzeitlichung aber gilt: Das Ganze ist das Außen, und das Außen ist immer schon innen, disloziert und extim, bewirkt einen Selbstbezug der Körper und Bevölkerungen in Form von Spaltung; das Außen also als Keim von Politik, der etwa dann aktualisiert wird, wenn ein Innen durch das, was es konstitutiv ausschließt, heimgesucht wird.
Noch einmal Tatis PLAYTIME. Das Subjekt von Agency ist hier ultimativ in Streuung unter die Dinge. Und das Ganze ist eine Welt, in der die Platztauschakte zwischen Arbeit und Tanz zuletzt doch aufgehoben sind, ein fröhliches Außen aus allumfassendem Tanz und Zirkus, das im Inneren des Großstadtverkehrsstaus und der Routinetätigkeiten schlummert und sich märchenhaft enthüllt. Soziologischer gesagt, träumt PLAYTIME eine Ökologie der nach '68 revitalisierten Straßenkulturen voraus – mit Straßenlampen als Lichtblüten, später dann mit Kulturhauptstädten in Wohlfühlregionen. Tati nimmt uns die Unterscheidung ab: Er votiert für das Märchen, das aber durch nichts davor geschützt ist, neo-urbanistische Erfolgsstory zu werden.
Noch einmal Pabsts DER LETZTE AKT. Zum Übergreifen von Filmbildern in urbanistische Raumbilder bei Tati kommt nun hinzu als weitere filmische Einrichtung die Kultur der formellen und informellen Archive, in denen Filme neu wahrgenommen, gewertet, sortiert werden: ein Außen der Filme, das mitunter deren Inneres hervorkehrt. Tati ist quasi ganz offen für ein Außen in Form von Hippies; Pabst hingegen wird unversehens heimgesucht von einem Außen in Form von Hitler. Er wird eingeholt vom Nationalsozialismus, den sein Sittenfilm konstitutiv draußenhalten will. Im selben Zug wird das Marionetten-Ding, wird die Krankenschwester zum Subjekt – durch unser Investment in sie. Wie so viele als abjekt gedachte Noir- und Horror-Filmfiguren nehmen wir sie heute eher mit Zuneigung wahr. Das hat das von Pabst verachtete Amerika, wo DER LETZTE AKT relativ erfolgreich war, schon ein wenig vorgeträumt, zumal das US-Plakat zum Film die Tanz-Schwester gleichrangig neben Hitler setzt.
Pabst freilich mutet uns eine sexistische Projektion zu, in der die Maschinenfrau als Gestell des Verhängnisses, das Männerknochen morsch macht, fungiert, und darüber hinaus die Identifizierung dieser Entfremdungseinrichtung mit dem Nazismus: Boogie, Swing, Konsumkultur als Fortsetzung der nazistischen Führung von Leben ins Seelenlose; und Pabst als Erleuchter, der uns diesen bedrohlichen Konnex offenbart.3
Ich erlaube mir eine letzte Anekdote. Ich habe noch nie in Filmdialog-Untertiteln ein Binnen-i gelesen – bis ich unlängst Abel Ferraras PASOLINI (F/B/I 2014) in der OmU-Fassung gesehen habe. Darin ist das Binnen-i en passant verknüpft mit den schönen Themen Tanz und Kommunismus: Eine Frau legt eine Schallplatte mit jugoslawischen politischen Tanzliedern auf und sagt laut Untertiteln: „Jetzt zeig ich dir, wie KommunistInnen tanzen.“ Mit dem Tanz taucht etwas auf, das einen Unterschied markiert, hier: im Wort-Bild im Film-Bild. Das nur mal so als Entgegnung zu der (nicht nur) in Wien gerade modischen Unsitte, Marx gegen gendersensible Repräsentationspraktiken in Stellung bringen zu wollen. Und als Überschrift zu einem zweiten Blick auf EX MACHINA, nun mit der Frage: Was wird hier Subjekt? Und was ist das Ganze unter dem Aspekt des Außen im Innen?
Wir haben in EX MACHINA zweierlei Art, die Entblößung eines Führungsregimes aufrechtzuerhalten. Das steht und fällt damit, dass etwas durchkreuzt wird – nämlich die Möglichkeit, die tanzende Cyborg so zu sehen, wie Pabst die Krankenschwester sah: Durchkreuzt wird also gerade die Ressentiment-Projektion in die Frau-Machina als Verhängnis, als Erschlaffung des schaffenden Mannes. Das geschieht zum einen so, dass ihr Gender (quasi intersektional) mit anderen politisierbaren Determinanten in Verbindung tritt, die in der erwartungsgemäßen Revolte der Kreaturen gegen ihre Herren aktuell werden. Zum einen postkolonial: Eine Allianz der Asiatin mit der europäisch-weißen Cyborg als Einander-Wahrnehmen von Prothesenwesen, die sich austauschen. Dies im vollen Wortsinn, da sie auch defekte Körperteile als Prothesen von- und gegeneinander austauschen. Und nicht umsonst heißt der Regisseur von EX MACHINA Garland, auch das im Doppel-Sinn: Zum einen hat Alex Garland Erfahrung als Skriptautor von 28 DAYS LATER... (UK 2002) und NEVER LET ME GO (UK/USA 2010), von Filmen über kollektive Subjektansprüche von Wesen, denen echtes Leben abgesprochen wird. Zum anderen heißt er Garland wie jene Hollywood-Tanzstar-Marionette, die zur queeren Ikone der entblößenden Vorführung von Machinationen am weiblichen Körper wurde (denken wir nur an ihre Rolle in A STAR IS BORN, USA 1954).
Ist nun aber das der ganze Twist, die Wendung qua Heimsuchung des Innen durch ein Außen? Nun, vielleicht sind die Cyborg-Frauen eher ein Offenes denn ein Außen. Ich würde meinen, dass das Thema vom Turing-Test, der auf den Tester zurückfällt, sehr buchstäblich gesehen und gegendert werden sollte: Die rätselhafte künstliche Intelligenz, der faszinierende gebaute Körper, den EX MACHINA vorführt, das ist – der Bruder im postfordistischen Regime des Chef-Duzens: zumal Oscar Isaac umwerfend als fescher Boss, der ‚bro‘ ist – das Regime der bauenden Brüder gegen kranke Schwestern und solidarische ‚sistahs‘. „Der Bruder ist mehr als alles auf der Welt!“ hat schon Pabst gesagt (bzw. einen Wehrmachtsoffizier in einem Bekehrungsdialog von DER LETZTE AKT sagen lassen). EX MACHINA entblößt die künstliche Intelligenz einer Führungstechnik, die das kumpelhafte Sich-Aufführen und den Schwanzvergleich beim After-Work-Clubbing oder Büro-Eiertanz inkludiert.
Über das Konzept „Gegen-Verwirklichung“, das Deleuze dem Akteur oder Tänzer zuordnet, sage ich nur soviel: Es geht um Subjektivierung eines Ereignisses, einer Chance, eines Außen, als Subjektivierung, die flach bleibt (siehe die kryptischen Zeilen in Deleuze 1993: 202). Also (wieder hegemonietheoretisch gewendet) um eine unfundierte Setzung, eine strittige Einrichtung. Ebendies, so setze ich hinzu, war gewissermaßen auch dieser Aufsatz: Die Verbindung von Tanz, Politik und Film, zumal in genau diesen Szenen und genau diesen Konzept-Perspektiven, ist darin kontingent, aber dennoch gedacht als gezieltes Aufsuchen filmischer Einrichtungen von Politik, eben von Inszenierungen. Und das – das, was sich mit Film und an seinen ‚sites of insight‘ inszenieren lässt – inkludiert die Gedanken, die am Ort des Films, in seinen Szenen, als wahrzunehmende möglich sind.
Vor-vor-Seit-Schluss. Und Schluss.
Bloch, Ernst (1959) Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Chion, Michel (1987) Jacques Tati. Cahiers du cinéma: Collection ‚Auteurs‘. Paris: Seuil.
Deleuze, Gilles (1991) Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles (1993) Logik des Sinns. Aesthetia. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kracauer, Siegfried (1963) Die Reise und der Tanz, in: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Kracauer, Siegfried (1990) Die Revuen, in: Ders.: Schriften 5.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Nancy, Jean-Luc (2005) Singulär Plural Sein. Zürich/Berlin: diaphanes.
Nessel, Sabine/Waack, Linda (2016) Film | Tanz | Diskurs. Bewegungsbilder vom Tanzen im europäischen Autorenfilm. Unveröffentlichtes Tagungspapier, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 28.–30.01.2016.
N.N. (1979) Dossier über Jacques Tati anläßlich einer Wiederaufführung von Playtime mit Aufsätzen von Serge Daney, Bernard Boland, Jean Louis Schefer u.a. sowie einem Interview mit Tati. Cahiers du cinéma, Nr. 239, September 1979.
Robnik, Drehli (1997) Der Mensch als Fisch. Jacques Tatis Playtime wird dreißig, in: Meteor – Texte zum Laufbild, Nr. 11.
Robnik, Drehli (2009) Geschichtsästhetik und Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im Film 1948–2008. Wien: Turia + Kant.
Robnik, Drehli (2012): Among Other Things – a Miraculous Realist. Political Perspectives on the Theoretical Entlanglement of Cinema and History in Kracauer, in: Gemünden, Gerd/von Moltke, Johannes (Hg.) Culture in the Anteroom. Legacies of Siegfried Kracauer. Ann Arbor: University of Michigan Press, S. 258–275.
Robnik, Drehli (2013) Side by side als wirkliche Gegner: Zu politischen Einsätzen im Film-Denken von Kracauers History, in: Ders./Kerekes, Amália/Teller, Katalin (Hg.) Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer. Wien/Berlin: Turia + Kant 2013, S. 160–182.
Robnik, Drehli (2014) Reading/Reclaiming/Recovering Kracauer’s Film Thinking of Nonsolution within Postfoundationalist Political Theory. Unveröffentlichtes Tagungspapier zu „Where Is Frankfurt Now? Critical Theory and Media Studies“, Goethe-Universität Frankfurt am Main, siehe: https://independent.academia.edu/DrehliRobnik (letzter Zugriff: 14.02.2018).