Laura Mulvey, nachträglich
Dieser Text wurde zuerst am 10.4.1999 als Beitrag auf der Konferenz 'Gender – Theatre – Cinema' an der Universität Lodz vorgetragen.
"The very notion of a theory of pictures suggests an attempt to master the field of visual representations with a verbal discourse. But suppose we reversed the power relations of ‘discourse’ and ‘field’ and attempted to picture theory?" (W.J.T. Mitchell)
Visuelle Lust und narratives Kino, ein Text von Laura Mulvey, fungierte als ein Akt nachträglicher Umarbeitung. Er untersuchte klassische Hollywoodfime der 30er, 40er und 50er Jahre. Der Text wurde in den 70er Jahren verfaßt. Er war ein Versuch, Kulturgeschichte aus feministischer Perspektive um- und neuzuschreiben. Während der 70er und 80er Jahre wurde er ausführlich diskutiert, reformuliert und ist nun zu einem stillen Grundpfeiler feministischer Filmtheorie geworden. Still, weil diese Diskussion zu einem Stillstand gekommen ist, wie Heide Schlüpmann es ausdrückt (Schlüpmann 1998).1
Meine Absicht ist es, ebenfalls einen Versuch des Um-Schreibens zu unternehmen. Ähnlich wie Mulvey werde ich auf psychoanalytische Begriffe rekurrieren. Aber dort, wo Mulvey ihre Überlegungen auf Skopophilie und Identifizierung zuspitzt, werde ich einen anderen Aspekt der Identifizierung und den Begriff der ‘Nachträglichkeit‘ (Laplanche/Pontalis 1967) herausstellen. Nachträglichkeit bezeichnet eine Aktivität des Umarbeitens, die – nach Freud – durch unvermutet eintretende Ereignisse und Situationen beschleunigt wird. Mein Um-Schreiben läßt sich von der Frage leiten, welche Umstände oder Situationen Mulveys Text vorangetrieben haben könnten. Meine Hypothese ist, daß es möglicherweise Filme oder Filmbilder waren, die einen Diskurs im Feld des Audiovisuellen eröffnet haben.
Mulveys Text der 70er Jahre geht von einer bestimmten Vorstellung der Situation der Frauen aus, einem Entweder-Oder, das sich sowohl auf die Psychoanalyse als auch auf Hollywoodfilme stützt: „Entweder muß sie [die Frau] mit Würde dem Wort, dem Namen des Vaters und dem Gesetz den Vorrang lassen oder sie muß kämpfen, um … sich im Halbdunkel des Imaginären zu halten“ (Mulvey 1972, 31). Dieser Beschränkung steht eine ähnliche Wahl für Männer gegenüber: Ihr Unbewußtes kann entweder „die Frau untersuchen, ihr Geheimnis entmystifizieren … wobei ein Gegengewicht duch … Bestrafung oder Rettung des schuldigen Objekts geschaffen wird … oder die Kastration ignorieren, indem es ein Fetischobjekt einsetzt … (der weibliche Starkult)“ (ebd., 40). Ausgehend von dieser resoluten Dichotomie macht Mulvey den Vorschlag, eine Identifizierung mit den Charakteren auf der Leinwand zu vermeiden. Nur unter Verzicht auf Identifizierung kann die festgeschriebene Situation für Männer und Frauen gebannt werden. Ihr Ziel ist es schließlich, „den Blick der Kamera zu befreien … [und] den Blick des Zuschauers“ (ebd., 46).
Was passiert aber, wenn sich eine kritische Analyse in eine Erzählung verwandelt? Mulveys Schauplatz ist einem biblischen Mythos sehr ähnlich: der Erzählung von Susanna und Daniel (auch bekannt als Susanna und die Ältesten). Diese Geschichte ordnet sich um eine Szene, in der Susanna, die Gattin eines wohlhabenden Bürgers, ein Bad in ihrem Garten nimmt und dabei von zwei alten Richtern ihrer Gemeinde beobachtet wird, die sie schließlich zu sexuellen Handlungen nötigen (Die Bibel 1980 und Brenner 1995). Der biblische Text beschreibt Susanna in ziemlich genau derselben Situation, die Mulvey in ihrer Einführung allgemein für Frauen diagnostiziert. Man trifft auch auf die beiden Wahlmöglichkeiten für Männer. Setzt man den Vergleich beider Texte fort, findet man weitere Parallelen auf. Aber wohin führt es, Mulveys Text als Erzählung ‘wieder zu lesen‘? Sollte es darum gehen, eine kulturelle Kontinuität von Babel bis New Babylon (Hollywood) aufzuzeigen?
Die Verkennung von kritischer Analyse als Erzählung ist sicherlich ein Akt falscher Identifizierung, und man kann ihn deshalb mit dem Fetischismus in Verbindung bringen. Aber auch der Fetischismus könnte, worauf ich hinaus will, eine befreiende Qualität enthalten. Weiter möchte ich die damit verbundene Verschiebung als Möglichkeit herausstellen, visuelle (und textuelle) Lust zu erhalten. Diese Strategie wird sich dabei in ihrer befreienden Qualität nicht auf die Kamera und die Zuschauerschaft beschränken, wie Mulvey es in den 70ern noch vorschlug. Sie wird stattdessen ein anderes Konzept von Identifizierung in den Vordergrund rücken. In der Psychoanalyse wird dieser Begriff nicht nur dazu gebraucht, um ein ‘Sich-Identifizieren‘ zu beschreiben. In der nicht-reflexiven Form beschreibt Identifizierung auch das Verfahren der Traumarbeit, bei dem ein Bild durch ein anderes ersetzt wird (Laplanche/Pontalis 1967). Diese Auffassung eröffnet folglich intertextuelle Lektüren und kann darin Möglichkeiten aufscheinen lassen, wie man der festgelegten partriarchalen Ordnung zumindest zeitweise entgeht.
Es ist bekannt, daß der biblische Text Anlaß zu verschiedenen Gemälden gegeben hat, die Susanna und die Ältesten darstellen (Tizian, Rembrandt, Gentileschi u.a.). Aber es ist weniger bekannt, daß auch Filmemacher bewußt oder unbewußt dieser ikonologischen Tradition gefolgt sind. Ich möchte zwei Filmbeispiele aus den 80er und 90er Jahren vorstellen, die sowohl auf die biblische Susannengeschichte als auch auf Mulveys Text reagiert haben.
In SUSAN VERZWEIFELT GESUCHT (DESPERATELY SEEKING SUSAN) kann man sehr leicht die biblische Geschichte aufspüren. Es gibt natürlich auch interessante Umarbeitungen in der Handlung. In der Bibel ist Jojakim, der Ehemann von Susanna, ein reicher Mann, der einen Garten mit einem Bad besitzt. In Seidelmans Nacherzählung heißt der Ehemann Gary und ist der Chef einer Swimming-Pool-Firma. Seine Frau heißt zunächst Roberta und nicht Susan. Sie ist eine gelangweilte Ehefrau, die nach Veränderungen Ausschau hält. Als sie beim Friseur die Kleinanzeigen in einer Zeitung studiert, ist sie fasziniert von einer wiederkehrenden Notiz: „Susan verzweifelt gesucht!“. Das ist der Anfang des Films und der Ausgangspunkt für einen Akt der Befreiung durch Identifizierung. Roberta beginnt Susan zu imitieren und ihre Identität zu übernehmen und in Susans Jacke gekleidet vervollständigt Roberta diesen Wandel.
Über die Identifizierung mit Susan verändert Roberta ihre Persönlichkeit von einer sehr passiven Frau in einem langweiligen Leben hin zu einer selbstbewußten und aktiven Frau. Seidelmans Kommentar zur feministischen Filmtheorie betont eine Idee der Befreiung durch mimetische Identifizierung. Sowohl die biblische Geschichte als auch Mulveys Position werden durch die Verdoppelung der weiblichen Figur in Frage gestellt. Und die Zusammenarbeit der miteinander identifizierten Frauen am Ende des Films zaubert die Befreiung hervor. Die zwei Männer dagegen werden beide bestraft. Der Kriminelle, der einen gestohlenenen Ohrring verfolgt, wird verhaftet. Der Ehemann wird geschieden und verliert Roberta. Der junge Prophet Daniel, der in der Bibel Susanna vor dem Tod rettet, taucht hier als Dez wieder auf. Er arbeitet als Vorführer in einem Kino und wird (ebenfalls) als Fetischist dargestellt. In Seidelmans Film ist es nun Roberta, die das schuldige Objekt rettet (den Fetischisten Dez), indem sie ihn als ihren neuen Liebhaber auswählt. Dies wird in einem Kuß am Ende des Films symbolisiert. Den Vorführer zu küssen bedeutet hier visuell und symbolisch, die Projektion zu unterbrechen. Und wir, die Zuschauer, sehen wie der Filmstreifen auf der Leinwand verbrennt.
In Amos Kolleks SUE wird die Susannengeschichte weiter verändert und das Dilemma der Susanna verschoben. Sue ist emanzipiert, sie ist eine sexuell selbstbestimmte Person, hat aber keine dauerhaften Bindungen. Sie wirkt verloren, da sie keinen Bezugspunkt zur äußeren Welt findet. Sie lebt in einem Fluß von Veränderungen, der durch ihre unterschiedlichen visuellen Erscheinungen in Szene gesetzt wird und durch die Beschreibung ihrer kurzen sexuellen Abenteuer. Einer ihrer seltenen glücklichen Momente im Film ist die Begegnung mit einem alten (obdachlosen) schwarzen Mann in einer Parkanlage. Willy fragt höflich, ob er ihre Brüste sehen darf. Diese Szene funktioniert wie ein nostalgischer Moment, der eine Zeit widerspiegelt, in der das Begehren noch in einer klaren und stabilen Position war. Sie funktioniert fast wie ein Standbild. Und als später im Film dieser Mann nicht mehr in der Parkanlage auftaucht, leidet Sue unter völliger Haltlosigkeit.
Beide Filme können als unterschiedliche Antworten auf die feministische Filmtheorie aufgefaßt werden. Aber meine Ausgangshypothese fragte nach vorantreibenden Ereignissen, die die feministische Filmtheorie befördert haben. Deshalb möchte ich auf einen Film der 50er Jahre von Otto Preminger zu sprechen kommen. Dies ist insofern ein heikles Beispiel, weil Mulvey ebenfalls einen Preminger Film nennt, um ihre Thesen zum Hollywood Kino zu belegen, FLUß OHNE WIEDERKEHR (THE RIVER OF NO RETURN). Obwohl es sich bei diesem Film noch um eine Hollywood Produktion handelt, hatte Preminger bereits ein Jahr zuvor seine unabhängige Filmproduktionsfirma gegründet. Sein erster unabhängiger Film ist THE MOON IS BLUE.2
Und es ist offenbar mehr als ein Zufall, daß dieser Film ebenfalls aus einer umgestalteten Susannengeschichte besteht und mit einem Paradigmenwechsel arbeitet von Erzählung zu (visuellem) Diskurs.
Die erste Einstellung überblendet eine Zeichnung des Aussichtsturms des Empire State Buildings (im Vorspann) in eine Luftaufnahme von diesem Gebäude. Die zurückfahrende Kamera gibt diese Einstellung als Fotografie in einem Schaufenster zu erkennen, vor dem sich eine junge Frau befindet, die verträumt die Auslagen im Erdgeschoß des Empire State Buildings betrachtet. Meine These ist, daß es sich bei dieser Einstellung um die Einführung eines Diskurses über Phallogozentrismus und Okularzentrismus handelt. Noch in dieser ersten Einstellung begegnet die junge Frau, Patty, dem Architekten Don. Diese Begegnung beginnt mit einer ironischen Verkehrung der sozialen Geschlechterrollen. Patty wird als die Inhaberin des Blicks porträtiert, wohingegen Don als Schauobjekt eingeführt wird, der vergeblich versucht, einen Knopf an seinem Jacket zu befestigen.
Die Handlung der Komödie verläuft folgendermaßen: Patty und Don schließen Bekanntschaft und gelangen in Dons Appartement. Don hat erst in der letzten Nacht seine Beziehung zu Cynthia beendet. Aber Cynthia und ihr Vater, (David) Slater, wohnen direkt im Appartement über Don. Beide versuchen sich in die neue Beziehung einzumischen.
Cynthia hat alle Qualitäten eines weiblichen Stars. Sie sieht ein wenig aus wie Elizabeth Taylor, und sie wird über eine Fotografie eingeführt. Während des Films verliert sie aber ihren Status als Star und ihre Position des Angeschaut-Werden-Wollens. Die männlichen Figuren, Don und ihr Vater, zeigen kein Interesse mehr an der Figur Cynthia, obwohl sie mit allen Attributen eines Schauobjekts ausgestattet ist und entziehen ihren Blick. Im Verlauf der Geschichte gerät Cynthia (immer noch als weiblicher Star gekennzeichnet) in die Position eines Voyeurs und beobachtet ihre Rivalin Patty von der Feuerleiter aus. Nachdem sie gesehen hat, wie Patty sich in Dons Appartement entkleidet, versucht Cynthia noch einmal ihre Position als Schauobjekt zu verteidigen. Per Telefon präsentiert sie Don eine Susanna-im-Bade-Szene.
Worin könnte die Verbindung von Cynthia und Susanna bestehen? Im Hebräischen bedeutet Susanna ‘Lilie‘ und konnotiert Unschuld und Unberührtheit, ein Symbol für Lauterkeit. Cynthia kann als Rebus gelesen und als ‘Hyacint‘ neu zusammengesetzt werden. Das bedeutet ebenfalls ‘Lilie‘, ist aber griechischen Ursprungs und bezieht sich auf eine männliche Schönheit der griechischen Mythologie: Hyakinthos. Cynthia ist dann eine umgestaltete, eine übersetzte, möglicherweise sogar eine transgeschlechtliche Susanna.
Welches sind Pattys Bezüge zu Susanna? Im Laufe des Films behauptet sie mehrfach, ihre Jungfräulichkeit noch nicht verloren zu haben. ‘Patty‘ als Wort gelesen bedeutet kleiner Kuchen oder Pastetchen. Deshalb bezeichnet es entweder eine Vorspeise oder einen Nachtisch, aber niemals das Hauptgericht. Man kann ‘patty‘ auch als ‘petty‘ hören. Petty mit ‘e‘ bedeutet unwichtig, trivial, untergeordnet. Als trivial gekennzeichnet fungiert die Figur Patty als ein wunderbarer Kompromiß für die männlichen Figuren im Film.3 In psychoanalytischer Terminologie heißt das: Sie wird zum Fetisch. Aber Patty (der Fetisch) ersetzt nicht einfach den weiblichen Star Cynthia, denn sie schaltet vom Visuellen ins Verbale um. Sie beansprucht symbolischen Raum, in dem sie selbst psychoanalytische Theorien diskutiert. Im Taxi beginnt sie mit Don ein Gespräch über Verführung und Jungfräulichkeit.4
Schließlich kann man diesen Film nicht nur als eine Bearbeitung der Susannengeschichte lesen, sondern als eine Thematisierung des Fetischismus dieser Geschichte, der im Laufe des Films in ein dekonstruktives Spiel überführt wird. Naomi Schor hat auf eine mögliche Verbindung zwischen Fetischismus und Dekonstruktion hingewiesen und letztere als „the supreme contemporary philosophical form of fetishism, in that it promotes the fetishist’s undecidability and mad logic to the status of a powerful strategy for undoing Western metaphysics, and the Phallogocentrism it entails“ (Schor 1992) zusammengefaßt. Es läßt sich folgern, daß Preminger bereits 1953 den Fetischismus (Hollywoods) in einen dekonstruktiven Diskurs verschoben hat. Und es ist Preminger persönlich, der für diesen ‘Vorgriff‘ in seinem Film ‘unterzeichnet‘. Der Taxifahrer macht am Ende der Fahrt einen Kommentar zu Pattys Diskussion, und er spricht (in beiden Fassungen des Films) mit Premingers eigener Stimme: „Dafür, was ich auf dieser Fahrt gelernt habe, hätte ich meinem Psychoanalytiker mindest 25$ bezahlt“.
Mulvey hat in den 70er Jahren in ihrer Zuspitzung und Polarisierung auf das Potential des Fetischismus hingewiesen, aber sie argumentierte: „Wie selbstkritisch und ironisch Hollywood sich auch geben mochte, es kam nie über eine formale mise-en-scène hinaus, die das dominierende ideologische Kinokonzept spiegelt“ (Mulvey 1972). Nachträglich geraten nun die unabhängigen Produktionen der 50er Jahre in den Blick mit ihren Ansätzen, den Fetischismus in eine dekonstruktive Bewegung zu verwandeln. Inzwischen kann man THE MOON IS BLUE nicht nur als ein unvermutet eingetretenes Ereignis betrachten, welches möglicherweise die feministische Filmtheorie angetrieben hat; sondern als einen frühen visuellen Diskurs, dessen Ziel es ebenfalls war, Kulturgeschichte umzuschreiben.
Brenner, Athalya (ed.) (1995) The feminist companion to the bible vol.7: A feminist companion to Esther, Judith and Susanna, Sheffield
Grob, Norbert/Aurich, Rolf/Jacobson, Wolfgang (1999) Otto Preminger, Berlin
Hamilton, Richard (1982) Collected Words, London, S. 37
Kallir, Alfred (1961) Sign an Design, London
Katholische Bibelanstalt (ed.) (1980) Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart, S. 1014f
Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (1973) Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main
Mitchell, W.J.T. (1994) Picture Theory, Chicago, S. 9.
Mulvey, Laura (1972) Visuelle Lust und narratives Kino, in: Nabakowski (1976) Frauen in der Kunst I, Frankfurt am Main
Schlüpmann, Heide (1998) Abendröthe der Subjektphilosophie. Eine Ästhetik des Kinos, Frankfurt am Main, S. 7
Schor, Naomi (1992) Fetishism, in: E. Wright (ed.) (1992) Feminism and Psychoanalysis. A critical dictionary, Cambridge, Mass.