Raumverhältnisse und Fernsehen
Ich werde an dieser Stelle das Fernsehen in seinen alltäglichen Audiovisionsgenesen befragen und am Beispiel aktueller Kriegsberichterstattung "reflexive Raumverhältnisse" als neues Paradigma der Fernsehforschung einführen. Hier zunächst ein kleines Aperçu darüber, wie Fernsehen einführend beschrieben werden kann.
Fernsehen ist eine Übertragungstechnik. Damit eine Anschlusstechnik. Fernsehen benötigt keinen eigens errichteten "Fernsehraum" wie das Kino, da es den Zuschauer dort abholt, wo dieser sich tagtäglich befindet, in seinem privaten, bürgerlichen Lebensraum. Von diesem ausgehend und in diesen zurückwirkend unterstützt das Medium eine Begehrenslogik1, die den einzelnen an für ihn elementare Orte "da draußen" anschließt. Diese sind zum einen Konfliktorte, zum anderen Zufluchtsorte. Konfliktorte, das meint all jene zahllosen Adressen im Fernsehregime, wo sich die Welt als Menge an Abweichungen, an Problemen, an Unfällen, an Kriegen spiegelt. Zufluchtsorte, oder die "gnostische Qualität" des Fernsehens, das sind jene unzähligen Orte, an denen sich das Entlastende, das Belanglose, das Spielerische, das Interesselose tummelt. Natürlich gibt es auch Mischformen, sogar sehr viele, in denen kongenial Zuflucht und Konflikt sich ergänzen, so etwa Six Feet Under (USA 2001 - 2005) . All diesen Formen und Formaten ist zu eigen, dass sie die Annektion des Einzelnen an für ihn fremde oder andere Orte betreiben, damit soziale Räume ausbilden, die überlebens- und/oder kompensationsrelevant sind. Das Interessante an den Konfliktorten ist, dass diese sich bildtechnisch entlang einer Vorder- und einer Rückseite, entlang eines Außen und eines Innen, entfalten. Das Außen, das sind die Geschehensräume oder Ereignisräume in den Städten oder in den Wüsten des Irak; das Innen jedoch, das sind die Diskursräume der Studios.2
Die Berichterstattung der letzten Kriege3 im Fernsehen war stets eine duale. Sie entwarf eine Differenz zwischen den traditionellen, den gerahmten Bildern des Krieges – die blitzenden Marschflugkörper, die Zerstörungen und das Leid der Menschen, die Flüchtlingsströme – und den "offenen" Bildern der Diskurse. Talking Heads bevölkerten die Studios und die Verwaltungsschauplätze des Konflikts; endlose Bildketten von diagnostizierenden, verhandelnden, teils belehrenden, teils entschuldigenden Köpfen (zumeist Männerköpfen) rejustierten das Kriegsgeschehen stets von neuem. Talkshows zum Thema, Streitgespräche von sich widersprechenden Kommentatoren, Internetforen vervielfachten entlang diskursiver Vektoren den Krieg in jeden Haushalt hinein. Zeitgleich mit Beginn der Vertreibungen und der Bombardierungen hat ihre "Diskursivierung" begonnen, ihre Versprachlichung und Problematisierung, Polemisierung, dergestalt, dass faktisch alle an die medialen Kanäle Angeschlossenen in einen Austausch über ihren Verlauf und ihre Legitimation treten (müssen). Die Informationen, Meinungen und Analysen zirkulieren mit enormer Geschwindigkeit und verhindern vor allem eines: die allzu übereilte Rechtfertigung der Sinnhaftigkeit dieses Krieges im Namen welcher Werte auch immer. Ganz im Gegenteil, die Mehrheit der den Kosovo, Afghanistan, den Irak medial beobachtenden Menschen dürften diese neuwertige Erfahrung gemacht haben, keine eindeutigen, von vielen anderen mitgetragenen Aussagen treffen zu können. Leider wird auf diesen Innenraum in den Fernsehkritiken viel zu wenig Bezug genommen – üblicherweise ist nur von den Bildern der Außenseite die Rede. In einer ersten Lesart charakterisieren sowohl die besonderen Außenbilder als auch das unabschließbare Hinterfragen der Gründe für oder gegen den Krieg in den Studios das "Reflexivwerden des Krieges im Massenmedium TV". Dieses Reflexivwerden unterscheidet bspw. auch das Bild des Vietnamkrieges im Kino oder im Fernsehen der 70er Jahre von den Bildern und Diskursen aktueller Kriege im transklassischen Fernsehen.4 Um diese Aussage allerdings fundieren zu können, braucht es einen längeren begriffsanalytischen Umweg.
Mein erste These: Fernsehen erzeugt ein je besonderes Raumverhältnis.
Wenn ich während des letzten Irakkrieges in einer Nachrichtensendung in einer Live-Schaltung mit einem "eingebetteten" Reporter verbunden bin, passiert eine medientechnisch implementierte Beziehungsstruktur zwischen zunächst zwei Orten: der irakischen Wüste und der Skodagasse Nummer 26 in Wien zum Beispiel. Die Raumbilder zeigen mir Abbilder der für mich fremden Orte im Bildraum des Mediums. Ein medial konstruiertes Raumverhältnis bildet sich zwischen dem Reporter und mir als seinem Zuschauer heraus, ein sozio-medialer Raum etabliert sich, der mich zum Teilnehmer und Teilhaber an diesem Krieg werden lässt. Teilhaber deswegen, weil ich aus dem Verhältnis, besser: aus dem das Verhältnis konstruierenden medialen System heraus eine ungeheuerliche Erwartung verspüre, nicht nur mich zu informieren, sondern auch mich zu positionieren, mich weltpolitisch zu positionieren und über die Geltung dieses Krieges mit zu entscheiden. Warum? Nun, weil ich per Fernbedienung entschieden habe, dieses besondere Raumverhältnis sich aufbauen zu lassen, das mich als seine Destination kennt und also auch von mir eine hermeneutische Schließung des Gesehenen erwartet. An mir ist es, über Wert oder Unwert der Bilder zu entscheiden. Oder den Kanal zu wechseln, andere Bilder des gleichen Konflikts in Vergleich zu setzen usw.
Vielleicht wird ja bereits an diesem ersten Entwurf deutlich, wie verführerisch einfach sich der Einsatz der Kategorie "Raumverhältnis" für ein tieferes Verständnis dessen, was das Fernsehen leistet, gebärdet. Weder muss ich mir Gedanken darüber machen, dass der Raum zwischen Bagdad und mir zugunsten einer Gleichzeitigkeit "zerstört" wird, wie unzählige Medienkritiker von Virilio bis Großklaus ausführen, noch muss ich mir die vielleicht beängstigende Frage stellen, wo ich denn nun bin, wenn ich fernschaue, ob ich mich etwa vervielfältige oder "selbstmultipliziere", wie dies der amerikanische Soziologe Gergen ausführt. Die Unterschiede zu einem "natürlichen" Raumverhältnis sind die, dass sich die einbezogenen Elemente "dort draußen" meinen körperlich-sinnlichen Radien entziehen und ausschließlich als ästhetische erfahrbar sind, also als Bild und Ton, dass ihr Ursprung auch nicht der Ort ist, an dem ich mich befinde, sondern andere Orte, es also einer Technik bedarf, die einer geoästhetischen Strategie folgt, die Orte miteinander verbindet und Sichtbarkeiten zwischen diesen Orten herstellt, die auf einem "reinen technischen Wahrnehmungsraum" aufbauen.5
Die besonderen Raumverhältnisse, die sich mit dem Fernsehregime etablieren und die mit den von anderen Medien etablierten Raumverhältnissen wie denen der Zeitung, des Radios oder des Internet in der Absicht koalieren, dem informierten, wissenden Zuschauer und Leser auch eine politische und moralische Urteilsbildung abzuverlangen, diese Raumverhältnisse sollen nun im Detail besprochen werden.
"Je mehr Gesellschaften modernisiert werden, desto mehr gewinnen Akteure (Subjekte) die Fähigkeit, über die sozialen Bedingungen ihrer Existenz zu reflektieren und diese dadurch zu verändern. In der reflexiven Moderne werden Akteure freigesetzt aus Strukturen; mehr noch: sie müssen Strukturen (Traditionen) redefinieren. Man kann sogar sagen: Sie müssen in gewisser Weise Gesellschaft und Politik neu bestimmen, 'erfinden'." (Ulrich Beck)
Mit der Begriffsformel "reflexive Raumverhältnisse" schließe ich an eine Diskussion innerhalb der europäischen Soziologie an, die von Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash Mitte der 90er Jahre in Gang gesetzt wurde.6 Das Paradigma der "reflexiven Modernisierung" unterscheidet zwischen Erster und Zweiter Moderne. Erste Moderne meint das institutionell verbindliche Rationalitätspathos und das Fortschrittstelos mitsamt ihrer nationalstaatlichen Container-Ideologie, wie sie bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts verbindlich waren. Die Zweite Moderne ist wesentlich durch industrielle und kulturelle Globalisierung geprägt, durch Individualisierung, ökologische Krisen und soziale und politische Ungewissheiten und Uneindeutigkeiten. Reflexivität der Zweiten Moderne meint die permanente Erzeugung von Selbstkenntnis und Selbsterkenntnis, meint die Erzeugung von Kultur- und Orientierungs-, ebenso wie von tiefgreifenden Institutionenkrisen, meint Transformation und Selbstaufhebung.
Giddens verweist auf drei Dynamiken der Moderne7:
1. Die Herstellung eines leeren Raumes (und einer leeren Zeit). Die Entleerung des Raumes lässt sich, so Giddens, mit Hilfe der Trennung des Raums vom Ort begreifen:
"Mit dem Beginn der Moderne wird der Raum immer stärker vom Ort losgelöst, indem Beziehungen zwischen 'abwesenden' anderen begünstigt werden, die von jeder gegebenen Interaktionssituation mit persönlichem Kontakt örtlich weit entfernt sind. Unter Modernitätsbedingungen wird der Ort in immer höherem Maße phantasmagorisch, d.h.: Schauplätze werden von entfernten sozialen Einflüssen gründlich geprägt und gestaltet."
Dies führt direkt zum zweiten Punkt:
2. Die Entstehung von Entbettungsmechanismen: soziale Beziehungen werden aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen herausgehoben, entbettet und umstrukturiert. Dies passiert für Giddens entweder mit Hilfe "symbolischer Zeichen", wie etwa dem Geld, oder aber mit "Expertensystemen". In meiner Lesart sind technische Medien wie das Fernsehen ein Hybrid aus einem Expertensystem, welches mich profund über die politische Weltlage ebenso wie über das Wetter unterrichtet, mit dem ich also Kontakt halte zur Weltgemeinschaft, und einem symbolischen Zeichensystem, das ein allgemeines Bild-Äquivalent zu finden sucht, mit dem unterschiedliche Menschen Umgang halten können. Fernsehen ist kein Individualmedium, sondern Massenmedium und in dieser Funktion zuständig für die Schaffung allgemeiner (Bild-, Diskurs-, etc.) Werte für zahllose Empfänger. Natürlich kennt Giddens auch das Phänomen der "Rückbettung", die als "Rückaneignung oder Umformung entbetteter sozialer Beziehungen" verstanden wird, bei der letztere wieder an lokale raumzeitliche Gegebenheiten geknüpft werden sollen. Der letzte Irak-Krieg hatte bekanntlich vom Pentagon "eingebettete Journalisten" zur Disposition. Mit diesen gelang es, im Bildraum des TV die vom Fernsehregime notwendig herbei geführte Entbettung des Krieges in den medialen Kanälen insofern wieder rückzubetten, als nun vor Ort Journalisten als unsere Vertreter tätig waren und "gesichtsabhängige Bindungen" oder "para-soziale Interaktionen" erlaubten.
3. Die für Giddens dritte Dynamik der Moderne zielt auf die "reflexive Aneignung von Wissen" als ständige Erzeugung von systematischer Selbst(er)kenntnis. Wissen, das erzeugt wird von Diskurssystemen wie etwa der Psychoanalyse, der Soziologie, aber auch der Statistik, der Demographie usw. Für Giddens ist Moderne gekennzeichnet durch eine "hochnervöse institutionelle Reflexivität". Fernsehen ist Teil des Modernisierungsprozesses, in dessen Verlauf sukzessive mehr "Wissen über Grundlagen, Strukturen, Dynamiken und Konflikte der Gesellschaft" erzeugt wird.
Reflexive Moderne ereignet sich in meinem Verständnis wesentlich als reflexive Verräumlichung. Reflexivwerden des Raumes meint ein intensiviertes Wahrnehmen und Denken des Nebeneinanders, der Koexistenz auch örtlich getrennter Akteure und deren medialer Koinzidenz über einem Ereignis, etwa einem Krieg. Reflexive Verräumlichung als prägnanter Teil einer Geoästhetik des Mediums TV meint also in einer ersten Annäherung die Wahrnehmung dessen, dass ich nicht allein bin – "Einer von vielen, kein Einzelfall", wie Blumfeld meinen –, dass unzählige andere Dinge und Menschen neben mir, mit mir leben und dass ich in der Wechselbeziehung zu ihnen Raum ausbilde, Räumlichkeit als soziale Mitwelt erschaffe, also Welt erzeuge. Raum wird hier als aktives Vergesellschaftungsprinzip verstanden, als "relational", als Menge an (Lage-)Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Dingen.8
Anschluss- und Übertragungsmedien wie Fernsehen und Internet dienen der erweiterten oder gesteigerten Wahrnehmung des Nebeneinander. Nicht nur, dass man viele ist, sondern dass von jedem einzelnen aus eine je singuläre Perspektive entworfen wird, die das Verhältnis zu mir mitbestimmt. Ich bin das Ergebnis all der Relationen, die ich zu anderen unterhalte und die andere zu mir unterhalten. Ich bin Teil einer erdumfassenden Miträumlichkeit.
Das Fernsehen schafft Raum als Nebeneinander, als Koexistenz, als Fall. Über ein Ereignis, das sich an einem bestimmten Ort kundtut, vermag Fernsehwahrnehmung diesen Fall als Zusammenfall, als Koinzidenz zu initiieren. Das heißt, dass sich der Fernsehzuschauer von seiner Selbstwahrnehmung zur Wahrnehmung des anderen weiter bewegt – das aufgrund des Ereignisses bspw. als Nachricht in Erscheinung tritt –, in der Folge der Koinzidenz sich bewusst wird, also Anteil hat an diesem anderen. Und dieses an ihm, denn umgekehrt lassen sich auch die zahllosen TV-Kameras für die Betroffenen nicht übersehen.9
Die vom Fernsehen erzeugten Raumverhältnisse produzieren dieserart das, was ich "mediale Existenzsymmetrien" nennen will. Der Fernsehzuschauer ist in seiner lokalen Existenz zum einen symmetrisch an die Existenz all derjenigen Menschen angeschlossen, die gerade Thema/Objekt eines Berichts, einer Soap oder einer Talkshow sind. An ihm ist es, die Valenz und Relevanz dieser Symmetrie für seine eigene Ordnung und Orientierung herauszufinden. Zum anderen wird er implizit aller anderen Zuschauer, Zuschauerinnen gewahr, die synchron zu ihm fernsehen, erfährt also sein individuiertes und isoliertes Fernsehen als symmetrische Aktivität, als Teilelement einer "unsichtbaren Masse" und Gemeinschaft.
Das Bewusstwerden der Existenzsymmetrien, also des Nebeneinanderseins, meint stets auch ein Bewusstwerden von Vielheit , von Differenz, von Unterschiedlichkeit im Nebeneinander. "Es ist dies ein Vorschlag, Raum als die Sphäre der Begegnung oder Nichtbegegnung (unabhängiger) Bahnen anzuerkennen – wo sie koexistieren können, sich gegenseitig affizieren oder miteinander kämpfen können." (Massey 1999)
Das fundamentale und globale Bewusstsein der Koexistenz differenter Bahnen anderer Menschen zu gewinnen ist erste Aufgabe einer Gesellschaftskritik im 21. Jahrhundert. Ich und die islamischen Palästinenser, Ich und die jüdischen Israeli, die moslemischen Afghanen, die christlich-liberalen Amerikaner … Ohne Fernsehen eine beinahe unlösbare Aufgabe.
Ich möchte nun die These von Ulrich Beck weiter verfolgen, dass das Medium reflexiver Modernisierung nicht nur ein wie auch immer artikuliertes, sich artikulierendes Wissen als reflexives Bild ist, sondern auch Nicht-Wissen, Bilder also, die wissen, dass sie nicht wissen können. Begründet wird diese zunächst frivol erscheinende These mit dem für Beck zentralen Argument, dass wir "im Zeitalter der Nebenfolgen" leben. Wenn auch das Augenmerk der zweiten Moderne in der Hauptsache auf industriegesellschaftliche Entwicklungen gerichtet ist, auf Ökologie, Arbeitsmarkt und Gesundheitssystem, so will ich das Argument des Nicht-Wissens auch auf Entwicklungen der "neuen Kriege" anwenden.
Der 11. September, so lässt sich sagen, ist eine desaströse Nebenfolge der Kolonialbewegungen des Okzidents, vielleicht auch eines Clash of Cultures. Der zweite Irakkrieg wiederum eine Nebenfolge dieser Nebenfolge bzw. eine solche der Bekämpfung des Terrorismus, dieser eine Rückkoppelung der Kolonialisierten an ihre einstigen Unterwerfer. Die Kriegsszenarien selbst produzieren zahllose inner-militärische Nebenfolgen, wie etwa die "collateral damages" oder das "friendly fire".
Fernsehen wiederum kann als Experte, als Expertensystem für Nebenfolgen verstanden werden (vielleicht im Gegensatz zum Kino, das eher als Experte für die großen Systeme und Erzählungen selbst einsteht, das also vorgibt, immer schon alles zu wissen).
Fernsehen provoziert in seiner aktuellen Erscheinung als Expertensystem für Nebenfolgen einen Wissenskonflikt, einen Rationalitätskonflikt: Die Ansprüche verschiedener Expertengruppen treffen aufeinander sowie auf die Ansprüche sozialer Bewegungen und des Alltagswissens. Diese Kollisionen eröffnen das, was Beck "ein offenes, multiples Feld konfliktvoll konkurrierender Wissensakteure" nennt, zu denen sowohl Experten zählen als auch das spätmoderne "Palaver-Modell" einer Talkshow-Sendung (und hierzu zählen nicht nur die Nachmittagstalkshows mit ihrem Selbstbedienungsangebot in Sachen Untreue, Dickleibigkeit und sonstigen bürgerlichen "Krankheiten", sondern auch die Polit- und Spirit-Talkshows, Sabine Christiansen etwa, oder das Philosophische Glashaus von Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski).
Zum anderen jedoch provozieren Fernsehbilder Reflexivität – Reflexivität nun verstanden als Reflex, als Wirkung eines Nicht-Wissens. Man zeigt etwas, doch vieles nicht. Die zuschauenden Blicke sind inzwischen in solcher Weise geschult, dass sie gerade auf das Nicht-Wissen, das Nicht-Gesehene im Bild und des Bildes reflektieren. Beck unterscheidet fünf Dimensionen von Nicht-Wissen: 1. Selektive Rezeption und Vermittlung, 2. Unsicherheit des Wissens, 3. Irrtümer und Fehler, 4. Nicht-Wissen-Können, 5. Nicht-Wissen-Wollen. Besonders heraus gearbeitet wird die Unterscheidung zwischen Noch-Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Können. Diese Dynamik des Nicht-Wissens führt allerorten zur "Entscheidung in Unsicherheit auf allen Seiten, die für die zweite, reflexive Moderne charakteristisch wird", doch dazu mehr im letzten Teil.
Transklassisches Fernsehen will ich zusammenfassend verstehen als Ort eines pluralen Bildes der Reflexion und der Reflexivität, also des Wissens und des Nicht-Wissens. Und in dieser Funktion auch als Produzent dissensueller Raumverhältnisse.
Plurales Bild meint auch, dass die vielen einzelnen miteinander konkurrierenden Fernsehsender kein einheitliches Bild eines Kriegsfalls entwerfen, sondern divergierende Perspektiven auf das Geschehen suchen, voneinander abweichende Dokumente, Expertisen, Betroffenenberichte. So schreibt Raimund Löw:
"Das selbstkritische 'Project for Excellence in Journalism' in Washington DC hat festgestellt, dass trotzdem 94 Prozent der im amerikanischen Fernsehen gezeigten Storys der embedded reporters nüchterne Tatsachenberichte waren. Darunter auch viele, die die amerikanische Kriegsführung keineswegs nur in positivem Licht erscheinen ließen. Probleme mit dem Nachschub oder der unerwartete Widerstand von irakischen Zivilisten sind überhaupt erst durch Reporter von der Front bekannt geworden. Die Bilder dieses Krieges sind damit der Wirklichkeit um vieles näher gekommen als die unrepräsentativen Zielvideos der 'intelligenten Bomben' aus dem ersten Golfkrieg. Gleichzeitig stand den internationalen Medien auch die umfangreiche Berichterstattung der arabischen Fernsehsender Al Jazeera und Abu Dhabi TV über zivile Opfer und Fehltreffer zur Verfügung. Weit entfernt davon, automatisch einen medialen Einheitsbrei zu produzieren, hat die Globalisierung der Medienwelt ein Ausmaß an unterschiedlichen Zugängen ermöglicht... Das alles bedeutet: Nie zuvor wusste die Welt so schnell so viel über einen Krieg wie im Fall des Irakkonflikts." (Löw 2003)
Das heißt, mit den im Widerstreit stehenden Sendungen erleben die Zuschauer, Zuschauerinnen auch den Dissens in den Raumverhältnissen. Kein Einzelfall wird in eine einzige Erscheinung überführt, vielmehr multiplizieren sich die Fälle in Konfliktsemantiken, die schlussendlich "mich" vor die Wahl stellen, eine Entscheidung dafür oder dagegen zu treffen.
Ich möchte nun eine kleine Kette von Aufnahmen aus dem Irakkrieg thematisieren, die das plurale Bild und also dissensuelle Raumverhältnisse in aller Unaufgeregtheit transportieren.
1. Zuerst sehen wir das Bild einer Live-Kamera auf ntv. Die Kamera ist erhöht, zeigt gegenüberliegend zunächst eine Straßenkreuzung, einen Flachbau und dann Stadthorizont. Dieses Bild wird auf vielen Sendern wiederholt und es ist m.E. ein exemplarisches reflexives Bild des Nicht-Wissen-Könnens. Das Raumbild zeigt mir ein Segment Bagdads, konstruiert also ein räumlich-mediales Verhältnis in Aktual-Zeit zu und mit mir, evoziert jedoch in dieser Beziehung zahllose Reflexe als Fragen. Was tun und empfinden und denken die Menschen in den Häusern, in den Autos gerade JETZT?! Wo sind die Einschüsse des ersten Angriffs, wie sieht es in anderen Stadtvierteln aus? Oder eine ganz andere Frage: Habe ich mir eine Ecke in Bagdad architektonisch so "modern" vorgestellt? Ich trete also in Dissens zu diesem Bild, da es meine Fragen nicht beantwortet und mich beunruhigt zurücklässt.
2. Dann sehen wir ein Dokument der letzten Saddam Hussein-Rede. Die Rede ist nicht synchron übersetzt, sondern die eingesprochene Übersetzung distanziert sich von dem Redner mit der Konstruktion "er sagt, dass". Das Verhältnis ist irritiert, ich spüre, dass die Übersetzung Distanz und Abgrenzung einsetzt. Es folgt ein Bericht über die Waffenstärke des Irak: Das Wissen qualifiziert sich selbst als "unsicher". Auf einer Karte erscheinen die wichtigsten Abbildungen der Orte der zukünftigen Kriegsszenarien, auf die sich meine medialen Raumverhältnisse in den nächsten Tagen und Wochen konzentrieren werden. Dann ein review der Truppenbewegungen der "Koalition", und wieder zurück zum Live-Bild. Ich schalte um. TV5. Dasselbe Live-Bild, allerdings rekadriert und wieder die Saddam Hussein-Rede, diesmal allerdings in Synchron-Übersetzung, die mir eine andere Perspektive ermöglicht. Der "Diktator" hat also auch zu mir gesprochen, ich kenne nun seinen militanten Diskurs, wenn auch in unterschiedlich übersetzter, manipulierter Tönung. (Zehn Minuten vorher hatte Bush mir den seinen vermittelt.) Ich bin Teil dieser Bildräume, dieser sozio-medialen Verhältnisse. Ich bin direkt als Mandatar meiner politischen Meinung angesprochen, von der Politik, den Journalisten, aber auch von allen anderen unsichtbar Mitfernsehenden.
3. Etwas später die embedded journalists von CNN. Sie sind live dabei, bilden ein Kette von Milieubeschreibungen. Doch vieles erzählen sie nicht: wie sie außerhalb ihres Reporterseins die Situation empfinden, wie die Soldaten abseits ihrer Mission mit dem Krieg klar kommen … Als Betty Diamond, die eingebettete Reporterin, übertragungstechnisch verloren geht, bricht auch das Raumverhältnis zusammen.
Das skizzierte plurale Bild des Fernsehens der zweiten Moderne spiegelt den Menschen als ein "mehrstimmiges" Wesen. Rüdiger Safranski nutzt diese Formel der Mehrstimmigkeit, um das 57. Kapitel von Menschliches, Allzumenschliches zu kommentieren.10 Nietzsche legt darin fest, dass die Moral eine "Selbstzertheilung des Menschen" herbeiführe und also er nicht als "individuum", sondern als "dividuum" zu verstehen sei. Diese dividuale Existenzweise verpflichte den Menschen dazu, so Safranski, "mit sich selbst Versuche anzustellen", herauszufinden, welcher "Neigung" er folgen soll.
"Ist es nicht deutlich, so Nietzsche, dass [...] der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugnis – wie etwa ein BILD, füge ich hinzu – mehr liebt, als etwas anderes von sich, dass er also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt?"
Dieser Basismechanismus in der moralischen Entscheidung wird, so meine These, heute zu Extremleistungen gezwungen, die die Zerteilung um ein vielfaches erhöhen und das Dividuum von jeder illusorischen Ganzheit sowohl seiner selbst, als auch von jener der gesellschaftlichen Wirklichkeit zutiefst entfernen. Nicht nur bewegt er sich fortan jenseits einfacher Gegensatzpaare – Nietzsche gibt selbst das Beispiel des Soldaten, der "wünscht, dass er für sein Vaterland auf dem Schlachtfeld falle: denn in dem Sieg seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit", der Gegensatz wäre also der zwischen Vaterland und individueller Existenz –, nein, die von den pluralen Bildern provozierte Mehrstimmigkeit zwingt ihn dazu, fortwährend Reflexion und Reflexivität der Bilder zu überdenken und seine Parteinahme radikal offen zu halten. Möglicherweise geht es für das Zuschauer-Dividuum auch darum, "die Passion des Gehorchens in die Obsession des Befehlens, des Sich-selbst-Befehlens zu verwandeln". An was für Befehle lässt sich da denken? Nun etwa an jenen Selbstbefehl, an den verschiedenen Demonstrationen gegen den Krieg teilzunehmen, vielleicht auch eine Hilfsorganisation zu unterstützen, bei den nächsten Wahlen jene Partei zu unterstützen, die der eigenen Konfliktwahrnehmung am nächsten kommt..., vielleicht aber auch an einer neuen Ikonographie der Bilder mitzuarbeiten, die es erlaubte, jenem eingangs erwähnten Widerstreit der Außen- mit den Innenbildern mit sachlichen und umsichtigen Argumenten zu begegnen.
Es gibt zahllose Bildspeicher, die als Gedächtnisorte funktionieren und auf ihren Einsatz warten, mich an vergangene Konfliktorte zurück zu führen. Wie unlängst jene Bilder über den Vietnamkrieg, die in einer Arte-Reportage aktualisiert wurden. Ich sehe diese Bilder und vergleiche sie mit den Bildern, die wir in letzter Zeit gesehen haben. Von diesen neuen Bildern wußten die Filmbilder (noch) nichts und ich gehe zuversichtlich davon aus, dass das viele Nicht-Wissen der Irak-Bilder in einiger Zeit aus den Archiven der Fernsehmaschine heraus mit anderen Bildern in ein Wissen wird überführt werden können, eine Hoffnung, die mich mit den vielen überflüssigen Bildern dieses Krieges versöhnt. Man kann dieses Prozesshafte auch in Verbindung setzen mit einer für das transklassische Fernsehen elementaren Produktion von "Kontingenz", also von einer "Möglichkeitsvielfalt" (Luhmann). Somit steht das televisionell vielerorts generierte Kontingente dem Bild nach Univokem und Bestimmtem, das Institutionen von sich und ihren Aufgaben gerne vermitteln, klar entgegen. Es eröffnet mit dem von ihm etablierten investigativen medialen Raum Blickverhältnisse auf das, wohin eine solche Institution wie das Militär sich entwickeln kann, so etwa das Umkippen des Bildes des "gerechten Kriegers" in ein Bild von Peinigern, die die ihnen Unterlegenen foltern und demütigen.11
Jürgen Habermas und andere europäische Intellektuelle haben in einer Initiative am 31. Mai 2003 Texte zur Identität Europas nach dem Irak-Krieg publiziert. Habermas geht davon aus, dass die am 15. Februar 2003 in vielen europäischen Hauptstädten demonstrierenden Massen "als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen" könnten.
Ohne Fernsehen, damit ohne das von den vorherigen Kriegen Gesehene und Nicht-Gesehene und also ohne das Wissen und das Nicht-Wissen, hätte es diesen 15. Februar nicht gegeben.
Beck, Ulrich / Giddens, Anthony / Lash, Scott (1996) Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt am Main.
Beck, Ulrich / Bonß, Wolfgang (Hg.) (2001) Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main.
Böhme, Gernot (2000) Die Wirklichkeit der Bilder. Unveröffentlichter Vortrag.
Giddens, Anthony (1995) Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main.
Massey, Doreen (1999) Philosophy and politics of spatiality: some considerations. In: D. M., Power Geometries and the Politics of Space-Time. Hettner-Lecture 1998. Department of Geography, University of Heidelberg.
Löw, Martina (2001) Raumsoziologie. Frankfurt am Main.
Löw, Raimund (2003) Reality Check. In Falter 22/2003.
Safranski, Rüdiger (2000) Nietzsche. Biographie seines Denkens. Wien.