Drei Filme von Michael Mann im Spiegel der Zeit
Michael Manns Filme stehen in einem zwiespältigen Verhältnis zueinander. Zum einen sind Analogien unübersehbar: zentrale Motive wie das Verschwimmen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ oder das Streben der Protagonisten gegen den unaufhaltsamen Lauf der Zeit kehren immer wieder, bis hin zu einzelnen Dialogzeilen: „life is short, time is luck“ erstmals in MANHUNTER (USA 1986) ausgesprochen, wird zunächst in HEAT (USA 1995), später in MIAMI VICE (USA/D 2006) wiederverwertet. Dass zwei gestalterisch so unterschiedliche Filme wie letztere vom gleichen Regisseur stammen, ist zum anderen fast schwer zu glauben. Besonders ausschlaggebend für deren Differenz ist der Umstieg vom Analogen zum Digitalen, der über einen reinen Formwechsel hinaus einen ästhetischen Bruch in Manns Werk kennzeichnet. Zwischen HEAT und MIAMI VICE nimmt deshalb COLLATERAL (USA 2004) einen besonderen Stellenwert ein, da er nicht nur den Übergang zum Digitalen markiert, sondern in einer besonderen Genealogie zu beiden anderen steht. Manns Kino, das ist außerdem dezidiertes Genrekino. Und da dieses stets jene Problematiken spiegelt, die eine Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit beschäftigen und heimsuchen, liefern uns seine Filme wirksame Bilder aus und für ihre jeweilige Entstehungszeit, ihre Differenzen eine Einsicht in die Entwicklung von Bildern in unserer Gesellschaft. Ob Heist-Movie, Thriller, Crimefilm oder Actionblockbuster, Gangster-, Horror- oder Boxerfilm, interessiert sich Mann vor allem für jene Genres, die traditionell einem männlichen Zielpublikum zugedacht sind. So unterliegen auch die Männlichkeitsbilder als unumgängliches Leitmotiv seiner Filme den Wandlungen unserer Zeit, die sich genauso auf die Entstehung wie auf die Rezeption besagter Bilder niederschlagen, was Cristina Nords Abneigung von Manns Spielfilmdebüt THIEF (USA 1981) in ihrem Beitrag in der jüngsten cargo-Ausgabe nochmal verdeutlicht (vgl. Nord 2021: 39).
Dass gerade HEAT der (durchaus hinterfragbare) Titel des Meisterwerks von Michael Mann zugeschrieben wird, hat zahlreiche Gründe: Der fast dreistündige Epos ist mit augenscheinlicher Genauigkeit durchkomponiert; klar strukturierte und präzise geschichtete Bilder situieren gekonnt Figuren vor dem Hintergrund eines in gesättigten Farben erstrahlenden urbanen Lichtermeers. Jeder der zahlreichen Nebenfiguren wird mit aufmerksamer Zuneigung eine Backstory und Motivation verliehen. Die Heists werden mit der gleichen durchgetakteten Disziplin inszeniert, wie sie die Gangster bei deren Planung und Ausführung an den Tag legen. Als Gegenstück zu der sich durchziehenden Ruhe beim Handlungsablauf, dem Eintauchen in das urbane Setting, dem Aufbau der Figuren und ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen, wird eine umso spektakulärere Action abgeliefert, wenn der Kugelhagel einmal losbricht. Entspricht die handwerkliche Präzision hinter der Kamera ganz der akribischen Arbeitsmoral der beiden Hauptfiguren, unterliegen diese jedoch einer gänzlich anderen Zeitökonomie.
In Opposition zum bedächtigen Inszenierungstempo sind Vincent Hanna (Al Pacino) und Neil McCauley (Robert De Niro) stets „out of time“. Hannas Familie geht daran zugrunde, dass er sich lieber mit den Toten aufhält, mit denen er als Ermittler bei der Mordkommission täglich in Berührung kommt, als zu Hause Zeit zu verbringen. Bankräuber McCauley ist seinerseits so beschäftigt damit, einen Coup nach dem anderen zu drehen, dass er nie dazu kommt, das geraubte Geld auszugeben: Sein millionenteures Penthouse steht seit dem Einzug leer. Zwei Workaholics also, bei denen die professionelle Versessenheit des jeweils anderen nicht nur Respekt, sondern auch eine Form von Freundschaft gebietet. Scheinen ihre jeweiligen heterosexuellen Paarbeziehungen von vornherein zum Scheitern verurteilt, wissen die beiden genau, was sie voneinander erwarten (oder sich zumindest erhoffen). Frei nach der Idee meines liebsten Feindes verbindet eine eigenartige Intimität die zwei Kontrahenten. Wenn sie sich über ihren Arbeitsethos und ihre Prioritäten annähern, wissen beide ebenfalls genau, wo sie jeweils stehen: auf zwei unterschiedlichen Seiten des Gesetzes. Dieser vielleicht einzige, jedoch grundlegende Unterschied lässt sie zwei verschiedenen Welten angehören.
So begegnen sich die zwei verwandten Seelen im Laufe der 170 Minuten auch nur insgesamt dreimal. Die erste Begegnung findet nicht mal in Person statt: Hanna erspäht McCauley durch eine Wärmebildkamera. Als spüre dieser, dass etwas nicht stimmt, blickt er direkt zurück in das Aufnahmegerät, das er unmöglich sehen kann. Im Schuss-Gegenschuss schauen sich die beiden Figuren an, wobei McCauley Hanna als Negativ gegenübergestellt wird. Sie begegnen sich im Zwischenraum beider Einstellungen, ohne sich über den Weg zu laufen.
Bis die beiden Schauspiellegenden, die wie keine anderen zwei mit New Hollywood assoziiert werden, sich dann erstmals (in der Filmgeschichte) gegenüberstehen, sind die ersten anderthalb Stunden bereits rum. Sie lassen sich auf eine Jagd – oder eher: ein Rennen – bis zum bitteren Ende ein, bei der es einzig darum geht, wer besser seiner Berufung nachgeht. Scheint der Ausbruch aus dem von nun an vorgegebenen Pfad zeitweise möglich, dann auf Ebene des Bildes selbst, das in Überbelichtungen auszuwaschen droht, als würde es übersteuern. Doch zum Schluss (und erst dann) muss die Zeit bleiben, damit die beiden sich ein letztes Mal begegnen.
COLLATERAL teilt mit HEAT das Setting der L.A. Nacht sowie zwei Protagonisten, die nicht nur ein Einzelgängerdasein verbindet, sondern die einander förmlich spiegeln. Dennoch erweist sich der eine Film als dicht, ausufernd und episch, der andere als reduziert, abgeschlossen und fast anekdotisch. Tatsächlich ist COLLATERAL dermaßen rund, dass er fast schon die Form eines Kammerspiels annimmt. Der Film spielt im Laufe einer einzigen Nacht, in einer einzigen Stadt, hauptsächlich in einem Taxi mit zwei Figuren: Der Fahrer Max (Jamie Foxx) und sein Passagier Vincent (Tom Cruise), der Auftragskiller ist. Noch bevor Max das erfährt, erzählt Vincent ihm eine Anekdote, die das Ende des Films vorwegnimmt. Dessen Eckpunkte sind von Anfang an festgeschrieben: Fünf Stopps muss Vincent vor dem Ende der Nacht einlegen, Max wird ihn den ganzen Weg über begleiten. Um den Zirkelschluss perfekt zu machen, wird der erste Stopp des Abends auch der letzte sein. Trotz dieser fast hermetischen Rahmenbedingungen läuft nichts wie geplant. Schon an der ersten Adresse fliegt Vincents Opfer aus dem Fenster und landet mitten auf Max’ Windschutzscheibe. Von dort an schreitet der Film graduell eskalierend voran. Rastlos stolpern die beiden von einem brenzligen Szenario ins nächste. Die einzige Entschleunigung wird abrupt erzwungen, als zwei Coyoten aus der Dunkelheit auftauchen und Max auf die Bremse drücken muss. In einen momentanen Stillstand versetzt, sitzen die zwei Feinde einfach da, völlig absorbiert von dem Anblick der Raubtiere.
Vincent vergleicht den Ablauf der Nacht mit einer Jazz-Session. Gleich einer Partitur bilden seine Stationen den Rahmen, an dem sich das Spiel orientiert, innerhalb von dem sich jedoch alles in freier Improvisation entspinnt. Dieser improvisierte Charakter wird auf bildgestalterischer Ebene durch den Rückgriff auf eine frühe HD-Ästhetik gespiegelt. Während die Innenszenen weiterhin in warmen Zelluloidbildern eingefangen wurden, herrscht der digitale Look über die nächtliche Außenwelt, zu der auch Max’ Taxi gehört. Impulsgebend war Manns Bestreben, ein Los Angeles zu zeigen, dass es auf der Leinwand so noch nie gegeben hatte (vgl. Lucas 2011: 288). Das impliziert nicht nur ein anderes Stadtbild als HEAT, sondern auch eine Abkehr von den konventionellen Qualitäten, für die dieser steht. Statt auf aufwendig ausgeleuchtete Außensets wird hier auf bereits bestehende Lichtverhältnisse gesetzt, die höchstens ergänzt wurden. Digitale Kameras boten sich deshalb an, weil sie bei dunklen Lichtverhältnissen besser bestehen, allerdings unter der Bedingung, dem gewisse Aspekte wie tiefe Schwarztöne ohne Bildrauschen, kräftige und gesättigte Farben oder kontrastreiche Bilder zu opfern (vgl. ebd.). Der angestrebte Video-Look (vgl. Lucas 2011: 276) verleiht den Bildern eine Unmittelbarkeit, die nicht zuletzt auf einer Assoziation mit Amateuraufnahmen beruht. Zusätzlich zeigt sich die Stadt durch die erstaunliche Schärfe und gegebene Beleuchtung als allgegenwärtig und ungewöhnlich präsent, und somit als sehr reales Umfeld, in das sich die Stars einfügen, anstatt herauszustechen. Während die Arbeit mit der damals noch ungewohnten Technologie tendenziell mehr Anstrengungen und Planung bedeutete (vgl. Lucas 2011: 280), entsteht auf bildästhetischer Ebene ein Eindruck von Spontaneität, basierend auf dem, was ein gegebener Ort an Licht und urbanem Setting hergibt. War L.A. in HEAT noch das diffuse Lichtermeer, vor dem sich die Figuren bewegen und begegnen, ist es hier eine Beton-, Hochhaus- und Palmenlandschaft, durch die sie sich hindurch bewegen.
Bei seiner Veröffentlichung spaltete COLLATERAL besonders das Kameragewerbe: Während einige die Experimentierbereitschaft unter Manns Ägide als Versuch begrüßten, einen hybriden Stil für die Mixed-Media-Zukunft des Kinos zu finden, kritisierten andere den unsauberen Look und unterstellten dem Film, ein Werbeprodukt für digitale Kameras zu sein (vgl. Lucas 2011: 284–285). Für Director of Photography Dion Beebe war es lediglich eine Frage der passenden Technologie für das gegebene Vorhaben: „In some ways, it was just the right application of this technology- using this unique feature, this incredible sensitivity, in a film that is set completely at night on the streets of L.A.“ (in Frazer 2004: o.S.) So diente die digitale Technik hier als Zweck zu einem Ende und nicht als ästhetisches Statement für sich. Nichtsdestotrotz bot sie sich als mögliche Alternative zu einem Zeitpunkt an, als Mann eine Notwendigkeit für andere Bilder sah, als noch keine zehn Jahre zuvor mit HEAT.
Im Laufe der Nacht erweist sich Vincent als befreiende Kraft im Leben des zurückhaltenden Max. Er drängt ihn zu verschiedenen Schritten, die Max im Umkehrschluss dazu befähigen, sich selbst zu überwinden. So wie in HEAT McCauley das Negativ zu Hanna bildet, kann auch Vincent als das Negativ zu Max gesehen werden. Andererseits sind sie sich noch näher, denn während McCauley und Hanna zwei unterschiedlichen Welten angehören und sich ihre Wege nur dreimal kreuzen, sind Max und Vincent beide Kreaturen der Nacht, die erst dann herauskommen, um ihre Arbeit zu erledigen, wenn die meisten von uns sich zurückziehen. Dementsprechend verbringen sie fast den ganzen Film Seite an Seite in der abseitigen, digitalen und von ihnen geteilten Nachtwelt.
Als Max von Vincent gezwungen wird, sich als dieser auszugeben und dem Gangster Felix (Javier Bardem in einem kurzen, aber eindrücklichen Auftritt) essentielle Informationen abzuringen, offenbart sich im Rollenspiel ein bis dahin verborgen gebliebener, schaurig selbstsicherer Max. Gezielt lässt er in den Wortwechsel Phrasen einfließen, die er von Vincent aufgeschnappt hat. Wenn in HEAT die Position der beiden Protagonisten festgeschrieben, ihre Rolle als ‚Cop and Robber‘ vorbestimmt und der Ausgang unausweichlich erscheint, wird hier ein Identitäts- und somit Seitenwechsel zumindest vorübergehend möglich. Die festen Rollenbilder werden hinterfragt: Zum Schluss sind es zwei Raubtiere, die einander in der Dunkelheit spiegeln und aufeinander losfeuern. Der Ausgang der Schießerei ist willkürlich, das Ende fast anekdotisch.
Der unmittelbar danach entstandene MIAMI VICE bildet ein vielsagendes Gegenstück zu COLLATERAL. Zwei Clubszenen bilden einen Spiegelpunkt beider Filme: Während in COLLATERAL eine Massenschießerei losbricht, die das Action-Setpiece am Höhepunkt des Films ausmacht, läuft die Anfangsszene von MIAMI VICE komplett ins Leere. In einem überfüllten Club sind die beiden Polizisten Sonny (Colin Farrell) und Ricardo (wieder Jamie Foxx) gezwungen, einen Zuhälter laufen zu lassen, als der Hauptplot auf sie einbricht. Auch hier müssen die vermeintlich Guten in die Rolle der vermeintlich Bösen schlüpfen, und entdecken dabei eine unerwartete Seite von sich. Beide Hauptfiguren nehmen als Undercover-Cops eine Verbrecheridentität an. In einer an Max’ Seitenwechsel erinnernden Szene sprechen sie beim Kartellplayer Jose Yero (John Ortiz) vor und müssen ihn davon überzeugen, dass sie der ‚real deal‘ sind. In beiden Szenarios ziehen unsere Protagonisten unversehrt davon, ohne ihr Gegenüber jedoch vollends überzeugt zu haben. Viel mehr haben sie sich selbst überzeugt. So hat Sonny später Angst davor, seine Schurkenrolle wieder aufzugeben, als die Geschäfte erst richtig laufen und Isabella (Gong Li), eine Geschäftsfrau aus der Unterwelt, sein Herz entfacht. Die Liebe zu ihr wird wichtiger, als eine berufliche Zugehörigkeit, die Grenzen zwischen ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Identität verschwimmen.
Dabei schreitet MIAMI VICE mit noch mehr Zug voran, als COLLATERAL; Sportautos, Speedboats, Helikopter und Flugzeuge befördern uns mit den Protagonisten durch den Film. Mit der Geschwindigkeit seiner Fahrzeuge springt er von einem Schauplatz zum nächsten. Hatte der Vorgänger aufgrund seiner quasi-künstlichen Abgeschlossenheit etwas von einem isolierten und kontrollierten Experiment, übersteigt MIAMI VICE in seiner ausufernden Manier sogar HEAT. Neben Miami verschlägt es einen nach Haiti, Kuba, Südamerika und in die Schweiz, wobei die verschiedenen Länder als kurzlebige Kulisse dermaßen reduziert erscheinen, dass sie kaum mehr als ein Postkartenbild darstellen. Darin offenbart sich der Versuch, eine Form von Globalität im Zeitalter von Hypermobilität abzubilden. Ein ungebremster Fluss von Waren, Geld, Personen und Informationen wird durch ein weltweites (kriminelles) Netzwerk ermöglicht. Diese globale Vernetztheit wird in Manns späterem BLACKHAT (USA 2015) weitergesponnen. Zunächst bildet jedoch ein Bootsausflug von Sonny und Isabella, die mal eben von Miami nach Havanna düsen, um einen Mojito zu trinken, den Höhepunkt dieser Länder- und Bilderschau. Die Hypermobilität überträgt sich dabei in eine Hypersexualität, die das Tempo bestimmt, mit dem die beiden die verschiedenen Etappen einer Beziehung durchschreiten.
Mit einem mehr als doppelt so großem Budget wie COLLATERAL und als einer der ersten Big-Budget-Filme überhaupt, die digital gedreht wurden (Dion Beebe wurde wieder DP), operiert MIAMI VICE auf einer ganz anderen Skala. Waren die digitalen Bilder im Vorgänger noch in die Nachtwelt verbannt, treten sie hier vollends zutage. An jener Stelle, wo in HEAT ein Bruch zwischen behutsamer Inszenierung und Rastlosigkeit der Protagonisten bestand, legt Mann mit MIAMI VICE eine Ästhetik offen, die genauso rasant operiert, wie Figuren und Schauplätze. All diese Ebenen werden von dem Film extrem oberflächlich tangiert. Anstatt abzuflachen, streift er sie jedoch mit der Schnittigkeit und Geschwindigkeit eines ungebremsten Speedboats, das droht, von der Wasseroberfläche abzuheben. Weit entfernt von den bunten und poppigen Achtzigern der namensgebenden TV-Serie wird hier das Bild in einem ausgewaschenen grau-blau aufgeraut. Zusammen mit der grobkörnigen Bildoberfläche und einer rastlosen Kameraführung voll unsauberer Schwenks und harter Schnitte entsteht eine kratzige Ästhetik, die den gesetzten, tiefen und samtigen Zelluloidbildern aus HEAT diametral gegenübersteht.
Als solches stellt MIAMI VICE eine außergewöhnliche Erscheinung dar, die historisch von den frühen Zweitausendern und der dringlichen Suche nach dem, was eine digitale Ästhetik ausmachen könnte, nicht zu trennen ist. Genauso stellt der Film ein Wagnis dar, das zwar das Budget, den Cast und die Settings eines Blockbusters aufweist, weder auf gestalterischer noch auf inhaltlicher Ebene jedoch dessen Konventionen einlöst. Dafür ist MIAMI VICE zu sperrig. Selbst der Soundtrack hat mit rockigen Gesangseinlagen etwas unzähmbares. „Can you feel it coming in the air tonight?“ bebt der Phil Collins-Song in dem mit E-Gitarre aufgemischten Cover von Nonpoint. Tatsächlich wird in Anbetracht dieses Films etwas in der Luft spürbar, eine elektrisierende Atmosphäre setzt ein. Ein Film wie ein roher Diamant. Er vereint bereits alles, was man später dem Actionkino im digitalen Zeitalter vorwerfen würde (Wackelkamera, ausgewaschene Farben, fehlende Charakterisierung) und treibt es dermaßen auf die Spitze, dass tatsächlich und vielleicht nur dieses eine Mal ein wirklicher Stil daraus entsteht.
COLLATERAL und MIAMI VICE repräsentieren gleichermaßen eine Übergangsphase in Michael Manns Schaffen wie in der Filmgeschichte, als einer digitalen Ästhetik noch ein ungebändigtes Potenzial innezuwohnen schien. Diesen Zündfunken nachzubilden ist im Anschluss nicht einmal mehr Mann gelungen, weshalb auch seine späteren Filme angesichts des Siegeszugs der digitalen Bilder zunehmend abflachen.
Von HEAT über COLLATERAL bis hin zu MIAMI VICE lassen sich Entwicklungen nachzeichnen, die einander gegenseitig bedingen und deshalb nicht voneinander zu trennen sind: Von einem bedächtigen zu einem zunehmend rasanten Inszenierungstempo, von einer zelluloidbasierten, klassisch filmischen hin zu einer offen digitalen Ästhetik, von klar situierten und eingehend charakterisierten zu zunehmend entwurzelten und unelaborierten männlichen Protagonisten. Gerade in MIAMI VICE werden letztere angesichts ihrer quasi inexistenten Charakterisierung auf reine Archetypen reduziert. Dass sie nicht mehr richtig wissen, wo sie stehen, kann als eben die Konsequenz einer immer schneller werdenden und sich rasant verändernden Welt gesehen werden (die für eine zunehmende Verunsicherung identitärer Festschreibungen sorgt), weshalb sie nur mit Mühe mithalten und vergebens nach Halt suchen.
Wenn sich Mann weiterhin innerhalb von Genrestrukturen bewegt, dann nicht um an alten Stereotypen festzuhalten. Viel eher entlasten sie den jeweiligen Film, indem ihre Vorgaben den Fokus vom Handlungsablauf nehmen (er steht recht fest). Wenn der Eindruck entsteht, Form würde über Inhalt stehen, dann weil sie uns letztlich mehr erzählt. Nicht die Handlung, sondern die Bilder, die sie bedingen, verschaffen Zugang zu unserer Zeit: Eine zunehmend mobile, schnelle, flache, digitale Welt, in der die etablierten männlichen Vor-bilder aus den Fugen geraten. Was bleibt übrig, um diesen unkontrollierbaren Rahmen, den ungebremsten Fluss der Zeit zu navigieren? Freie Improvisation.
Frazer, Bryant (2004) How DP Dion Beebe adapted to HD for Michael Mann’s COLLATERAL, in: Film & Video, August 2004.
Lucas, Robert Christopher (2011) Crafting Digital Cinema: Cinematographers in Contemporary Hollywood. Austin: The University of Texas at Austin.
Nord, Cristina (2021) Beide Augen schließen sich, in: cargo #50, Juni 2021. Berlin: cargo Verlag, S.38-41. https://www.cargo-film.de/heft/50/essay/beide-augen-schliessen-sich/