Das Museum der Unerhörten Dinge und seine künstlerische Forschung zum Ton
In Berlin Schöneberg gibt es seit 15 Jahren einen Ort, der als das kleinste Museum Berlins Furore gemacht hat: das Museum der Unerhörten Dinge. Es handelt sich um eine literarische Wunderkammer, in der Objekte gesammelt werden. Die Objekte werden vom Künstler und Museumsleiter Roland Albrecht befragt und erforscht. Albrecht formuliert seine Erkenntnisse in der Form des Essays zwischen Wissenschaft und Literatur. Seine Texte sind im Museum zu lesen, aber auch als Buch im Wagenbach Verlag erhältlich, oder über die Website des Museums. Die Texte sprechen sehr unterschiedliche Besucherschichten an. Sie wirken wie ein Magnet, der Nachbarn wie Touristen gleichermaßen in den kleinen Besucherraum des Museums lockt, der dreimal in der Woche nachmittags geöffnet ist. Zu den Besuchern zählen jung und alt, Gelehrte und Professoren ebenso wie einfache Leute. Eine Herausforderung sind die Essays vor allem deshalb, weil sie eine Gratwanderung zwischen Fakt und Fiktion unternehmen und damit die eigene Urteilsfähigkeit ständig herausfordern. Faszinierend ist es aber auch, in diesem Museum die gebannte, manchmal stundenlange Lektüre von anderen Besuchern mitzuerleben. Man wohnt dann säkularen individuellen Vertiefungen des Lesens bei, die sich zu Lesegruppenerfahrungen ausweiten können: weltliche Andacht mit Wechseln zwischen Schmunzeln und Erstaunen, die sich zu einer spürbaren Atmosphäre verdichtet und von Besucher zu Besucher überträgt.
Seit einigen Jahren schon bildet das Museum auch ein Forum für die Erforschung von Klangphänomenen. Im Museum finden zum einen moderne Kammerkonzerte statt. Zum anderen arbeitet Roland Albrecht an der Geschichte des Klangs und seiner Erforschung, so z.B. an einer Recherche zur Erfindung eines Tonneutralisators (Albrecht 2004). Darüber hinaus produziert der Museumsleiter Hör-CDs und Videoinstallationen. Die Hör-CDs widmen sich dokumentarischen Klangaufnahmen von Orten. Sie verzeichnen beispielsweise Geräusche einer Eiersortiermaschine in einer Legehennenbatterie, das geräuschvolle herbstliche Herunterfallen von Eicheln, die klangliche Atmosphäre am Grab der Gebrüder Grimm oder den Soundscape des Berliner Bahnhofs Zoo, zur Zeit als dort noch Fernzüge hielten.
Eine der jüngsten Arbeiten Albrechts ist die Videoinstallation „4 Orte : 100 Töne“. Die Arbeit zeigt vier audiovisuelle „Porträts“ des städtischen Raums. Sie setzt sich aus zeitgenössischen Videoaufnahmen und einer Sammlung von aufgezeichneten Geräuschen, Stimmen und musikalischen Kompositionen zusammen. Neben den Stimmen von John F. Kennedy und Kaiser Wilhelm ist der Gesang von Marlene Dietrich zu hören. Ferner sind Tierstimmen zu vernehmen, historische Pferdekutschen, akustische Klangikonen des Radios insbesondere aus der Nachkriegszeit und andere akustische Zeitdokumente. Zu den audiovisuellen Spuren Schöneberger Orte der Gegenwart werden die historischen Klangereignisse montiert. Auch diese Arbeit ist eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Kunst. Künstlerisch ist sie, weil sie ganz auf die ästhetische Wahrnehmung von Ton und Bild setzt und den Zuhörern Fragmente einer Audio History zum freien Spiel mit Assoziationen präsentiert. Dies funktioniert wie ein akustisches Fort-Da-Spiel: Die historischen Klänge sind in den Aufnahmen gebunden, werden hörbar, setzen die Einbildungskraft in Bewegung, sobald sie verklingen, und kehren in der geloopten Installation nach einigen Minuten verlässlich zurück, um erneut zu verklingen. Die künstlerische Qualität liegt also nicht in einer musikalischen Neukomposition aus einer Vielzahl von Einzelklängen oder in einem neu geschaffenen Soundscape eines Ortes, sondern vielmehr im Prinzip eines Wechsels, bei dem die historischen Klangereignisse zwischen Aktualisierung und Erinnerung changieren, angespielt werden, um im Verklingen Imaginationen aufzurufen. In diesem ästhetischen Spiel wird das Verhältnis des Zuhörers zu den historischen Klängen – und zu der mit ihnen verbundenen Zeitgeschichte – aufgerufen und befragt.
Wissenschaftlich ist die Videoarbeit dort, wo sie ein historisches Tonarchiv für spezifische Orte der Stadt anlegt und die historischen Klangereignisse im Grunde „dokumentiert“, erforscht, sammelt und vermittelt. Die Klänge bleiben dabei als einzelne Ereignisse und als historische Aufnahmen erkennbar und unterscheidbar. Sie werden geordnet und in zeitlichen Abständen aufgereiht auf den Tonspuren der Videoinstallation. Diese Ordnung eines historischen Tonarchivs als Videoinstallation ist dabei von besonderer Bedeutung. Denn historisch betrachtet sind Klangarchive reale Orte, an denen Wachswalzen oder Schallplatten als Objekte aufbewahrt wurden wie andere Objekte auch in einem Archiv oder Museum – also keine zeitlichen Ordnungen, sondern räumliche. Allerdings gibt es im Zuge der Mediatisierung im 20. und 21. Jahrhundert eine Veränderung hin zu medialen Klangarchiven. Bekannt sind heute vor allem zeitgenössische Formen, also computer-basierte Sammlungen von digitalisierten Klängen, die es erlauben in Tonarchiven zu stöbern und auf einzelne Klangobjekte als Soundfiles zuzugreifen. Diese werden in der Regel mithilfe von weiterführenden Informationen kontextualisiert und in Paratexten kommentiert. Auch diese digitalen Tonarchive sind eher ortsgebunden als zeitgebunden, sind sie doch über Websites zugänglich – also über Adressen im weltweiten Computernetzwerk auffindbar.
Roland Albrecht hat für seine Videoinstallation in solchen digitalen Klangarchiven recherchiert und sich die historischen Klänge per download angeeignet, um sie schließlich als Material für seine Arbeit zu verwenden. Mit seiner Videoinstallation hat er dann aber eine andere Form der Präsentation und Anordnung gewählt. D.h. er hat nicht eine weitere ortsgebundene, computerbasierte Datenbank der Klänge eingerichtet, in der die einzelnen historischen Töne einer Straße oder eines Platzes für die Hörer abrufbar sind. Er hat sich stattdessen für eine zeitliche Montage der Klänge im Videoloop entschieden. Damit greift er auf eine andere, zeitliche Form der Anordnung und Archivierung zurück, die historisch betrachtet erst mit den Aufzeichnungsmedien Phonograph und Film (später Tonband) denkbar und realisierbar wurde. Denn mit diesen Ton- und Bildaufzeichnungsmedien konnten Ereignisse nicht nur grafisch notiert und über technische Verfahren erneut als Bilder und Klänge abgerufen werden. Die Aufzeichnungen konnten auch in und mit den Medien qua Montage als Komposition oder Serie in eine zeitliche Ordnung gebracht werden. Diese Möglichkeit der Montage (bzw. Mischung) wurde insbesondere in der Filmproduktion sehr früh genutzt und auch theoretisch beschrieben (Benjamin 1936, Kracauer 1927). Im Tonbereich wurde die Mischung von Klängen analog zu den Bildmontagen des Films von Radiomachern wie Hans Flesch in den 1920er Jahren erträumt (Hagen 2005), zu einem Zeitpunkt also, als eine praktische Realisierung in modernen Tonstudios noch nicht möglich war. Tonschnitt und -mischung, wie wir sie heute kennen, werden erst auf der Basis des Mehrspurverfahrens mit dem Tonband seit den 1950er Jahren durchgeführt.
Was sich an der Videoinstallation von Albrecht studieren und erfahren lässt, ist eine spezifische Verwendung der Tonmischung. Diese dient nicht in erster Linie der Erstellung eines neues Werks im Sinne einer Ton-Komposition oder audiovisuellen Arbeit, sondern sie ist vielmehr darauf ausgerichtet, eine Sammlung von Klängen zeitlich anzuordnen. Die Videoinstallation fungiert folglich als zeitliche Ordnung und Struktur – erforschend, bewahrend und vermittelnd gleichermaßen – einem Museum ähnlich, aber darin unterschieden, dass es die Objekte nicht räumlich anordnet, sondern in zeitlicher Folge präsentiert.
Dass hierfür das digitale Video, das Nachfolgemedium des Films genutzt wird, ist kein Zufall. Denn erstens ist es eine Eigenheit des Films, als hybrides Medium zu agieren. So bewegt sich der Film ganz grundsätzlich zwischen Fakt und Fiktion, wenn er Gegenstände in der Zeit versammelt und ihnen mitunter ihre jeweiligen Eigenheiten belässt. Er agiert im Grunde wissenschaftlich, wenn er seine Objekte als Dokumente präsentiert und erforscht. Und er produziert Fiktives, sobald er neue ästhetische Konfigurationen aus seinem Material hervorbringt. Zweitens wird die Installation als Videoloop gestaltet, also als Schleife, die die zeitliche Folge jeweils wieder an ihren Ausgangspunkt zurückbindet. Diese Struktur schließt an die Ähnlichkeit von Videoinstallation und Museum an. So, wie man sich durch eine Architektur des Museums räumlich bewegen kann, führt der Videoloop durch eine zeitliche Architektur, in diesem Fall insbesondere durch eine Sammlung von Klängen, deren Folge nach einer Weile erneut hörbar wird. Drittens benötigt die zeitliche Anordnung eine Folie, eine audiovisuelle Spur, auf deren Hintergrund sich die historischen Klangereignisse entfalten können.
Ohne diese audiovisuelle Folie wären wir als Zuhörer mit einer reinen Klanginstallation konfrontiert, die sich im Raum der realen Architektur entfaltet – also dort, wo sie präsentiert wird. In einer reinen Klanginstallation muss der Bezug auf andere Orte über Klänge – akustische Marker oder kommentierende Stimmen – erfolgen. Die audiovisuelle Spur der zeitgenössischen Videoaufnahmen bildet in Albrechts Installation eine Grundierung für die historischen Klänge. Das Video liefert räumliche Kadrierung, zeitlichen Rahmen und auf der Tonspur ein Grundrauschen. Die Installation nutzt zudem die Möglichkeit der Schrift zur Markierung der Straßen: Kleistpark, Kaiser-Wilhelm-Platz, Kolonnen-/Leberstraße, Monumentenstraße. Und sie präsentiert die Klänge in je einer ungeschnittenen Einstellung. Die audiovisuellen Aufnahmen der Straßen kehren die Anordnung der historischen Klänge als Sammlung auf besondere Weise hervor: Während wir die kontinuierliche Einstellung einer Alltagsszene auf einer Straße beobachten, springt die Tonspur durch die Zeiten, und lässt den Höreindruck einer Zeitmaschine aufkommen. Hier schließt das Wunderkammerprinzip des Museums an, arbeitet auf der akustischen Ebene weiter und präsentiert eine Audio History, die im Grunde an jeder Straßenecke auf aufmerksame Zuhörer und Klangsammler wartet.
Eine solche Sammlung, so möchte ich abschließend argumentieren, ist im eigentlichen Sinne keine Videoinstallation sondern ein Museum, eine Sammlung von Klangereignissen im Medium Video. Gleichzeitig ist sie so etwas wie eine Skizze für ein Forschungsprojekt im Schnittfeld von Kunst und Wissenschaft, das sich der Audio History des Bezirks Berlin-Schöneberg widmet.
Roland Albrecht (2004): Bruno Retlau und sein Tonneutralisator oder Die gehörte Stille des Antischalls. In ders.: Museum der Unerhörten Dinge, Berlin, S. 41–45.
Walter Benjamin (1936): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In ders. (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main, S. 45–64.
Wolfgang Hagen (2005): Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München.
Siegfried Kracauer (1927): Die Photographie. In: Ders. (1963) Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main, S. 21–39.