DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER von Helma Sanders-Brahms
„Helmas Film in seiner Mischung von dokumentarischem Kino und großem Gefühlskino reizte die Auffassung, dass ein gewisses Bilderverbot, ein ästhetischer Purismus und die Vermeidung von Gefühlsüberschüssen die einzig angemessene Haltung sein könne, wenn von den Katastrophen der deutschen Geschichte die Rede war.“ (Jutta Brückner1)
Unter dem Label ‚Neuer Deutscher Film‘ entstanden in den 1970er und 1980er Jahren eine Reihe von Werken, die sich aus individueller Perspektive mit der deutschen Gegenwart und Geschichte auseinandersetzen – darunter erstmals in größerem Umfang Filme von Regisseurinnen (Staskowksi 2004: 1-29). DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER (Helma Sanders-Brahms, D 1980) stellt in diesem Zusammenhang den Versuch dar, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus weiblicher Perspektive neu zu schreiben. Sanders-Brahms verfilmt darin das Leben ihrer Mutter, als Geschichte des Alltags, des Überlebens und der Entfremdung vom Ehemann in Kriegs- und Nachkriegszeit. Statt einer Abrechnung mit den Tätern des Nationalsozialismus, wie sie die Studentenbewegung vorantrieb, versucht sie eine einfühlende Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. Sie thematisiert die schuldhafte Verstrickung, aber auch das Erleiden der historisch-politischen Situation und das Nachwirken der Kriegserfahrung auf folgende Generationen. Diese Geschichte wird über eine Schichtung heterogener Materialien und Diskurse erschlossen, die sich auf der Tonebene in einer Vielfalt von Stimmen äußert. Dem Kommentar der Autorin als subjektive Erinnerungsspur steht dokumentarisches Material gegenüber, insbesondere Radiomitschnitte, die den historischen Kontext aufrufen. Die Figuren wiederum sprechen ‚mit fremden Zungen’, ihre Reden sind durchkreuzt von Texten – Redensarten, Märchen, Liedern, Gedichten –, die die Prägung durch kulturelle und historische Diskurse sichtbar machen.
Die Rezeptionsgeschichte von DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER – der von der deutschen Kritik verrissen, im Ausland gefeiert wurde – zeigt, dass die von Sanders-Brahms gewählte Form einer Geschichtsschreibung aus subjektiver Perspektive umstritten und zugleich geeignet ist, neuralgische Punkte in der kollektiven Erinnerung anzusprechen (vgl. Richter 1998, Münzberg 1980). In der vorwiegend englischsprachigen Sekundärliteratur wurde der Film dementsprechend bisher zumeist unter dem Gesichtspunkt der weiblichen Autobiografie untersucht. Die psychoanalytischen und feministischen Lektüren fokussierten sich dabei häufig auf eine Deutung und Bewertung der ‚politischen Haltung’ des Films, die aus der Analyse von narrativen und symbolischen Strukturen geschlossen und an (implizit) normativen Vorannahmen zu einer politisch korrekten Auseinandersetzung mit Geschichte oder weiblicher Erfahrung gemessen wird (vgl. Kaplan 1986, Bammer 1985, Seiter 1986, Hyams 1988, Kaes 1987). Diese Perspektive erweist sich jedoch als nicht geeignet, der ästhetischen und diskursiven Komplexität des Films gerecht zu werden. Oftmals führt gerade der Versuch einer gültigen Deutung und deren Zuschreibung an die Autorin zu einem Zirkelschluss: Da die Kritik gewissermaßen erst die Aussagen konstruiert, die sie dann als der historischen Realität unangemessen einstuft 2.
Übergangen wird dabei die oben angedeutete Vielschichtigkeit des Films, die einer Strategie der Kontrastierung auf verschiedenen Ebenen – visuell, akustisch, textuell, narrativ – entspricht und eine differenzierte, auch widersprüchliche, Auseinandersetzung mit der Geschichte ermöglicht. Übergangen wird auch der subjektive Gestus der Erzählung, der einen Anspruch auf Objektivität und Vollständigkeit gerade nicht erhebt. Susan E. Linville spricht daher von einem subversiven Verfahren, das die Unzulänglichkeit kultureller Bilder und etablierter Modelle zur Deutung von Geschichte, insbesondere mit Blick auf die Mutter-Tochter-Beziehung, offenbart (Linville 1998). Alain Bergala verweist demgegenüber – in Anlehnung an Roland Barthes – darauf, dass sich gerade die körperliche Transformation der Schauspieler, insbesondere der weiblichen Hauptfigur, einer lehrstückhaften Deutung entzieht: Geschichte wird nicht rückblickend gedeutet, sondern als singuläres Symptom in den Körpern der Gegenwart aufgespürt (Bergala 1981).
Anknüpfend an diese beiden Ansätze möchte ich im Folgenden die – bisher in den Analysen weitgehend ausgeblendete – Tonspur des Films untersuchen. Der Komplex aus Figurenstimmen, Textualität, Dokumentarmaterial und Autorinnenstimme soll in seinen gegenläufigen Bewegungen und Sinnzuschreibungen analysiert und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Klangwirkung gerichtet werden. Dies ermöglicht, das in der Sekundärliteratur häufig kritisierte melodramatische Pathos als eine reflexive Strategie zu deuten. DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER kann zudem als Beispiel dienen, wie über die Tonebene das Verhältnis von subjektiver Erinnerung und historischer Realität verhandelt wird.
DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER ist als Ansprache einer Tochter an ihre Mutter konstruiert und wird im Abspann „Lene und Anna“ – Mutter und Tochter der Regisseurin – gewidmet. Das dem Film vorangestellte Gedicht „Deutschland, bleiche Mutter“ von Berthold Brecht – gesprochen von dessen Tochter Hanne Hiob – gibt das Thema und die Adressierung vor. Es geht um eine Auseinandersetzung mit der Elterngeneration und deren schuldhafter Verstrickung als Täter und Opfer des NS-Regimes 3. Doch der Film verschiebt die Perspektive des Gedichts. Die von Brecht in literarischer Tradition als Allegorie für Deutschland beschworene Mutter wird in dem Film zur konkreten Mutter der Regisseurin. Die von Hanne Hiobs mit spröder, hart akzentuierter Stimme artikulierte Anklage weicht der selbstkritisch einfühlenden Tonlage des von Sanders-Brahms gesprochenen Off-Kommentars. Indem sie die Lebensgeschichte ihrer Mutter als eine individuelle Version der deutschen Geschichte erzählt, folgt Sanders-Brahms der Politik des Neuen Deutschen Films, Gegenerzählungen zur dominierenden Objektivität beanspruchenden Geschichtsschreibung zu schaffen. Und sie vertritt eine feministische Programmatik, da sie eine weibliche Genealogie an die Stelle der kulturgeschichtlich etablierten Modelle männlicher Genealogien setzt.
Diese politische (und ästhetische) Positionierung zeigt sich bereits in der ersten Sequenz, die die drei Protagonisten des Films einführt: Vater Hans (Ernst Jacobi) und Mutter Lene (Eva Matthes) – auf der Bildebene – und – auf der Tonebene – die Regisseurin als das Kind, das aus ihrer Verbindung hervorgehen wird. Die erste Einstellung beginnt mit der Spiegelung eines Hakenkreuzes im Wasser zu der die Stimme der Autorin spricht: „Ich kann mich an nichts mehr erinnern, in der Zeit vor meinem Leben. An dem, was geschah bevor ich geboren war, trifft mich keine Schuld.“ Mit dieser paradoxen Formulierung wird zugleich der historische Kontext und die Grenzen seiner Darstellung thematisiert. Die Imagination oder Erinnerung der Regisseurin, die das verzerrte Bild erst hervorbringt, wird als unzuverlässig und beschränkt eingeführt. Diese konkretisiert sich in der identifikatorischen Fokussierung auf die Mutter, auf die die Szene zusteuert. Sie endet mit einer Nahaufnahme Lenes und der Ansprache: „Meine Mutter. Ich habe schweigen gelernt, sagtest Du. Von Dir habe ich sprechen gelernt.“ 4 Damit artikuliert die Off-Stimme die Programmatik des Films: das Schweigen zu brechen und anstelle der Mutter, für sie, zu sprechen. Die Notwendigkeit dieser Positionierung wird in der Mise en scène der ersten Sequenz verdeutlicht.
Auf der Bildebene wird – wie Linville darlegt – der in der klassischen Filmnarration dominierende männliche Blick auf den weiblichen Körper vorgeführt und durchbrochen (Linville 1998: 55f). Die erste Einstellung begleitet in einer parallelen Fahrt ein Boot, in dem Hans mit seinem Freund Ulrich sitzt, und teilt deren Blickachse auf Lene, die am gegenüberliegenden Ufer, wie auf einer Theaterbühne, von einer Gruppe Nazis belästigt wird. Nach einem kurzen Zwischenschnitt auf eine tote Katze durchkreuzt eine zweite lange Einstellung diesen distanzierten Blick auf Lene, indem sie von der Spiegelung im Wasser auf die am Ufer sitzende Frau schwenkt und sich ihr bis zur Nahaufnahme nähert.
Der visuellen Inszenierung des männlichen Blicks auf die Frau entspricht die Dominanz der männlichen Stimmen auf der Tonebene, die die schweigende Lene zum Objekt klischeehafter, wertender Zuschreibungen machen. Diese Kommentare zeugen zwar von unterschiedlichen Haltungen: Im Falle der Nazis sind sie herabsetzend und beleidigend („Hey Süße, dreh Dich doch mal um!“ oder „Die ist doch viel zu spak“); im Falle der Freunde eher anerkennend, wobei Hans die schweigende Haltung von Lene bewundert, während Ulrich im nationalsozialistischen Jargon sekundiert „Eine echte deutsche Frau. Rein arisch“. Jedoch werden die Bemerkungen der Männer visuell in Zusammenhang gebracht: über einen Reißschwenk von Ulrich zu den grüßenden Nazis und eine geschickte asynchrone Ton-Bildmontage, die die Einstellung von Hans und Ulrich am Anfang mit den Worten der noch nicht sichtbaren Nazis unterlegt. Diese Mise en scène der ersten Begegnung betont die (unüberbrückbare) Distanz, die Hans von Lene, seinem Ideal-Bild der schweigenden Frau, trennt – eine Geschlechterkonstellation, die durch den in den klischeehaften Redeweisen anklingenden historischen und kulturgeschichtlichen Kontext vorgegeben scheint und deren (verdeckte) Gewaltsamkeit stellvertretend über die Figuren der Nazis verhandelt wird.
Durchbrochen wird diese Anordnung durch die Kamerafahrt auf Lene zu, die im Gesicht der Protagonistin die Verstörung hinter der gefassten Haltung zeigt, und durch die Off-Stimme, die zeitgleich in einen (imaginären) Dialog mit ihr tritt. Sie artikuliert die Programmatik des Films: Jenseits der kulturgeschichtlichen vom männlichen Blick dominierten Projektionen gilt es eine andere Perspektive auf weibliche Erfahrung zu öffnen, die Annäherung erlaubt, ohne der Illusion einer realistischen Wiederbelebung der Vergangenheit zu verfallen. Zwischen dem Schweigen und dem ‚falschen’ Sprechen (in vorgestanzten, ideologiebehafteten Phrasen) gilt es eine Stimme für die Erfahrung der Mutter und für die eigene Erinnerung zu finden.
Sanders-Brahms verbindet zu diesem Zweck Merkmale des Melodrams (Seiter 1986) mit vielfältigen Strategien der Distanzierung und Brechung (vgl. Staskowski 2004: 92f, Kosta 1994: 136f). Statt der identifikatorischen Einbindung über Point-of-view-Strukturen verweisen die Plansequenzen den Zuschauer auf eine Beobachterposition. Die Nähe zu den Figuren und Handlungen wird über Großaufnahmen, aber auch über kunstvolle Kamerabewegungen entlang von Details (Händen, Füßen) hergestellt, die den Blick auf das Ganze verweigern, ihn verschieben und wie ein Kommentar fungieren. Hinzu kommen verschiedene Formen des Mise-en-abyme (über Bilder, Rahmungen, Theatersituationen, Film im Film) und der Kontrastierung von Szenen, Einstellungen, Motiven, Äußerungen, Emotionen, die sich ineinander brechen und gegenseitig relativieren. So wird beispielsweise in der dritten Sequenz Lene selbst in der Position derjenigen gezeigt, die der Gewalt von Nationalsozialisten gegen eine Frau – in dem Fall ihre jüdische Nachbarin – zuschaut ohne einzugreifen. Die Genderzuschreibung in der ersten Szene, die die weibliche Figur in die Position des Opfers des männlich konnotierten Nationalsozialismus versetzt, wird dadurch relativiert und eine Mitverantwortung der weiblichen Mitläuferin sichtbar.
Die Balance zwischen emphatischer Annäherung und reflexiver Distanzierung wird auf der Tonebene über den Off-Kommentar hergestellt, der den Film rahmt und seine autobiografische Dimension beglaubigt. Mit dieser weiblichen Off-Stimme beansprucht Sanders-Brahms – wie andere Regisseurinnen des Neuen Deutschen Films – eine Position der Autorschaft, die im klassischen Kino meist einem männlichen Erzähler vorbehalten ist (Silverman 1984: 136f). Zugleich wird die mit dem Off-Kommentar üblicherweise verbundenen Anspruch auf Autorität, Objektivität und Wissen, sowohl durch die dialogische Struktur, als auch die Klanglichkeit der weiblichen Off-Stimme unterwandert.
Diese Off-Stimme artikuliert einen einfühlenden Gestus und markiert den Films als eine subjektive Position. Sie stellt die Gegenwart der Autorin gegen die inszenierte Vergangenheit und führt damit eine zweite Zeitebene ein. Das Verhältnis zur erinnerten oder imaginierten Vergangenheit ist dabei zweiseitig. Zum einen fungiert die Off-Stimme als subjektiv gefärbter Ursprung der audiovisuellen Erzählung, die in der ersten Einstellung aus dem verzerrten Spiegelbild im Wasser entsteht 5. Zum anderen stellt sie sich auch neben die gezeigte Handlung, tritt in Dialog zu den Figuren, kommentiert deren Handeln und betont wiederholt die Unmöglichkeit der Darstellung der Geschichte – die dennoch erfolgt 6. Mit diesem Gestus wird eine Mehrstimmigkeit konstruiert, die Stimme der Autorin ist nur eine Stimme unter anderen.
Michel Chion hat die Off-Stimme im Film als eine „Stimme ohne Körper“ beschrieben, die – gerade weil sie in das Bildgeschehen nicht involviert ist – alles zu wissen, alles zu sehen scheint und die Handlung kontrolliert (Chion 2003: 149-156). Diese Stimme erfülle nur dann die Funktion, im Sinne einer Ich-Erzählung die Identifikation des Zuschauers zu lenken, wenn sie bestimmten technischen und akustischen Konventionen entspreche, die zugleich Nähe und Neutralität suggerieren: „Denn eine gewisse Neutralität des Timbres und der Aussprache wird, in Verbindung mit einer gewissen einschmeichelnden Diskretion, eben normalerweise von der Ich-Stimme erwartet. Damit jeder Zuschauer sie zu der seinen machen kann, muss sie sich etwas annähern, das ein geschriebener Text sein könnte, der im Innersten der Lektüre spricht.“ (Chion 2003: 155f) Die Off-Stimme in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER entspricht offenbar nicht dieser Konvention der Neutralität: Sie ist zu hoch, wirkt brüchig, verletzlich, ist durchdrungen von einer emotionalen, empfindsamen Färbung. Anstatt „zu vermeiden als Körper angetroffen zu werden“ (Chion 2003: 155) verweist diese Stimme auf einen individuellen Körper, den der Regisseurin. Damit geht ein „’Verlust der Illusion’ der Ich-Stimme“ einher, sie wird zum Objekt unserer Wahrnehmung, anstatt diese in eine bruchlose Erzählung zu führen.
Mit der Entscheidung, selbst den Kommentar zu sprechen, statt ihn einer professionellen Sprecherin zu übergeben, stellt die Regisseurin somit die Subjektivität ihrer Erzählung heraus und bringt ihren eigenen Körper als Medium von Gefühlen ins Spiel. Sie suggeriert keine objektiv-allwissende Haltung, sondern bringt sich als eine Stimme unter anderen in die Aufarbeitung der Geschichte ein. Die individuelle, gefühlvolle Tonlage ist Mittel und Ausdruck einer empathischen Annäherung an die Figuren, kann aber auch eine Distanzierung des Zuschauers hervorrufen – der diese Haltung nicht als die eigene annehmen muss. Gerade diese Strategie einer Relativierung der Ich-Perspektive im Ausstellen der (eigenen) Gefühle wurde von Kritikern vielfach nicht berücksichtigt, die dem Film eine mangelnde reflexive Distanz vorwerfen oder mit heftiger Ablehnung auf die – nicht geteilte – Emotionalität reagieren (vgl. Münzberg 1980, Kaplan 1986, Kaes 1987, Richter 1998). Dabei geht es in diesem Film nicht nur um die Eltern, sondern auch um eine dritte Figur, die der Regisseurin, die von der Geschichte der Eltern betroffen ist und deren Stimme von der eigenen Betroffenheit zeugt.
Die über die Off-Stimme vermittelte subjektive Perspektive wird kontrastiert mit dokumentarischen Material, das den historischen Kontext evoziert: Tondokumente von Radioansprachen und Bilddokumente von Ruinenlandschaften. Die ‚nahtlose’ Einbindung dieser Dokumentarmaterialien in die Fiktion wurde unter anderem von Seiter kritisiert, da sie – anders als die in anderen Filmen anzutreffenden Techniken der Verfremdung – die Differenz Fiktion/Dokumentation verschleiere und rein illustrativ funktioniere (vgl. u.a. Seiter 1986: 576) 7. Vordergründig ist dieses Argument allein deshalb nicht haltbar, da die Dokumentarmaterialien in ihrer Medialität – verkratzte Tonspuren, verfärbtes Bildmaterial – deutlich erkennbar sind und sich absetzen von den inszenierten Szenen. Anhand der Tonspur möchte ich im Folgenden die sehr differenzierte Einbindung der Dokumentarmaterialien in den Film aufzeigen, die nicht nur der Vergegenwärtigung der Geschichte, sondern auch einer reflexiven Auseinandersetzung mit ihr dient.
Fünf Radio- und Tondokumente – Ansprachen, politische Reden, Sendungen, die meist in die Diegese eingebettet sind, – ordnen die individuelle Geschichte der Figuren konkreten historischen Ereignissen zu und strukturieren den Film. Adolf Hitlers Kriegserklärung an Polen (1.9.1939) begleitet die Einberufung von Hans. Die Rede zum Jahrestag der „Machtergreifung“ 1941, in der Hitler die Erfolge der ersten Kriegsjahre aufzählt, unterlegt die Beteiligung von Hans an der Erschießung französischer Widerstandskämpfer. Die Weihnachtsringsendung von 1942 und Joseph Goebbels Aufruf zum „totalen Krieg“ (30.1.1943) folgen Lene mit Kind in einen Luftschutzbunker, kurz bevor ihr Haus zerstört wird. Das Kriegsende wird durch eine Radioansprache zum Selbstmord Hitlers (8.5.1945) verkündet, die – als einzige nicht im Handlungsraum verortet – ertönt, während Lene mit ihrem Kind vom ländlichen Zufluchtsort zurückkehrt. Von Wideraufbau und Verdrängung der Vergangenheit in der Nachkriegszeit schließlich kündet die Bundestagsdebatte zur Wiederbewaffnung (8.2.1952).
Diese Tondokumente sind nicht immer zeitlich exakt zugeordnet, beispielsweise wird Goebbels Ansprache zum Weihnachtsfest des Vorjahres geschnitten und die Bundestagsdebatte mit Beiträgen von Konrad Adenauer und Franz Joseph Strauss erklingt zu Ostern. Auch werden Auszüge aus den Reden teilweise in verkehrter Reihenfolge collagiert, statt zusammenhängende Fragmente zu zitieren. Dies entspricht der Anlage der zugehörigen Szenen und Sequenzen, die offenbar keine realen Situationen rekonstruieren, sondern symbolisch verdichtet sozialen, psychischen und historischen Konstellationen und Konfliktlagen Ausdruck verleihen. Die Auszüge aus den Tondokumenten konzentrieren sich dabei auf Kernaussagen, die in ein Spannungsverhältnis mit den anderen Stimmen des Films treten. Sie dienen nicht nur als eine Art historisches Rauschen oder eine Strategie der Authentifizierung, sondern werden in den Szenen meist differenziert bearbeitet.
Das Radio als ein Medium, das die Stimmen der Öffentlichkeit, der Politik und der Propaganda in private Räume bringt, versinnbildlicht den in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER verhandelten Zusammenhang von öffentlich und privat. Hans und Lene versuchen sich aus der Politik herauszuhalten, sie sympathisieren zwar nicht mit den Nationalsozialisten, glauben aber, dass sie nur die Fenster und Türen ihres Hauses schließen, wegschauen und weghören müssen um die Politik aus ihrem privaten Glück herauszuhalten. Das erweist sich im Laufe des Films als Trugschluss, wenn wie an der ersten Szene gezeigt, die Beziehung zum Anderen durch ein kulturell determiniertes, gewaltsames Geschlechterverhältnis geprägt ist und wenn mit der Einberufung von Hans ein langer Prozess der gegenseitigen Entfremdung durch die Kriegserfahrungen einsetzt. Sanders-Brahms zeigt in ihrem Film die politische Dimension des Privaten, die die Frauenbewegung thematisiert hat (Kosta 1994: 131, Staskowski 2004: 90, Cook 1991: 114). Diese zeigt sich nicht nur in der inneren Verwüstung der Figuren durch Propaganda und Krieg, sondern auch darin, dass sich eine Befreiung von überkommenen sozialen Strukturen durch die Kriegs-Zerstörung – wie sie die Off-Stimme in der Zerstörung der Wohnstuben beschwört – als Illusion erweist. Der Sound der Geschichte dringt in diesem Film über das Radio durch die Wände des Privaten und besetzt die Räume: Wohnzimmer, Luftschutzkeller, Landschaften.
Die Radiostimmen werden derart in ein Verhältnis zu den anderen Stimmen des Films gesetzt, dass eine Distanzierung von ihren ideologischen Inhalten erfolgt. Dafür sorgt zum einen die Tonperspektive. Die Radiostimmen sind meist im Hintergrund platziert, von den Dialogen der Figuren im Vordergrund so verdeckt, dass nur Satzfetzen zwischendurch hörbar werden. Der/die Zuhörer/in kann also nicht der Logik ihrer Argumentation folgen, sondern schnappt eher Stichworte auf, die bestimmte historische Kontexte aufrufen. Er/sie erfährt die Tondokumente als akustische Inszenierungen, die sich selbst entlarven, insbesondere der aggressive Duktus von Hitler und Goebbels im Wechselspiel mit den rhythmischen Beifallsbekundungen der Masse. Zum anderen werden die inhaltlichen Aussagen der Radiosendungen (für diejenigen, die sie kennen) in den Szenen bearbeitet und widerlegt.
Ein Beispiel dafür ist die auf die Hochzeit folgende Szene, in der Lene Geburtstag feiert und von der Einberufung ihres Mannes erfährt. Das Radio tritt hier gewissermaßen als Agent der Geschichte auf, der die historischen Ereignisse verkündet, deren Folgen im Privaten die Szene verhandelt. Die Logik von Hitlers Rede zum Kriegseintritt wird dabei direkt aufgegriffen, in der Interaktion der Figuren vorgeführt und dekonstruiert. Die demagogische Rhetorik Hitlers, derzufolge alle Versuche, auf friedlichem Wege die Interessen Deutschlands zu wahren, gescheitert und der Kriegs somit ein Mittel der Notwehr sei8, wird von Ulrich mit den Worten angesprochen: „Der Führer will den Frieden. Da hörst Du es Hans“. Diese Behauptung widerlegt Hans unmittelbar, indem er seinen Einberufungsbefehl vorlegt und erklärt: „Ich habe aber heute das hier bekommen.“ Damit offenbart sich die Vorbereitung eines Krieges von langer Hand. Die darauf folgende zynische Gratulation von Ulrich und seine Äußerung, „Ich wollt’ ich könnte mit Euch hinaus“, wird durch den Kommentar von Lenes Schwester relativiert, die darauf verweist, dass Parteimitglieder nicht eingezogen werden. Dies kann auch als indirekter Kommentar auf Hitlers großspurige Aussage gelesen werden, er „sei der erste Soldat das Deutschen Reiches“ und entlarvt den heroischen Gestus des Nationalsozialisten als Demagogie eines eigennützigen Karrieristen.9
Parallel zu diesen Dialogen rückt die Kamera durch eine Dekadrierung der Szene – in Großaufnahmen der Hände und Gesichter – eine andere Wirklichkeit ins Blickfeld, die der menschlichen Beziehungen. Sie vermitteln Lenes Erschütterung und Verzweiflung über die Einberufung und die Eifersucht der Schwester auf Ulrichs Frau. Seiters hat diese Fokussierung auf das individuelle Leiden und das „familiäre Psychodrama“ als eine melodramatische Strategie bezeichnet, die den historischen Kontext (und damit auch die individuelle Verantwortung) ausblende (Seiter 1986: 577). Ich bin allerdings der Meinung, dass diese Emotionalisierung ebenfalls als ein politisches Statement zu werten ist, da die Reaktion Lenes, das Zittern ihrer Hände, die das Geschirr zu Boden fallen lassen, in starken Kontrast zu dem – bereits in der ersten Sequenz anklingenden – nationalsozialistischen Frauenbild steht. Zwar ist der entsprechende Kommentar Hitlers, der in der zitierten Rede von der „deutschen Frau“ „eiserne Disziplin“ einfordert, im Film selbst nicht zu hören. Aber auch dieser findet seinen Widerhall in den Reaktionen der Figuren, wenn Ulrich und seine Frau Lenes Verzweiflung mit den Worten „Reiß’ Dich zusammen“ kommentieren.
Die Mise en scène rückt das ‚Hintergrundrauschen’ des Radios thematisch ins Zentrum der Szene. Über Dialog und Bildgestaltung erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem dadurch evozierten historischen Kontext und der nationalsozialistischen Ideologie. In anderen Szenen hat die Tonspur neben dieser reflexiven Dimension zudem eine emotionalisierende Funktion; sie setzt den/die Zuschauer/in bzw. Zuhörer/in dem Schock der Vergangenheit aus.
Ein herausragendes Beispiel ist hier die Weihnachtssequenz, in der das Dispositiv des Radios explizit als Propagandainstrument in Erscheinung tritt. Hier ist in akustischer Nahaufnahme eine nationalsozialistische Weihnachtsringsendung (von 1942) zu hören – am Anfang nachinszeniert, dann als Originaldokument montiert. 10 In diesen in den Jahren 1939-1943 zum Heiligen Abend ausgestrahlten Sendungen wurden in einer (fingierten) Live-Schaltung Soldaten verschiedener Frontabschnitte mit ihren Familien ‚in der Heimat’ verbunden. Laut Dominik Schrage hatten diese Ringsendungen, die Berichte, Grußworte und Liederwünsche enthielten, die Funktion, die Ausdehnung der Front, ebenso wie die technische Modernität Deutschlands zu demonstrieren und eine imaginäre nationale Einheit im Gemeinschaftserlebnis einer riesigen Weihnachtsfeier zu inszenieren (Schrage 2005: 278ff). Dabei wurden technische Störungen der Übertragung gezielt eingesetzt, um Authentizität zu suggerieren. Diese Ideologie der Volksgemeinschaft wird in der Weihnachtssequenz, die in der Wohnstube beginnt und im Luftschutzbunker endet, systematisch demontiert.
Am Anfang stellt die Sequenz die ideologische Funktion der Ringsendung nach. In einer Parallelmontage wird die hell erleuchtete Wohnstube mit Lene und Kind unterm Weihnachtsbaum mit einem dunklen Zugwaggon verbunden, in dem Hans ein Bild von Frau und Kind betrachtet. Die Stimme, die aus dem im Detail gezeigten Radioapparat in Lenes Zimmer erklingt, wird von einem Berichterstatter verkörpert, der mit Hans im Waggon sitzt.11 Diese scheinbare Verbindung über das Medium Radio wird jedoch in Frage gestellt, wenn Hans sich verweigert, ein Grußwort ins Mikrophon zu sprechen, und wenn Lene unter Fliegeralarm in den Luftschutzbunker flüchtet. In der Kontrastierung der in Bildern und Liedern beschworenen Weihnachtsidylle mit der gezeigten Kriegs-Situation wird die Instrumentalisierung des Sakralen durch die nationalsozialistische Ideologie offenbart. Diese spitzt sich auf der Tonebene plakativ zu: wenn auf die eher düster anmutenden Worte des Radiosprechers („Diese Männer werden kein Weihnachten haben“) die originalen Tondokumente folgen, und das abschließend angeblich von allen Frontabschnitten gemeinsam gesungene Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ mit Fliegeralarm gemischt wird.
Jenseits der plakativ-symbolischen Gegenüberstellung entfalten die originalen Tondokumente über ihre Medialität und Klanglichkeit eine besondere Wirkung. Der verkratzte, scheppernde Sound weckt in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER einen gespenstischen Eindruck: als handele es sich um Maschinenstimmen, um Stimmen ohne menschlichen Körper, um Stimmen aus dem Jenseits. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn Lene aus dem Haus flieht und der Radiosound sie – losgelöst von einer diegetisch motivierten Klangquelle – in den Luftschutzkeller begleitet. Die Radiostimmen werden damit überführt in akusmatische Stimmen. Diese wirken laut Chion besonders unheimlich, da sie keine Verkörperung im filmischen Bild haben und dieses von allen Seiten zu ‚bedrängen’ scheinen (Chion 1982: 25-34). Im Luftschutzkeller wird der Gesang der Weihnachtsringsendung durch einen anderen Acousmêtre, die Stimme von Josef Goebbels mit der Rede zum „totalen Krieg“, ersetzt. Damit verkehrt sich das Dispositiv Radio mit seinem Versprechen, die entfernten Menschen in einer (imaginären) Gemeinschaft zu verbinden, in ein bedrohliches Instrument der Machtausübung. Die Soundkulisse der Tondokumente vermittelt in dieser Szene eine gespenstische Allgegenwart der nationalsozialistischen Propaganda, die den Menschen überallhin zu folgen scheint.
Dominiert im ersten Teil der Sequenz die Kontrastierung der – im Weihnachtslied beschworenen – Weihnachtsidylle mit der Kriegssituation, so wird im zweiten Teil der auf der Tonebene beschworene „totale Krieg“ in einer apokalyptischen Situation vor Augen und Ohren geführt. Das durch die akusmatischen Stimmen erzeugte Unbehagen steigert sich zur Unerträglichkeit. Die Bildebene zerreißt förmlich in einer Montage aus dokumentarischen Aufnahmen von Bombenabwürfen aus Fliegerperspektive, nahezu abstrakten Aufnahmen von Explosionen und fiktionalen Szenen aus dem Luftschutzkeller, in dem eine flackernde Lampe nur momentartig Bilder des menschlichen Leidens (Gesichter, Gesten, Körperhaltungen) zu sehen gibt. Auf der Tonebene findet dagegen eine Konzentration und Steigerung der apokalyptischen Sounds statt. Goebbels schneidende Stimme wird überlagert vom Lärm der Sirenen und Bombeneinschläge, dem hysterischen Schreien einer Frau und panischen Artikulationen anderer Insassen des Luftschutzkellers. Während die Bildebene unsere Wahrnehmung destabilisiert, werden wir auf der Tonebene mitten ins Geschehen hineingezogen. Die Unerträglichkeit der Situation wird für den Zuschauer körperlich spürbar.
Neben den bereits beschriebenen distanzierenden Verfahrensweisen hat die Tonkulisse hier vor allem die Funktion, die gezeigten Situationen zu vergegenwärtigen. Die Eigenschaft des Tons, uns scheinbar in den Mittelpunkt zu rücken und uns emotional-körperlich zu attackieren, wird eingesetzt, um Geschichte erfahrbar zu machen. Die akustische Inszenierung des Kriegs mit Fliegeralarm, Bomben und Schreien der Figuren erzeugt eine verstörende Gegenwärtigkeit, der man sich schwer entziehen kann. Michel Chion hat auf die dramaturgisch zentrale Funktion des weiblichen Schreis im Horrorfilm hingewiesen, als Punkt, an dem „die Sprache plötzlich erlischt“ (Chion zitiert nach Elsaesser / Hagener 2004: 181; Chion 1982: 67-70). In diesem Sinne fungiert der Schrei – insbesondere der Schrei von Lene bzw. von Figuren mit dem Gesicht Lenes – in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER als Ausdruck einer emotionalen und physischen Grenzsituation. Kombiniert mit langen Nahaufnahmen auf die gequälten Gesichter haben diese exzessiven Schreie die paradoxe Wirkung, uns direkt zu attackieren, uns in die unerträgliche Situation hineinzuversetzen und zugleich abzustoßen, eine Identifikation zu verweigern.
Aber nicht nur der Schrei, als Extremfall der Deformation der menschlichen Stimme, wird in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER als dramaturgisches Mittel eingesetzt. Auch andere stimmliche Verzerrungen, seien es klanglich ungewöhnliche Stimmen oder verfremdende Sprechweisen wecken Unbehagen. Die Szene im Luftschutzkeller liefert auch dafür ein Beispiel. Mit Nachlassen des Fliegeralarms löst sich die apokalyptische Anspannung. Die Kellerinsassen lassen eine Flasche Alkohol kreisen und die begleitende dissonante Musik ‚klärt’ sich auf. Doch dieses Bild einer Schicksalsgemeinschaft wird umgehend gestört durch die aufdringliche Nähe einer Frau, die Lenes Haar nach Läusen durchsucht und sich an sie lehnt. Auf Lenes Zurückweichen reagiert sie mit den Worten: „Wir sind doch eine Gemeinschaft, Kind“. Ihre krächzende, unangenehme Stimme und ihr leicht hysterisches Lachen unterminieren den versöhnlichen Klang dieser Worte und wecken auch im Zuschauer ein Gefühl der Zudringlichkeit. Damit wird noch in einer letzten Volte die über das Radiodispositiv thematisierte Ideologie der Volksgemeinschaft zum Kippen gebracht und der vorerst glückliche Ausgang erhält einen schalen Beigeschmack.
Die Tonebene in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER vermittelt eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Kontext, die weit über einen rein illustrativen Einsatz von Tondokumenten hinausgeht. Eine wichtige Strategie ist dabei die Überlagerung und Kontrastierung unterschiedlicher Stimmen und Klangebenen, die sich gegenseitig relativieren, in Frage stellen oder auch verstärken. Zusätzlich zu distanzierenden Verfahren, die die mit dem Dispositiv und den Sendungen des Radios transportierten Ideologien reflektieren, wird in manchen Szenen auch die emotionale Wirkung der Tonebene ausgespielt. Diese melodramatische Anlage wurde in der literaturwissenschaftlichen und feministischen Rezeption wiederholt problematisiert, – in mehr oder weniger expliziter Abgrenzung vom Brecht’schen Modell der Verfremdung als einzig legitimer Form der erkenntnisfördernden Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte (vgl. u.a. Seiter 1986, Bammer: 102f). Dagegen hat die Analyse der filmästhetischen Gestaltung exemplarischer Szenen gezeigt, dass auch Gefühle gegen die Ideologie und gegen klischeehafte Darstellungen der Geschichte mobilisiert werden können. Durch ein Wechselbad von Empathie und Abschreckung, durch exzessive Steigerung oder Subversion inszenierter Situationen werden die Zuschauer körperlich attackiert und einer unentwegten Anspannung ausgesetzt. Identifikation und Katharsis einer konventionellen Dramaturgie werden damit verweigert (Staskowski 2004: 93), aber gerade die bleibende Irritation kann zur Reflexion anregen. 12
„From the start, Helma Sanders-Brahms sets up a dialectical relation between the absence and the presence of a female voice. Lene passes from silence, her image voiceless (indicating her function within male culture), to speech, and then back again to silence.“ (Barbara Kosta13)
Wie Kosta darlegt, hat die Stimme von Lene, die Stimme der Mutter, die vom Schweigen zum Sprechen, Singen, Erzählen gelangt, eine zentrale dramaturgische Funktion in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER. Sie verortet sich innerhalb der Stimmen der anderen Figuren, die, wie sie selbst, von der Verhaftung in gesellschaftlichen und kulturellen Diskursen zeugen. In der bereits analysierten Eingangssequenz werden das Schweigen der Frau und das Sprechen der Männer in Phrasen, die nationalsozialistische Ideologie oder kulturgeschichtliche Geschlechterstereotype aufrufen, als Grundkonstellation etabliert. Innerhalb dieser Konstellation müssen sich die beiden Hauptfiguren Hans und Lene positionieren und füreinander Worte finden. In ihrem Sprechen oder Schweigen äußert sich ihre (innere) Entwicklung und die ihrer Beziehung.
Während über die Nebenfiguren, insbesondere den Freund Ulrich, die Phrasen der nationalsozialistischen Ideologie teilweise übertrieben parodistisch vorgeführt und ausgestellt werden, sprechen auch Hans und Lene – in geringerem Maße – in Redensarten und ideologischen Versatzstücken. Sie scheinen einem kulturellen Denken verhaftet, das sie daran hindert, ihren Erfahrungen Ausdruck zu verleihen, und das sowohl Zeichen als auch Ursache ihrer gegenseitigen Entfremdung ist. Wie bereits in der Eingangsszene, in der er sich von der schweigenden Gefasstheit Lenes beeindruckt zeigt, bezieht sich Hans auf Lene oft mit klischeehaften Zuschreibungen,14 die ihn daran hindern, Verständnis für sie zu entwickeln und andere Erfahrungen als seine eigenen gelten zu lassen. Seine zunehmende Verhärtung und innere Zerstörung durch den Krieg äußert sich auch im Einstimmen auf die nationalsozialistische Propaganda („Sieg oder Untergang“), der er zuvor eher ironisch oder zweifelnd begegnet ist. Lene entspricht am Anfang dem Bild der schweigenden Frau, sie spricht nur das Nötigste, oder greift Äußerungen anderer – wenn auch zweifelnd – auf. Mit der Geburt ihres Kindes und der Zerstörung ihres Haushalts setzt eine Emanzipation ein. Sie beginnt – meist für ihre Tochter – zu sprechen und zu singen. Ihr Mann zeigt sich irritiert von dieser anderen Lene und der Mutter-Tochter-Beziehung, die ihn ausschließt. In der Nachkriegszeit, mit der ‚Rückkehr der Wohnstuben’ und dem Verlust der in der Kriegszeit gewonnenen Autonomie, wird der Verlust der Stimme ebenso wie ihres schönen Gesichts (das durch eine Gesichtslähmung entstellt ist) zum Ausdruck von Lenes psychischer Zerstörung. Sie entspricht nicht mehr dem Bild der schönen, schweigenden Frau, der die Liebe ihres Mannes galt. Sie hat aber auch keine eigene Stimme finden können. Was bleibt, ist Schweigen und verzweifeltes Schreien.
Das Schweigen ist jedoch nicht nur der weiblichen Figur zugeordnet, sondern es steht auch zwischen dem Paar. Am Anfang gibt es noch eine Art stillschweigendes Einverständnis zwischen beiden, die der Sprache nicht bedürfen, um Gesten füreinander zu finden. Besonders eindrücklich offenbart dies die Hochzeitsszene, die in einer langen Plansequenz ein zauberhafter Moment des Einvernehmens einfängt, als die beiden sich gegenseitig entkleiden und die äußeren Zeichen der Hochzeit ablegen. Dieses Schweigen wird in den verschiedenen intimen Momenten, die die sukzessive Entfremdung des Paares zeigen, von den beiden Schauspielern differenziert ausgespielt und von einer geduldigen Kamera in langen Plansequenzen registriert. Nach der Rückkehr von Hans zu Kriegsende wird gerade im quälend langsamen Ringen nach Worten die gegenseitige Fremdheit spürbar, ebenso wie die Schwierigkeit, sich diese einzugestehen. Beiden fehlen die Worte, um dem anderen ihre Erfahrungen und Gefühle mitzuteilen. Das erlernte phrasenhafte Sprechen ist nicht geeignet, die Kluft in der Erfahrung der beiden Körper zu überwinden.
Was bleibt, ist der Schrei als Ausdruck existentieller Not. Den ersten markerschütternden Schrei stößt ein polnisches Kriegsopfer aus, bevor es von Hans und anderen Soldaten erschossen wird. Die Besetzung dieser Nebenfigur mit Eva Matthes verweist darauf, dass es hier auch um die Beziehung zu Lene geht. Das Schreien der Frau wird in dieser Szene beantwortet von einem verzweifelten Schluchzen von Hans (und anderen Soldaten), der in ihr seine Frau zu erkennen meint. Damit wird der Abstumpfungsprozess von Hans durch die Kriegshandlung, der die Entfremdung des Paares einleitet, hier als eine quälende Erfahrung sichtbar. Später, wenn die entstellte Lene verzweifelt nach Liebe schreit, wird Hans keine Regung mehr zeigen. In den exzessiv ausgespielten Schreien (und den vor Leid deformierten Gesichtern) äußern sich in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER die Verwüstungen, die der Krieg anrichtet und auch in denen hinterläßt, die körperlich unbeschadet überleben.15
Im Schweigen, Schreien oder phrasenhaften Sprechen der Figuren wird das Scheitern der Kommunikation zwischen den Geschlechtern ausgestellt. Darüber hinaus arbeitet DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER auch mit einer Vielfalt intertextueller Bezüge zu Gedichten, Liedern, Märchen. Dieses Verfahren kennzeichnet den Film als Ganzes, wie bereits in Bezug auf das einleitende Brecht-Gedicht deutlich wurde, lässt sich aber insbesondere auch der Figur von Lene zuschreiben. Im Mittelteil des von Kosta sogenannten „Triptychons“ beginnt Lene die Stimme zu erheben: sie singt Schlager („Eine Nacht in Monte Carlo“) oder Kriegslieder („Maikäfer flieg“), und erzählt im Kernstück des Films das Grimm’sche Märchen „Der Räuberbräutigam“ (Kosta: 122). Diese Aneignung kultureller Überlieferungen steht hier im Zusammenhang einer Vermittlungsbeziehung zwischen Mutter und Kind. Sie dient Lene dazu, etwas von ihrer Erfahrung zum Ausdruck zu bringen und an die Tochter Anna weiterzugeben. Dabei wird die orale Tradition des Geschichtenerzählens, ‚von Körper zu Körper’ gewissermaßen, gegen die ideologischen Dimension des Mediums Radio als fremdbestimmte, körperlose Stimme gesetzt.
In der Sekundärliteratur wurde die symbolischen Deutung dieser kulturellen Texte in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER ausführlich diskutiert, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen möchte (u.a. Heidelberger-Leonhardt 1984, Kaes 1987, Hyams 1988, Cook 1991, Morwedge 1998). Unter anderem wurde nachgewiesen, dass die Märchenerzählung auf verschiedenen Ebenen Bezüge zu der Situation Lenes, ebenso wie Deutschlands im Zweiten Weltkriegs herstellt: was die Gewalterfahrungen von Frauen, die Zerstörung durch Krieg und Holocaust, die Komplizenschaft mit den Gewalttätern, die Verdrängung traumatischer Erfahrungen usw. betrifft. Jedoch erweist sich die Märchenerzählung spätestens in dem Moment als ‚falsch’ oder inadäquat, die private und kollektive Geschichte darzustellen, in dem sie eine Wiederherstellung der Ordnung durch die Bestrafung der Täter suggeriert. Dass dies nicht geschieht, führt uns der Film mit den Figuren der ‚entnazifizierten’ Nationalsozialisten Ulrich und Onkel Bertrand selbst vor. Dennoch wurde Sanders-Brahms vielfach dafür kritisiert, mit dem Märchen „Der Räuberbräutigam“ eine problematische Gleichsetzung des Schicksals der Räuberbraut (die von ihrem Ehemann getötet und gefressen werden soll) mit Lene und mit Deutschland zu vollziehen. Morewedge weist dagegen in einer differenzierten Analyse des Märchens nach, dass es hier nicht um eine ‚gültige’ Deutung der deutschen Geschichte, sondern vielmehr um die Bedingungen und Notwendigkeit von Vermittlung geht (Morewedge 1998). Denn das Märchen verhandelt die Beziehung zwischen zwei Generationen von Frauen, in denen die Ältere dem Mädchen (der Räuberbraut) hilft, sich aus der vorgegebenen Rolle des Opfers und des Komplizen männlicher Gewalt zu befreien.16
Lene erzählt das Märchen ihrer Tochter, während sie nach Kriegsende durch Wald und Ruinen in die Stadt zurückkehren. Die Erzählung des Märchens durch die Mutter wird visuell verbunden mit dem ‚Sehen lernen’ der Tochter, die mit der Gewalt des Krieges konfrontiert wird: den zerstörten Fabriken, einer verwesten Leiche am Wegesrand und der Vergewaltigung der Mutter durch amerikanische Soldaten. Das Erzählen des Märchens hat offenbar die Funktion, dem Kind bei der Verarbeitung dieser Gewalterfahrung zu helfen, ihm Deutungs- und Lösungsangebote zu vermitteln. Weitergabe wird hier als der Versuch vorgeführt, inkommensurable Erfahrungen in sinnhafte Erzählungen zu überführen (Kosta: 143). Zugleich wird gezeigt, dass die Geschichten die Realität nicht einholen können und dass die Gewalterfahrung, die Erfahrung der Frau zum Objekt gemacht zu werden, mit dem Versuch der Rationalisierung („So ist das im Krieg kleines Mädchen: die Sieger nehmen die Frauen und die Sachen“) ebenfalls an die nachkommende Generation der Töchter weitergegeben wird.17 Was die Tochter – die die Regisseurin selbst repräsentiert – mit diesem Erbe macht und wie sie sich – schreibend oder filmend – daraus befreit, kann als eigentlicher Subtext des Films verstanden werden.
Auch in dieser Sequenz ist die Inszenierung der Stimmen, Klang und Sprechweise entscheidend für Wirkung und Bedeutung. In einer 10minütigen Sequenz spricht Lene das Märchen in voller Länge, einschließlich einer narrativen Wiederholungsschleife, in der das traumatische Erlebnis von der Braut gegenüber den Gästen des Vaters erzählt wird. Die Stimme der Mutter überbrückt gewissermaßen die traumatischen Ereignisse der Wanderung – durch eine idyllische Frühlingslandschaft, die durchsetzt ist mit Zerstörung – und setzt nur in dem Moment aus, in dem sie selbst Gewalt erfährt. Dass sie danach weiterspricht, um das Märchen abzuschließen, zeugt von dem Überlebenswillen, der die Mutter-Tochterbeziehung hält – die Stimme der Mutter fungiert wie eine akustische Schutzhülle für die Tochter.18
Das Changieren der Stimmen zwischen dem Nullpunkt sinnhafter Kommunikation (Schweigen und Schreien) und dem Sprechen in ideologischen oder kulturellen Versatzstücken, spiegelt die in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER verhandelte Problematik, innerhalb gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse eine Beziehung zueinander zu entwickeln und jenseits stereotyper Verhaltens- und Denkmuster eine Sprache für die Kommunikation mit dem Anderen zu finden. Die Figuren sind wie besetzt von fremden Stimmen und Texten, die sich gemeinsam mit den Gewalterfahrungen (ob als Opfer oder Täter) in die Körper einschreiben. Dadurch reflektiert der Films auch seine eigene Problematik: die individuelle Erfahrung von Geschichte anders erzählen zu wollen und dabei angewiesen zu sein auf bereits existierende, kulturgeschichtlich etablierte Muster des Erzählens. Linville hat darauf verwiesen, dass DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER im Schreibenlernen des Kindes, den Prozess der Aneignung und der Transformation vorgegebener Formen thematisiert. Das „Kinoschreiben“ von Sanders-Brahms äußert sich demnach gerade in seinem dekonstruktiven Verfahren: tradierte Klischees, Bilder, Lieder und Erzählungen werden gegeneinander gestellt und mit fiktionalen Szenen, Dokumenten und körperlichen Affekten konfrontiert, sodass Reibung entsteht: „The film’s discursive subversion challenges established notions of what constitutes German history and how one as a daughter comes to terms with it“ (Linville 1998: 55).
Der Titel DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER gibt vor, dass hier die Geschichte der Mutter aus der Perspektive des Kindes erzählt wird. Jenseits der gängigen Lesart, die sich auf das Schicksal von Lene und ihrem Mann fokussiert, kann der Film damit auch als Geschichte des Kindes verstanden werden, das durch die Erfahrung der Elterngeneration geprägt ist (vgl. Staskowski 2004). Sie beginnt vor seiner Geburt mit der ersten Begegnung der Eltern („da war mein Anfang“) und wird von verschiedenen Darstellerinnen vom Neugeborenen bis zum Schulkind verkörpert. Das Aufwachsen des Kindes erfolgt über die Etappen des Sprechenlernens (als Kleinkind während des Kriegs), des Sehenlernens (als ca. 4jähriges Mädchen auf der Flucht zu Kriegsende) und des Schreibenlernens (als ca. 6-10jähriges Mädchen in der Nachkriegszeit). Die weibliche Off-Stimme, die das Kind vor seiner Geburt vertritt, spricht einerseits aus der Gegenwart der erwachsenen Regisseurin und zugleich für das Kind, aus der Erinnerung und im Bewußtsein der durch die kindliche Erfahrung begrenzten Perspektive. Sie tritt in ein Spannungsverhältnis zur Präsenz der kindlichen Darstellerinnen und ihrer Stimmen.
Die Stimme des Kindes bewegt sich analog zu den Stimmen der Erwachsenen zwischen Schreien, Schweigen und Sprechen. Sie hat aber – vor allem in der Figur des Kleinkindes, das von Sanders-Brahms eigener Tochter Anna gespielt wird – eine ganz eigene Wirkung. Das Kleinkind zieht zunächst mit seinem wütenden oder verzweifelten Schreien die Aufmerksamkeit auf sich. Sein Schreien ist jedoch nicht das dramaturgische Zentrum der Szenen, wie das Schreien der Frauen als Ausdruck existentieller Erfahrungen (Tod, Geburt, Angst, Verzweiflung), das im Sinne von Chions „point de cri“ der Punkt ist, auf den die Narration hin geordnet ist (Chion 1982: 67). Das Schreien des Kindes wirkt vielmehr wie ein Störfaktor, der die vorgesehene Inszenierung, die Stilisierung der Szenen sprengt. Es scheint sich unkontrolliert zu ereignen – ein Blick in das Drehbuch offenbart, dass es nicht ‚geplant’ wurde. Es ist Ausdruck einer Art anarchistischer Vitalität. Im Schrei scheint das Kind im Film und das Kind beim Dreh mit Macht seinen Anspruch auf Leben und Aufmerksamkeit einzufordern. Zugleich gibt es eine Art magische Resonanz mit den filmischen Ereignissen, wenn das Kind an manchen Stellen wie ein Seismograf anstelle der anderen Figuren zu schreien scheint. Sein Schreien erhöht den Druck auf Lene, wenn sie nach langem Fußmarsch in der Wohnung der Verwandten in Berlin ankommt, und dort verloren zwischen den Möbelpackern erfahren muss, dass diese im Begriff sind umzuziehen. Und es steht als Ablehnung des Vaters schon bei seiner ersten Heimkehr im Raum.
In ähnlicher Weise erzeugen auch die kindlichen Äußerungen, die teilweise als Off-Stimme montiert sind, eine eigene Präsenz. Diese Äußerungen sind häufig in inszenierte Situationen integriert – z.B. wenn Anna auf Hans mit dem Finger zeigt und „Da, Papa“ sagt oder den Abschied nach dem Heimurlaub mit „Hans, weg“ quittiert. Dennoch stehen sie in der Wahrnehmung der Zuschauer zunächst einmal für ein Kind, das mit Mühe erste Sätze formt und nachahmt, und das besonders rührt, wenn es mit seinen Worten eine Situation trifft. Die Wirkung der Szenen hat mit der Faszinationskraft kindlicher Darsteller zu tun, die laut Lury daraus erwächst, dass unbestimmt bleibt, ob sie eine Rolle spielen oder vor der Kamera ‚existieren’ (Lury 2010: 145-190). In DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER stellt sich diese Präsenz gegen die historische Dimension des Films. Sie macht neben der inszenierten Zeit der Vergangenheit und der vergangenen Gegenwart des Off-Kommentars eine dritte zeitliche Ebene auf, die Gegenwart des/der Zuschauers/in. Wir betrachten oder erleben nicht mehr (ausschließlich) eine spezifische Situation in der Vergangenheit, oder setzen uns mit deren Nachwirkung auf die Regisseurin auseinander, sondern wir befinden uns in Gegenwart eines Kleinkinds, das wie jedes Kleinkind versucht, Worte zu formen und seine Bedürfnisse einzufordern. Dadurch erhalten die Szenen mit dem Kleinkind, wenn es weint und schreit, ebenso wie wenn es lacht und lallt, ein utopisches Moment, ein Moment der Verbindung über mehrere Generationen, das in den späteren Szenen – mit den sprachmächtigen Kindern – wieder verloren geht.
Dieses utopische Moment wird auch in der filmischen Perspektive aufgegriffen. Wenn die weibliche Off-Stimme zu dokumentarischen Luftaufnahmen der Trümmerlandschaft spricht „[wir] flogen wie Hexen über die Dächer“ und dazu eine beschwingte Musik erklingt, dann wird die im Bild vorgeführte Realität der Kriegszerstörung durch den Ton von der subjektiven Perspektive der glücklichen Kindheitserinnerung überformt. Später, als das Kind die Gewalt und Zerstörung ‚sehen lernt’, werden dieselben Aufnahmen mit einer verstörenden, dissonanten Musik unterlegt und ihre Wirkung dadurch radikal verändert. Die Fokalisierung auf die kindliche Wahrnehmung wird in der Phase der Flucht auch im filmischen Bild reflektiert. An die Stelle der physischen Präsenz des Kleinkindes tritt die Figur des Kindes als Zuschauer, das in Großaufnahmen als stummer Zeuge der Gewalt der letzten Kriegestage gezeigt wird und dessen Blick sich vor allem auf die Mutter richtet. Erst in der letzten Phase der Nachkriegszeit tritt zum Schauen das Schreiben und die direkte Ansprache der Mutter (und des Vaters), als Zeichen einer Umkehrung der Verantwortung, aber auch als Spiegel der Erzählhaltung. Diese sprachmächtigen Kinder sind nicht mehr Störung sondern Teil der Inszenierung, sie spielen eine Rolle statt im nicht kontrollierbaren Prozess des Spracherwerbs gefilmt zu werden. Sie sind nicht mehr eine fremde Präsenz, der sich der/die Zuschauer/in gegenüber sieht, sondern werden zu Identifikationsfiguren.
Eine der stärksten Szenen des Films ist die letzte, in der Anna minutenlang vor der geschlossenen Tür des Badezimmers steht, hinter der die Mutter das Gas aufgedreht hat, und sie mit den immer gleichen Worten anfleht: „Mutti, komm doch raus“. Der Kamera dreht sie den Rücken zu, sodass die Verzweiflung über die Klagelaute auf der Tonebene vermittelt wird. So endlos wie Anna das Zögern der Mutter erscheint, wird für die Zuschauer ihr Rufen. Es appelliert an unser Mitgefühl, es triggert unsere Einfühlung, die dem Leid der erwachsenen Figuren nicht in gleichem Maße gilt. Denn ein weinendes Kind löst andere Reflexe aus, als ein weinender oder schreiender Erwachsener, dessen Kontrollverlust immer auch Irritation und Verunsicherung auslöst. Die weibliche Off-Stimme 19 überführt den Ruf des Kindes abschließend in die Position der Regisseurin und schließt den Kreis zum Anfang. Das Klagelied über den Verlust der Mutter wird als Ursprung des ‚filmischen Schreibens’ kenntlich. Die kindlichen Protagonisten fungieren wie ein Medium, das die Empathie der Zuschauer auch auf die Generation(en) ihrer Mütter überträgt.
Die Stimme spielt eine Schlüsselrolle in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER. Dies gilt zum einen für die dramaturgische und symbolische Funktion der Figurenstimmen, über deren Schweigen, Schreien und Sprechen sich die Entwicklung der Hauptfigur Lene und ihrer Beziehung zu Hans, die existentielle Erfahrung des Krieges ebenso wie die ‚Besetzung’ durch kulturelle und ideologische Diskurse vermittelt. Zum anderen ist die Schichtung einander widersprechender oder sich gegenseitig relativierender Stimmen charakteristisch für die formale Gestaltung des Films und seine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die Stimmen der Figuren, des Radios, des Off-Kommentars sind mit verschiedenen Perspektiven und Zeitlichkeiten verbunden. Der historische Kontext wird über das Dokumentarmaterial integriert und der (nach-)inszenierten Biografie der Eltern gegenübergestellt. Die Gegenwart der Regisseurin wird über den Off-Kommentar evoziert, der in Dialog mit der Vergangenheit tritt. Die kindlichen Darsteller wiederum überbrücken die zeitliche und emotionale Distanz zu den Zuschauern/innen. Jede dieser Stimmen vertritt eine beschränkte, wenn nicht ideologische Position, die – in der gegenseitigen Kontrastierung und Reibung – Geschichte als komplexes Gewebe aus Überlieferung und Erinnerung evozieren. Dabei kennzeichnet den Film nicht nur das von Linville herausgestellte Verfahren der textuellen Dekonstruktion und Subversion im Umgang mit ideologischen Versatzstücken und kulturgeschichtlichen Überlieferungen. Vielmehr setzt der Film auch die Emotionalisierung als reflexive Strategie ein, da nicht nur Techniken der Verfremdung, sondern auch das ‚Wechselband’ der Gefühle eine bruchlose, unkritische Rezeption unterminiert. Die emotionale Einbindung, Attacke oder Abstoßung der Zuschauer erfolgt wesentlich über die Tonspur, wobei die spezifische Klanglichkeit der Stimmen die Wahrnehmung entscheidend beeinflusst: Sei es die Medialität der akusmatischen Radiostimmen, seien es die endlosen, die sinnhafte Rede aussetzenden Schreie der weiblichen Figuren oder die Attacken von Flugalarm und Bombenlärm, sei es die brüchig-helle Stimme des weiblichen Off-Kommentars oder die empörten Schreie Annas als Kleinkind. Die Stimme und Perspektive des Kindes fungieren dabei als ein zweites Zentrum des Films, sie verrücken und lenken unsere Wahrnehmung der Mutter. Die Frage der Vermittlung, der Beziehung zwischen den Generationen ist in DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER das eigentliche Thema.
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