Zum Fotografischen in Angela Schanelecs MARSEILLE
Die folgenden Überlegungen sind als Auftragsarbeit entstanden. "Was will das Kino von der Fotografie?", lautete die Frage, die an Angela Schanelecs Spielfilm MARSEILLE gerichtet werden sollte. Gern habe ich die Aufgabe übernommen, diesen Film auf seine fotografischen Figuren und Verfahrensweisen zu untersuchen, ohne dass am Anfang schon klar gewesen wäre, was am Ende dabei herauskommen würde. Nur, dass etwas herauskommen würde müssen, stand fest.
Diese meine Ausgangslage unterscheidet sich grundsätzlich von der Sophies. Sophie ist die Figur, die MARSEILLE – die Stadt und den Film – durchquert. Sie als Hauptfigur zu bezeichnen, ginge sicher schon fehl, weil sich MARSEILLE nicht in Haupt- und Nebenfiguren oder Haupt- und Nebenschauplätze unterteilen lässt. Sophie (Maren Eggert) ist ohne Auftrag in Marseille unterwegs. Die Motive ihrer Reise und auch die ihrer Fotografien entfalten sich erst durch den Film hindurch und bleiben dabei immer auch etwas unklar. Zunächst sieht man Sophie beim Gehen und Fotografieren in Marseille und erst nachdem der Film eine ganze Zeit gelaufen ist, erfährt man durch ein Gespräch in einer Bar, dass sie "nur für sich" fotografiere, ohne speziellen Anlass. Sie könne tun, was sie wolle, sagt sie. Sie hätte ein paar Tage frei gehabt. Dass was als Potential kreativer Freiheit gilt, eben nicht auftragsgebunden zu arbeiten, sondern ohne Erwartungsdruck und Deadline, ist aber eine vielleicht noch schwerer wiegende Bürde als die des Auftrags: die Bürde nämlich des Freiseins von Erwartungen; Erwartungen, die man zwar nicht verfehlen, denen man aber auch nicht entsprechen kann. Im Gegensatz zu ihren Berliner Freunden Hanna und Ivan, die nicht nur ein Kind zu versorgen, sondern auch berufliche Anforderungen zu erfüllen haben, ist Sophie ungebunden und d.h. auch: allein. Sie wird nirgends erwartet – weder in Marseille noch in Berlin, wohin sie in der zweiten Hälfte des Films zurückkehrt – und sie erwartet auch nichts. Eher scheint sie zu warten, auf etwas Unbestimmtes, etwas nicht Vorhersehbares.1
Der Film setzt ein mit der Ankunft in Marseille und diese beginnt mit einer Autofahrt, zwei Frauen und einem Stadtplan, der nicht benutzt werden wird. Sophie tauscht mit einer Französin, die sie ebenso wenig kennt wie die Stadt, Wohnungen, d.h. sie tauschen Schlüssel und Lieder, dann verschwindet die eine aus dem Bild und aus dem Film. Sophie bleibt zurück in einem Zimmer mit Klappbett und einem Blick auf das Meer, der uns erst in der letzten Einstellung des Films wieder gezeigt werden wird.
Sophie ist im ersten Teil des Films die Figur, der die Kamera unablässig folgt oder besser diejenige, um die herum das Bild gebaut ist. Die Kamera (Reinhold Vorschneider) ist meist statisch, oft entsteht ein durch Vorder- und Hintergründe strukturierter Bildraum. Sophie wird bei täglichen Verrichtungen gezeigt – einkaufen, aufräumen, Schuhe anziehen, Café trinken – und hauptsächlich bei Gängen durch die Stadt, während derer sie fotografiert oder zumindest ihre Kameratasche immer dabei hat. Die Stadt Marseille ist weder aus der Perspektive der Fotografin zu sehen, als ein Motiv, noch als Kulisse einer Filmhandlung – Marseille ist vielmehr als Sophies Umgebungsraum ins Bild gesetzt. Dabei ist nicht zu entscheiden, ob sie in sich oder in aufmerksame Betrachtungen dieser ihr unvertrauten Umgebung versunken ist. Wahrscheinlich liegt beides nicht weit auseinander, das Vor-Sich-Hin- und Um-Sich-Herum-Schauen. Woher kommt der Blick, vom Subjekt oder von der Stadt und den Menschen darin?
Die Figur Sophie, wie sie von Schanelec geschrieben und von Eggert gespielt wurde, ist ganz Flaneuse, so kann man es mit Walter Benjamin fassen, geborgen und ausgesetzt zugleich: "Dialektik der flanerie: einerseits der Mann, der sich von allem und allen angesehen fühlt, der Verdächtige schlechthin, andererseits der völlig Unauffindbare, Geborgene" (Benjamin 1983). Für Benjamin ist der Flaneur eine Figur des Übergangs vom alten geschützten Wohnen in den eigenen vier Wänden zur Durchdringung von Wohnung und Straße. "Was kommt, steht im Zeichen der Transparenz", schreibt er 1929 und meint das modernistische Bauen.2 Der Film scheint diese Dialektik aufzugreifen, allein schon durch die Wahl des Ortes, denn Marseille ist nicht nur die Stadt der "Unité d’Habitation" von Le Corbusier (in der Schanelec während ihrer Recherchen gewohnt hat), sondern auch die ganz aktueller Unbehaustheiten, nämlich die der Migranten, die unangefochten von Wohnmaschinenvisionen heute die Straßen beleben oder auf ihnen überleben.3 Das ziellose Erlaufen der Stadt, zu dem das Fotografieren zugleich Anlass wie auch Erlaubnis liefert, ist hier vor allem eine Beschreibung von Sophies emotionalem Zustand; eine Beschreibung, die in diesem fast dialoglosen Teil des Films allein durch die Bilder und Töne erfolgt. Erst in dem Gespräch in der Bar wird die Dialektik von Straße und Wohnung, die eine von Fremd- und Geborgenheitsgefühlen ist, auch formuliert: Wie eine Ferienwohnung sei das eingetauschte Marseiller Appartement, sagt Sophie und was sie fotografiere, benennt sie erst ganz am Schluss des Films, nach langem Zögern: Straßen.
Fotografieren ist in MARSEILLE eine wiederholt ins Bild gesetzte Tätigkeit, darum liegt es nahe, ihn in einer Filmreihe "Fotografen und Fotografie im Spielfilm" zu zeigen. In MARSEILLE geht es allerdings nicht um die Bilder, die die beiden Fotografenfiguren – Sophie und Ivan – herstellen, auch nicht um die diversen Verwertungskontexte, Finanzierungen oder Auftragssituationen, in die das fotografische Medium eingelassen ist. Nichts, was sich in eine Dikursgeschichte der Fotografie rückbinden ließe, erfährt man über die fotografischen Aktivitäten. Dem Film kommt es nicht darauf an, die Fotografie in ihren ausfransenden Genrezuweisungen zu thematisieren, sie in ästhetisierende oder soziologisierende Register einzusortieren – das "übliche Blabla", wie es Roland Barthes genannt hat (Barthes 1989, 87). Darin mag eine gewissen Mythisierung eines intuitiven Sehens, einer Subjektivität des Blicks liegen – bei Barthes wie bei Schanelec – aber es gibt umso mehr Anlass, Schanelecs Film mit Barthes zu lesen, für den das Grundprinzip der Fotografie in ihrer Referenzialität zu liegen schien: Nach Barthes 'verweist' eine Fotografie nicht einfach auf ein reales Ding, so wie es in jedem anderen Repräsentationssystem auch möglich ist, sondern die fotografische Referenz ist dieses reale Ding 'gewesen' (vgl. Barthes 1980 86ff). Daher Barthes' Begriff des "So-ist-es-gewesen", mit dem er einen fotografischen Wirklichkeitsbezug benennt, der nicht als Effekt konstruiert ist, sondern eben NICHT konstruiert ist. Etwas bleibt während der Aufnahme am fotografischen Material haften, und es ist genau dieses "Haftvermögen" (Haverkamp 1993, 53), dem Barthes in seiner Betrachtung von Fotografien den Vorzug vor dem Studium der kulturellen Kodierungen gibt. Das geht nicht in Realismus oder Dokumentarismus auf – bei beiden handelt es sich um kodierte Repräsentationsweisen – das Fotografische charakterisiere sich vielmehr durch dieses zufällig Haftengebliebene, das sich in einem kompositorisch gerade nicht intendierten Detail zu erkennen gibt. In dieses Detail trägt sich die subjektive Fantasie des Betrachters ein und trägt ihn weg von dem, was das Bild zeigt – das ist es, was Barthes punctum nennt und schließt: "es ist nicht das Foto, was man sieht." Barthes folgend lässt sich in MARSEILLE eine um die Spezifika des fotografischen Bildtyps kreisende Bewegung ausmachen. Das schon auf der Ebene der Bilder und Töne; sie zeigen die Gesten und Handgriffe des Fotografierens, die Taktilität im Umgang mit fotografischen Prozessen: das Drücken des Auslösers, das Gucken durch den Sucher, das Zurückspulen des Films im Kameragehäuse, das Verschließen der Filmdosen, Bezeichnungen für Filmempfindlichkeiten sind zu hören, Werbeschilder über Fotoläden zu sehen, Abzüge werden mit Klebeband an der Wand angebracht, auf dem Tisch ordnend hin und her geschoben. Von digitalen Verfahren keine Spur; selbst das Warten vor dem Entwicklungslabor ist dem Film eine eigene Einstellung wert, denn Warten und Entwicklung ist nicht nur konstitutiv für das chemisch-analoge Verfahren (im Gegensatz zum Sofort der Digitalkamera), sondern auch für den Zustand der Figuren.
"Je suis …, je suis… je fais pas mal de photos" erklärt Sophie Pierre (Alexis Loret), dem Automechaniker, in einer Bar. Was sie 'ist', kann nicht ausgesprochen werden, weil es immer falsch wäre. So falsch wie die unverschämten Titulierungen, die der dazukommende Freund Pierres abschießt. Es geht ums Machen, "juste pour moi", nur für sich selbst und ohne speziellen Anlass. Sich freizuhalten von Erwartungen, Ansprüchen und einem Gegenüber. Das vielleicht nicht freiwillig, sondern weil es anders nicht möglich ist, anders nicht gekonnt wird. Nicht zu letzt geht es auch um das Offenhalten der Begegnung mit Pierre, der in dieser dichten Szene en face zu sehen ist, wie er verlegen an seinem Wild Turkey nippt und nicht so recht weiß, was zu fragen oder zu reden ist. Er meint sich schon preis gegeben zu haben, weil es sein Auto war, das er Sophie für einen Ausflug in die Berge geliehen hat und nicht das eines Freundes, wie er vorgab. (Und er hat Geld von ihr dafür genommen.) Sophie, die im Profil zu sehen ist, fragt in die Verlegenheit hinein nach dem Schmutz an seinen Händen. Ja, man könne ihn mit einer stinkenden Paste abbürsten, nur dass am Ende, die Bürste selbst wieder gereinigt werden müsse. Alles bleibt irgendwo haften, man wird die Ablagerungen an den eigenen Körper nicht los, kann sie nur auf andere Orte und Dinge übertragen. Aufgehoben im Dialog lässt sich hier das Prinzip der fotografischen Referenz auffinden, wie es Barthes beschrieben hat, und dieses Haftengebliebene ist denn auch sogleich Anlass für eine weitere Assoziation, die in die konkrete Szene und den Dialog ein anderes Motiv einwebt: Sophie erzählt eine Filmszene aus der Erinnerung, in der eine Frau sich täglich mit Zitronen abreibt, um den Fischgeruch von ihrem Körper zu bekommen. Sie sei beim Betrachten des Films ein wenig neidisch gewesen auf diese Frau, die ihren Körper von den Gerüchen und Ablagerungen einer unpassenden Tätigkeit, eines unpassenden Lebens zu reinigen weiß. Damit schiebt sich ein Subtext zwischen die beiden, denn nicht nur, dass es hier um den Wunsch geht, etwas von sich abzustreifen, im erwähnten Film – Pierre weiß, es ist ATLANTIC CITY (Louis Malle, 1979) – ist das Abreiben des Oberkörpers mit Zitronenspalten zugleich ein "Susanna im Bade"-Motiv: Die von Susan Sarandon gespielte Frau wird dabei aus einem gegenüberliegenden Fenster beobachtet, ist begehrenden Blicken ausgesetzt, die sie spürt, ohne ihnen nachzugehen. Pierre geht jedenfalls Sophie nach, die sich den Provokationen des dazugekommenen Freundes entziehend die Bar mit einer unverbindlichen Verabschiedung verlassen hat. Dass sie keine Touristin, keine Jungfrau, keine Alkoholikerin sei, kommt ihr nicht über die Lippen, zumal nicht in einer Sprache, die ihr fremd ist. Was sich zwischen Sophie und Pierre entspinnt, verfolgt der Film nicht weiter.
Die verschiedenen Rezensenten haben diese Auslassung mit eigenen Fantasien gefüllt, die von "sie haben miteinander geschlafen" bis zu einem enttäuschten "nichts ist passiert" reichen. Ist da etwas ausgelassen worden, den Zuschauern Handlungsrelevantes vorenthalten worden? Oder ist das, was wir gezeigt bekommen, alles was passiert ist (hier: eben nichts)? Man könnte von einer elliptischen Struktur sprechen, die den Film kennzeichne, aber das würde bedeuten, dass es ein Ereignis zwischen Sophie und Pierre gegeben habe, das an einer anderen Stelle des Films erzählerisch nachgeliefert würde. Dass die Figuren im Off weiter lebten und handelten, legt der Film aber gar nicht nahe. Zeiträume bleiben unmarkiert, Begebenheiten werden nicht erzählt, auch (bis auf das Ende) nachträglich nicht. Vielmehr scheinen wir es mit einer Folge von Szenen oder Bildern zu tun zu haben, deren Verbindung untereinander wohl eher als ein Haftungsverhältnis beschrieben werden kann, eher als eine Serie denn als eine Geschichte: Es gibt einen Übertrag von einem Bild ins nächste, etwas bleibt haften, lagert sich ab und tritt in einer späteren Einstellung wieder auf; so wie der Schmutz an den Händen. Oder wie die Mütze in Berlin.
Sophie, der notorisch im Gehen Essenden, dieses Mal Pommes frites, wird von einer Fast-Food-Restaurant-Angestellten eine Mütze bis an die Straßenkreuzung nachgetragen. "Kann das sein, dass Sie das letzte Mal hier was vergessen haben?", sind die ersten deutschen Worte des Films. Die Frau kann sich an Sophie erinnern, aber diese nicht daran, wo sie die Mütze hat liegen lassen. Die unerwartet wieder ins Leben getretene Mütze ist gleichermaßen Willkommensgeschenk wie Zeugnis eines Verharrens, einer gewissen Klebrigkeit. Sophie ist zurück in Berlin, die Dinge kehren zurück, aber eigentlich soll sich etwas ändern. Die Unbeschwertheit ist dahin, die in der letzten Marseiller Szene, dem Besuch einer franco-arabischen Disko mit Pierre und seinen Freunden, markiert ist; eine Szene, deren Bewegt- und Ausgelassenheit das Angespannte und Verhaltene der anderen noch herausstreicht. Zumindest Ivans Geburtstag hat sie vergessen.
Das Beziehungsgeflecht, in das Sophie eingewoben ist, entfaltet sich im zweiten Teil des Films: Ivan (Devid Striesow) ist der Freund ihrer Freundin Hanna (Marie-Lou Sellem), die gemeinsam mit dem siebenjährigen Anton (gespielt von Angela Schanelecs Sohn Louis) leben. Sophie besucht Hanna, hütet Anton und fühlt sich auf eine kaum wahrgenommene und wahrnehmbare Weise zu Ivan hingezogen. In diesem Konstrukt ist Sophies Position prekär, sie ist verwoben und gleichzeitig entbehrlich. In Berlin hat Sophie einiges liegengelassen, und von dort hatte sie auch einiges nach Marseille mitgenommen, was sie nicht hat loswerden können. Ohne dass jemals über den einen Ort am anderen gesprochen würde, ist Marseille in Berlin anwesend und Berlin wird zum Off der Szenen aus Marseille.
In einem 1980 erschienenen und gerade wiederveröffentlichten Aufsatz, entwickelt der Filmtheoretiker Christian Metz (Metz 2000) einige Gedanken zum filmischen und fotografischen Off. Der narrative Film suggeriere, so fasst es Metz zusammen, dass die Figuren auch außerhalb des Bildausschnitts weiter handelten und lebten. Für gewöhnlich kann man als Zuschauer von der Identität der Figuren und Orte ausgehen, weil man im Verlauf der Filmhandlung ein Wissen über sie erlangt habe, das sich über die konkret gesehene und gehörte Filmszene hinaus ausbreite. Diese Persistenz der Dinge und Figuren, der Räume und Orte werde erstens durch Bewegung erzeugt – durch die Bewegung der Kamera innerhalb eines als größer angenommenen Handlungsraums und durch die Bewegung der Einzelbilder, aus denen der Film zusammengesetzt ist. Zweitens seien es die akustischen Elemente des Films – die Gespräche, die Musik und die Geräusche –, die einen Eindruck von Kontinuität und Identität des Gezeigten suggerieren.
Schanelec und der Kameramann Reinhold Vorschneider gehen mit beiden Elementen, Bewegung und Sound, äußerst sparsam um: Die Kamera ist fast ausschließlich statisch, Fahrten sind rar. Die Soundebene des Films entwickelt sich nur aus O-Ton; es gibt keine Musik, die die Bilder miteinander verschweißen würde, stattdessen kommt sie allein aus der Situation heraus und das abgesehen von den gesungenen Liedern nur während des Besuchs der Disko. Die Suggestion eines filmischen Off – das Ausgeblendete wäre zwar außerhalb des Blickfeldes, aber nicht außerhalb des Films – wird noch von einer ganzen Filmfigur, der französischen Wohnungstauschpartnerin Zelda, durchkreuzt: Sie war nie in Berlin, und niemand kümmert sich weiter um ihr spurloses Verschwundensein, kein Anlass für Nachforschungen. Es scheint als hätten die Figuren kein Leben außerhalb des Bildausschnitts, zumindest wird kein Wissen über dieses Ausgeblendete nahe gelegt. Was im Leben passiert, ist unabsehbar und daher im Film auch uneinsehbar.
MARSEILLE arbeitet in dieser Hinsicht dem Fotografischen zu. Denn das Eigentümliche des fotografischen Bildes ist, dass es streng genommen über kein Off verfügt, jedenfalls über kein diegetisches Off: Alles was sich während des Auslösens außerhalb des Bildausschnitts befand, wird für immer absent bleiben. Die Betrachter einer Fotografie können von dem, was außerhalb des Ausschnitts gewesen ist, nichts wissen, weil das 'stille' – nämlich ton- und bewegungslose – fotografische Bild darüber keine Auskunft gibt. Dennoch, so Metz, verfüge auch die Fotografie über ein Off, oder genauer: einen Off-Effekt, der sich dann öffnet, wenn Fantasien im Betrachter mit Bilddetails gewissermaßen paktieren. Was im Inneren des fotografischen Bildausschnitts liege, würde, so Metz, "heimgesucht … vom Gefühl seines Außens und seiner äußeren Begrenzung: der Vergangenheit, dem Verlassenen, dem Verlorenen …" (Metz 2000, 352).4 Ein Gefühl, eine Fantasie, eben kein Wissen, nichts worauf man schließen kann.
Metz bezieht sich in seinen Überlegungen auf einen Aufsatz des Filmtheoretikers und Drehbuchautors Pascal Bonitzer, in dem dieser dem "verstofflichten Off" [hors-champ étoffé] des Films ein "subtiles Off" [hors-champ subtil] der Fotografie gegenüberstellt (Bonitzer 1980). Und Bonitzer tut dies wiederum im Anschluss und im Gedenken an Roland Barthes, dessen Begriff des "subtilen Off" er damit aufgreift und für die Filmanalyse operabel zu machen sucht.5 Für Barthes ist das subtile Off der Fotografie eine Facette des punctum, wenn sich nämlich Fantasien an ein Bilddetail heften, ihm etwas hinzufügen, womöglich auch einen Erzählraum öffnen, der das Bild verlässt. Aber, so fragt Barthes: "Füge ich auch dem Bild des Films etwas hinzu? Ich glaube nicht; dafür bleibt keine Zeit: vor der Leinwand kann ich mir nicht die Freiheit nehmen, die Augen zu schließen, weil ich sonst, wenn ich sie wieder öffnete, nicht mehr dasselbe Bild vorfände; ich bin zur ständigen Gefräßigkeit gezwungen …" (Barthes 1989, 65). Bonitzer insistiert. Er möchte sich mit dem ihm gegenüber kundgetanenen Widerstand gegen das Kino – "je 'résiste' le cinema" habe Barthes einmal zu ihm gesagt – nicht zufrieden geben. Und in aller Ehre möchte Bonitzer noch ein Argument nachliefern, nämlich dass doch auch der Film über ein subtiles Off verfügen könne, eines, dass sich von der Suggestivität des Filmbildes, dessen narrativer Klebrigkeit löse, wenn nicht immer, dann doch zuweilen, in den Filmen Antonionis und Godards, auch Dreyers beispielsweise. Verehrter Roland Barthes, so klingt die an den mittlerweile Gestorbenen gerichtete Rede, finden Sie nicht auch, dass es Filme gibt, die ein subtiles also fotografisches Off erzeugen, mit dem sie die Ordnung des Narrativen durcheinander bringen, diese flackern und wanken lassen? Er hätte Barthes womöglich nicht überzeugen können, denn diesem ging es ja gerade um die Differenz zwischen Film und Fotografie. Aber die Überlegung, den Film vom Fotografischen her zu denken, mag gerade für MARSEILLE ertragreich sein. Denn die filmische Struktur selbst ist hier darauf angelegt, das Bild noch 'da' sein zu lassen, wenn man die Augen wieder öffnet. Ohne dass MARSEILLE antinarrativ wäre, wohl eher dysnarrativ, gibt es keine Geschichte, alles kommt immer wieder, wiederholt sich, insistiert.
Sophie jedenfalls ist eine Weile nicht mehr zu sehen. Sein Thema entwickelt der Film nun über die Beschreibung des befreundeten Paares, dessen Leben Sophies Komplementär ist und das sie für glücklich oder geglückt hält, wie sie es in dem einzigen vom Gedämpften ins Aggressive überschwappenden Dialog ausspricht. Hanna und Ivan gehen so genannten interessanten Berufen nach – sie ist Schauspielerin, er ebenfalls Fotograf –, sie bewohnen eine modernistische Wohnung und haben eine Putzfrau. So wird es jedenfalls in einer Totalen auf das lichtdurchflutete Schlafzimmer des Paares vorgestellt: die Putzfrau wischt durchs Zimmer, Geld wird für sie bereit gelegt; Hanna zieht sich an und artikuliert ihre Sehnsucht nach einem Hausarzt, der ihr gesamtes emotionales Leben begleiten würde, während Ivan telefonisch seine Verspätung ankündigt (er ist es, auf den man wartet) und im Hintergrund ein Mechaniker das Auto repariert. Dabei wechselt das Licht zwischen sonnig und verschattet, wie es die Bäume und Wolken in das Appartement einfallen lassen, dessen großen, sich ins Grüne öffnenden Fensterflächen zwischen Außen- und Innenraum wiederum keine Grenze ziehen oder die Grenze verwischen. Die modernisitsche Architektur ist hier mehr als stilsichere Kulisse. Ihre Transparenz-Dogmatik lässt immer auch die Frage offen, wo und wie man sich denn nun überhaupt noch verbergen kann, wie ein Geheimnis hüten, einen Rückzug aus den Blickachsen organisieren? Gleichwohl er immer Zukünftigkeit beansprucht hat, ist der architektonische Modernismus dennoch nicht mehr auf der Höhe der Zeit, nicht der heutigen Zeit, haben sich doch seine Familien- und Gemeinschaftsentwürfe überlebt, ohne dass in Sicht wäre, wie man denn nun leben könnte. So allgemein das klingt, ist das als Frage auszumachen, die MARSEILLE und die anderen Filme Schanelecs durchzieht: Nah am eigenen Milieu sind die Figuren und Orte der Regisseurin konzipiert, und sie fragen nach der Lebbarkeit von Paarbeziehungen, den Verbindlichkeiten von Eltern- und auch Kindschaft, nach der Durchsetzbarkeit eigener Wünsche und Pläne, wenn man denn überhaupt weiß, welche das sind. Nicht zu letzt spielt die Notwendigkeit von Geldhaben bzw. -verdienen immer wieder in die Dialoge hinein.
So sind auch die zwei aufeinander folgenden Szenen, die Ivan und Hanna in ihren beruflichen Tätigkeiten zeigen, sowohl im Hinblick auf Erfolghaben und Selbstbemeisterung zu verstehen als auch als Verweise auf die strukturelle Disposition des Films zwischen Theater und Fotografie. Beide Szenen, vergleichbar inszeniert, fallen seltsam aus dem Film heraus; das schon allein, weil zunächst keine der bisher eingeführten Figuren zu sehen ist.6
Erst folgen wir der Herstellung von Portraitaufnahmen: In einer Werkshalle fotografiert Ivan Arbeiterinnen vor einem aufgespannten neutralen Hintergrund. Seine sachten Anweisungen kommen aus dem Off. Die Frauen rücken sich zurecht, sind unbehaglich und reagieren mal gesprächig, mal verstockt auf die Situation. Ihr Posieren ist die Vorwegnahme des Bildes, von dem sie meinen, dass es von ihnen gemacht werden soll, daher die Rückfragen: wird man das Namensschild auf dem späteren Bild sehen, soll das Haarband abgenommen werden? Von Demi Moore ist in dieser heterosexuellen Matrix unvermittelt die Rede sowie von Gefallenwollen, von den Blicken anderer Männer, die anders fotografieren. Wie anders fragt Ivan nicht.
Dann eine Szene aus einem Theaterstück, in dem Hanna in der Rolle eines Dienstmädchens zwischen einem sich aneinander langweilenden Paar auftaucht. Es handelt sich um die Probe eines Strindberg-Stück (Totentanz, 1901, das gibt aber erst der Abspann zu wissen), in dem Hanna nur einen Satz zu sagen hat, der ihr in der vom abermals aus dem Off sprechenden Regisseur angewiesenen dritten Wiederholung misslingt. Sie fügt ein 'wirklich' ein: "ich möchte wissen, was die gnädige Frau sagen würde, wenn ich 'wirklich' ginge". Ein Versprecher, der sinnfällig wird für die Frage, die sie okkupiert.
Was dem Fotostudio die Pose, ist dem Theater die Rolle. In beiden Räumen gibt es eine Bühne, auf die sich die Blicke richten. Die Personen treten auf, sie müssen auf je unterschiedliche Weise in eine Rolle finden. Das geht einher mit einer gewissen Erstarrung: Beim Fotografiertwerden mit einer Erstarrung, die man als Antizipation des fotografischen Bildes bewerten kann oder auch, wie es Craig Owens tut, als Erstarrung, um dem mortifizierenden Kamerablick zu entgegnen, der den Körper zum Bild werden lassen wird (Owens 2003). Auch die fotografische Pose ist in diesem Sinne theatralisch, selbst dann, wenn sie 'natürlich', d.h. nicht gekünstelt sein soll, handelt es sich doch immer um Angleichungen an ein bereits existierendes Bild. Die Kadrierungen greifen diesen Bühneneffekt in beiden Szenen auf, nicht nur durch die Stimmen aus dem Off, sondern auch durch die Unbewegtheit der Kamera, die die Rahmungen des Fotobildes bzw. der Theaterbühne doppelt. Damit werden auch die Kadrierungen der anderen Einstellungen als bühnenhafte oder fotografische Ausschnitte lesbar: bühnenhaft, insofern die Personen in einem statisch umrissenen Raum agieren, aus ihm hinaus und in ihn hineintreten; fotografisch, indem der Raum ausgerichtet wird an dem, was vorhanden ist, vor allem an den Bedingungen des Lichts.
Es nagt ein Zweifel. Was gefügt scheint, ist immer in Gefahr aus den Fugen zu geraten, die Figuren können sich in ihrem Leben nicht einrichten, bzw. sich in dessen Eingerichtetsein nicht einfügen. Soll man gehen oder bleiben? Oder genauer: Kann man 'wirklich' gehen, kann man 'wirklich' bleiben? Das sind eben keine privaten Fragen irgendwelcher etablierter Enddreißigjähriger. Vielmehr ragen sie über Privatheit hinaus, insistieren den ganzen Film hindurch – und was Schanelec betrifft nicht nur durch diesen. Ohne auf eine Antwort auch nur zuzusteuern, werden sie immer wieder von verschiedenen Figuren in verschiedenen Tonlagen gestellt.
"Ivan, liebst du Hanna?", fragt Sophie in einem Akt der Selbstüberwindung und bekommt keine Antwort, will auch keine mehr, denn da kommt das Kind herein mit einem Pflaster für Sophies Schnittwunde an der Hand. Verletzungen, Unfälle, das Hereinbrechen von Zufällen ermöglichen oder verhindern Entwicklung. Die weiblichen Figuren, von denen die eine angespannt viel redet, Hanna, und die andere, Sophie, wenig und französisch spricht, befinden sich im Prozess der Entscheidungsfindung, mit der Betonung auf Prozess, nicht auf Entscheidung. Welche Rolle oder Pose, könnte man erfüllen und wie die, die man innehat, verändern? Wissend, dass dies nicht einfach so, qua Willensakt, zu bewerkstelligen wäre. Sophie zumindest entscheidet sich wieder nach Marseille zu fahren, wenn auch nur "vielleicht für länger", wie sie sagt. Vielleicht für sechs Monate, wie die andere Sophie aus dem vorherigen Film von Schanelec, MEIN LANGSAMES LEBEN, die aus Rom zurückkam, um festzustellen, dass sie die ganze Zeit gleichzeitig gelangweilt und aufgeregt war, immer in Erwartung auf eine Begegnung, ein Ereignis. Tatsächlich kommt ein Ereignis, etwas Unvorhersehbares Sophie in Marseille zu Hilfe, die Verhaftetheit an ihr Berliner Leben "vielleicht für länger" schwinden zu spüren. Etwas passiert, ein Zu- oder Unfall.
Sophie wird bei ihrer nächtlichen Ankunft in Marseille überfallen, ein Ereignis, das sie auf der Polizeiwache einem abermals nur stimmlich in der Szene befindlichen Kommissar rekonstruierend erzählt.7 Es sind immer die männlichen Autoritäten, die aus dem Off sprechen, die anwesend und gleichzeitig abwesend sind. Als Monolog, vielleicht auch innerer Monolog8 , erzählt sie, wie ein Flüchtiger sie mit einer Pistole bedroht und genötigt hätte, die Kleider zu tauschen, damit sie als er durchginge. Sie selbst wäre aufgrund ihres sehr schweren Gepäcks nicht in der Lage gewesen zu fliehen. Sie beginnt zu weinen, wechselt vom Deutschen, das von einem Dolmetscher übersetzt wird, ins Französische, wie um wieder einen Anfang machen zu können. Nach Verlassen des Polizeireviers setzt sich erstmals auch die Kamera in Bewegung, wenn sie in einer parallelen Fahrt Sophie auf dem Weg zum deutschen Konsulat folgt. Diese hat nun, entlastet, weder Gepäck noch Kameratasche bei sich und trägt ein ihr von der Polizei ausgehändigtes gelbes Kleid. Entfernte Geräusche unterlegen die letzten Einstellungen des Films. Zu sehen ist das Meer, vor allem ein sich allmählich verdunkelnder Himmel und in diesem Bild Sophie; das ist bei aller Referenz auch eine Reverenz: an das Meer in Godards Le Mépris und die "schöne gelbe Farbe".9
Also, "was will Marseille von der Fotografie?" Da sind zunächst die Fotografenfiguren: Einerseits der männliche Operateur, der die weibliche Belegschaft einer Fabrik vor der Kamera versucht in Pose zu bringen oder vielmehr deren Posen aufzubrechen – andererseits die weibliche Fotografin, die in einsamen Wanderungen ihre Kamera auf Straßen und städtische Landschaften richtet. Einerseits eine in die Erfordernisse einer Auftragsarbeit (so ist zumindest zu vermuten) eingelassene Tätigkeit, flankiert von einer Assistentin und einer fachgerechten Studioausstattung – andererseits die Frau mit der Kameratasche, die von Plätzen verwiesen wird, hier dürfe man nicht fotografieren, deren Ernsthaftigkeit noch vor ihr selbst in Frage steht. Einerseits der einfühlende Inszenator, der aus den Portraitierten Charaktere zu machen versteht – andererseits das intuitive, findende Fotografieren. Das sind nur zwei der ausufernden Tätigkeitsprofile, die mit der Fotografie verbunden sind, zwei allerdings, deren mythischen Überformungen die Fotografie- und Fotografenrezeption geprägt haben und denen auch Schanelec eher zu folgen als dass sie sie zu durchkreuzen scheint. Empfindsame Fotografenfiguren tauchen auch in anderen ihrer Filme auf (MEIN LANGSAMES LEBEN).
Auf einer zweiten Ebene, wäre die Frage nach der Verbindung von Kino und Fotografie anders zu stellen: "was 'macht' die Fotografie mit dem Kino?" könnte sie lauten. Denn in MARSEILLE wird das Fotografische vor allem relevant auf der Ebene des Filmischen selbst. So dass die Fotografenfiguren performativ für die fotografische Organisation des Films einstehen. D.h. MARSEILLE thematisiert weniger die Fotografie, als dass der Film gewisse fotografische Dispositive in sich aufgenommen hat. Der tableauxartige Aufbau der Einstellungen lässt sowohl auf der Bild- wie Tonebene etwas sich ereignen: ein Lastwagen fährt durchs Bild, Nebengeräusche bestimmen den Ton. Das filmische Bild zeichnet auf, es registriert, was zu sehen ist, ohne Erklärungen hinzuzufügen. Bis in die Verbindungen zwischen den einzelnen Szenen hinein ist das fotografische Dispositiv leitend, insofern diese Verbindungen eher seriell als elliptisch angeordnet sind und ständig ein Off evozieren, das weniger diegetisch angelegt ist, als subtil, wie die vergessene Mütze, eine verschwindende Figur oder eine erzählte Filmerinnerung. An die Seite der Geschichte tritt der Zufall, an die der Dramaturgie die Referenz, an die der Erklärung das Zeigen. Und das nicht nur aufgrund formaler Entscheidungen – wogegen auch nichts einzuwenden wäre –, sondern gerade die fotografische Organisation macht den Schwebezustand der Beziehungen spürbar, die Prozesshaftigkeit von Entscheidungen greifbar.
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1989 (La chambre claire. Note sur la photographie (1980), Paris 2004).
Benjamin, Walter: Die Wiederkehr des Flaneurs, in: Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin, Berlin 1984, S. 277-282.
Benjamin, Walter: Das Passagenwerk, 2 Bde. (1935-1940), Frankfurt am Main 1983.
Bonitzer, Pascal: Le hors-champ subtil, in: Cahiers de Cinema, No. 311, Mai 1980.
Haverkamp, Anselm: Lichtbild. Das Bildgedächtnis der Photographie: Roland Barthes und Augustinus, in: Memoria. Poetik und Hermeneutik XV, München 1993, S. 47-67
Metz, Christian: Foto, Fetisch (1980/85), in: Amelunxen, Hubertus von (Hg.): Theorie der Fotografie IV 1980-1995, S. 345-355.
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Eschkötter, Daniel: Nichts der Provokation und Alles der Sache, in: http://www.filmtext.com
Knörer, Ekkehard: Angela Schanelec: Marseille, in: http://www.jump-cut.de
Schanelec, Angela: Marseille 1—10.März, in: new filmkritik für lange texte, März 2002, http://filmkritik.antville.org
Vogl, Joseph: Schöne gelbe Farbe. Godard mit Deleuze, in: Balke, Friedrich /Vogl, J. (Hg.): Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 252-265.
Cinetramp 2004: Es geht mir darum, die Schönheit zu sehen – in den Dingen oder in den Menschen. Filmemacherin Angela Schanelec im cinetramp-Gespräch, cinetramp 17.12.2004, http://www.cinetramp.de