Fotografie im Musikvideo
Mein Beitrag wird vornehmlich von den veränderten Bedingungen der Fotografie durch digitale Produktionsweisen handeln. Veranschaulicht werden diese am Beispiel des Musikvideos bzw. des Musikclips, der mir in besonderer Weise geeignet scheint, die Veränderungen im Gebrauch und dem Einsatz von Fotografie in einem populären – postfotografischen – digitalen Kontext zu veranschaulichen. Ich werde zunächst durch einige Beispiele, die schlaglichtartig die Verwendung der Fotografie im Musikvideo illustrieren, zeigen, dass Fotografie seit den ersten Versuchen des Genres ein wesentliches Mittel bzw. auch eine Praxis für die Gestaltung von Musikclips ist und war.
Als ein frühes Beispiel möchte ich zuerst den Kurzfilm NOW! von Santiago Alvarez, dem großen kubanischen Dokumentarfilmer, nennen. Dieser Film wird aus anderem Kontext bekannt sein. Er ist seit seiner Produktion 1965 auf vielen Festivals gezeigt und ausgezeichnet worden:
Ich möchte hier nicht weiter auf die politischen Implikationen des Kurzfilms eingehen, diese sind sicher hinreichend besprochen worden. Mich interessiert der Gebrauch der Fotografie im Kontext von Musik und Film. Alvarez führt die Möglichkeiten der Benutzung von fotografischen Bildern im filmischen Kontext virtuos vor, sowohl im formalen wie im inhaltlichen Sinne. Dieser Kurzfilm kann als ein erster Musikclip verstanden werden, da er den Rhythmus, die Länge des Songs und seinen Inhalt zum Ausgang der filmischen Gestaltung macht. Dies geschieht kurze Zeit nach der Entstehung der im Allgemeinen als früher Vorläufer des Musikclips geltenden Anfangssequenz des Beatles Films A HARD DAY'S NIGHT. (Als weiteres Beispiel für den Einsatz von Fotografie im Musikfilm dieser Zeit sei auf Eleanor Rigby aus dem Film YELLOW SUBMARINE verwiesen).
Diese Beispiele sollen veranschaulichen, wie die Fotografie in der frühen Entstehungsphase des Musikclips verwendet wurde: in erster Linie als Verweis auf eine außerfilmische Realität, auf ein Ereignis, einen Ort etc. Wichtig ist die Form der klassischen Montage- und Schnitttechnik, im Fall von Eleanor Rigby kombiniert mit Collage und Animationstechniken, die sich aber von der zu beschreibenden Technik des digitalen Compositing stark unterscheidet. Darüber hinaus wird hier eine wichtige ästhetische Qualität des fotografischen Bildes im Musik-Film deutlich: Es lässt sich – einfach gesagt – gut auf den Rhythmus der Musik schneiden. Dies ist sicher einer der ursprünglichen Gründe, warum das stehende fotografische Bild in der Gestaltung von Musikvideos immer wieder genutzt wurde, wichtig ist aber auch die Nähe zu einem authentischen Material – als Spur der Realität und als Verweis auf ein vergangenes Ereignis. Schon in diesen Beispielen wird deutlich, dass die Fotografie als ein Medium im Medium auftritt und auf einen außermedialen Zusammenhang bzw. Inhalt verweist.
Ich möchte hier aber nicht die Geschichte der Fotografie im Musikvideo nachzeichnen. Mein Anliegen ist es, die Verwendung von fotografischen Bildern im zeitgenössischen Musikvideo in den Kontext des postmodernen und postklassischen Films zu stellen und hier gesondert auf die Veränderungen der Produktion und der Wahrnehmung durch die Neuen Medien einzugehen.
Das zeitgenössische Musikvideo ist mit dem postmodernen bzw. postklassischen Mainstream Kino verwandt, es gibt vielfältige Bezüge: In beiden Fällen handelt es sich um Produkte, die unter dem Paradigma einer Oberflächenkultur stehen. Sie berufen sich nicht auf Unterschiede von Pop-Kultur und E-Kultur. Auch Gattungs- und Genregrenzen werden nebensächlich. Die uns gegenübertretenden Oberflächen werden in verstärkter Weise durch digitale Produktionsweisen bestimmt. Oberfläche meint hier einerseits eine Konzentration auf die visuelle Erscheinung des Produkts – die Ästhetik der Oberfläche – und andererseits die flache Selbst- und Mediumreflexivität der Produkte, wie Jan Distelmeyer in seinem Aufsatz "Die Tiefe der Oberfläche" über das postklassische Kino bemerkt. (vgl. Distelmeyer 2002: 73).
Das Musikvideo ist oft ästhetisches Vorbild für die Bildsprache des Kinos. Dies gilt aber auch umgekehrt, wobei sich beide nur an die Oberfläche des jeweils anderen erinnern. Als Beispiel für Letzteres sei hier kurz auf die Videos von Madonna verwiesen: Madonna in MATERIAL GIRL als Marilyn aus GENTLEMEN PREFER BLONDES – in EXPRESS YOURSELF hingegen wird METROPOLIS von Fritz Lang visuell zitiert.
In der jüngeren Geschichte des Musikclips waren es im Besonderen zwei Ereignisse, die für das Thema relevant sind: Als wesentlicher Schritt zum Genre Musikvideo bzw. Musikfernsehen dürfte wohl BOHEMIAN RHAPSODY von Queen 1975 angesehen werden, da dies der erste mit Videotechnik produzierte Musikclip war. Dies senkte die Produktionskosten erheblich und konnte zu einer massenhaften Erzeugung und Verbreitung von Videoclips führen. Spätestens als im August 1981 MTV auf Sendung ging, etablierte sich das Musikvideo endgültig als eigenes Genre. Nicht umsonst war der erste auf MTV gespielte Titel: VIDEO KILLED THE RADIO STAR (The Buggles). Als weiteres bedeutsames Ereignis für die hier zu beschreibende Entwicklung ist die Einführung der QuickTime-Technologie 1991 (Standard zur Darstellung von digitalem Video auf PC's) für den Apple Computer anzuführen. Die Bilder lernen 100 Jahre nach der Erfindung des Kinos erneut das Laufen:
"[T]he introduction of Quicktime in 1991 can be compared to the introduction of the Kinetoscope in 1892: both were used to present short loops, both featured images approximately two by three inches in size, both called for private viewing rather than collective exhibition. The two technologies even appear to play a similar cultural role. If in early 1890s the public patronized parlors where peep-hole machines presented them with the latest marvel – tiny, moving photographs arranged in short loops – exactly a hundred years later, computer users were equally fascinated with tiny QuickTime movies that turned a computer into a film projector, however imperfect. Finally, the Lumières first film screenings of 1895 that shocked their audiences with huge moving images found their parallel in 1995 CD-ROMs in which the moving image finally fills the entire computer screen (for instance Johnny Mnemonic). Thus, exactly a hundred years after cinema was officially 'born', it was reinvented on a computer screen". (Manovich 2001: 313)
Aktuell arbeitet eine überraschend große Anzahl von Musikvideos direkt mit fotografischen Bildern bzw. Fotografen und Fotografie als Teil der Handlung. Hier wird Fotografie als Praxis gezeigt, als Beweismittel, als visueller Index, oft nostalgisch oder als Reminiszenz an die zentralperspektivische Konstruktion des Filmbildes, als Starfotografie etc. Dennoch – und vielleicht gerade in jüngster Vergangenheit – wird die Fotografie verstärkt zur Erzeugung ästhetisch eigenständiger Bildwelten und der Präsentation in erster Linie postfotografischer Praxis verwandt. (Beispiele sind hier u.a. Röyksopp: EPLE, The Streets: FIT BUT YOU KNOW IT und Interpol: PDA.) In diesem Bereich haben vielleicht Maintitle- und Trailerdesign des Mainstream-Kino die größte ästhetische Nähe zum Musikvideo. Es wird wie im Musikvideo eine extrem reflektierte und elaborierte Oberflächlichkeit zelebriert, in der das Visuelle und das Akustische eine nahezu gleichberechtigte Einheit herstellen.
Losgelöst von Produktionszwängen (Kosten etc.) betrachtet, ist ein evolutionärer Vorteil des Musikvideos gegenüber dem Spielfilm der wohl wesentlich kürzere Produktions- und auch Wahrnehmungszyklus – überhaupt die Komprimierung des Faktors Zeit – und die damit einhergehende massenhafte Erzeugung von Clips. Diese massenhaft erzeugten Produkte geben nur noch dem eingeweihtesten Spezialisten – dem Dauer-MTV-VIVA-Web-Zuschauer – die Selbstreferenzialität des Mediums in Gänze zu erkennen. Dem Umstand der inflationären Produktion ist es zu verdanken, dass im Video Experimente gemacht werden, die schnell wieder in Vergessenheit geraten, ebenso wie visuelle Erfindungen, die später Einzug in die Film- und Technikgeschichte finden. Als Beispiel möchte ich Radiohead/ STREET SPIRIT + Rolling Stones/ LIKE A ROLLING STONE anführen.
Kombiniert man die Spezialeffekte der beiden Videos, entsteht ein spektakuläres visuelles Ereignis, dass später durch MATRIX stilbildend für ein ganzes Genre wurde. Das Video von Michel Gondry wendet zum ersten Mal für ein großes Publikum das Prinzip der synchronen Aufnahme derselben Person aus verschiedenen Perspektiven an: eine Art umgekehrtes Panoptikon. Die simultane Allansichtigkeit in fotografischen Bildern wird durch Sequenzierung (Aufteilung der Bilder auf eine Sequenz) zum filmischen Ereignis, und dieses Ereignis erzeugt das stehende Bild eines dreidimensionalen Körpers im Verlauf der Zeit: Ein Paradox gänzlich unterschieden von den 3dEffekten, die durch stereoskopische Bilderzeugung hergestellt werden, in der Wahrnehmung aber vergleichbar mit dem Umschreiten einer fotografischen Skulptur sind (z.B. MOVIA - UK INSTANT LOTTERY). Hier wird also eine neue fotografische Technik erfunden, die in direktem Zusammenhang mit der populären Wiederkehr eines alten Mediums, dem Panorama, steht.
Die Erfindung dieser simultanen Fotografie geht unter anderem zurück auf zwei Personen, die gleichermaßen die Urheberschaft beanspruchen: den Briten Tim Macmillan und den US-Amerikaner Dayton Taylor. Die Technik ist in der Frühphase analog, bekommt ihren eigentlichen Stellenwert aber erst durch digitales Compositing und heute auch durch digitale Aufnahmetechnik. Dayton Taylor schreibt zu seiner Erfindung, dem "Frozen Time Effect":
"I knew it had to do with time, specifically the illusion of time captured by motion pictures, and I knew that scenes recorded with my camera were going to trick the eye into thinking that time was passing (because of the motion of point-of-view), when in fact it was not." (Taylor 1996)
Bemerkenswert ist, dass sich Dayton Taylor – heute Inhaber etlicher Patente – mit der Idee für seine Erfindung auf Chris Markers LA JETÉE und die Special Effects von ILM in Stephen Spielbergs TEMPLE OF DOOM (Indiana Jones und der Tempel des Todes) bezieht.
"Influenced by Marker, who had made La Jetee with a still camera, I took still pictures and imagined the flow of time before and after the pictures were taken. Taking further cues from ILM's work on Temple of Doom, for which the special effects company used still cameras to record miniatures frame-by-frame, I used my still camera to animate motion picture scenes. I turned my motor-driven Nikon F3 into a movie camera, shot scenes with it, and then turned it into a film projector so I could play the scenes back on my wall." (Taylor 1996)
Tim Macmillan, der Malerei studierte und schon in den achtziger Jahren mit derartigen Kameras experimentierte, bezieht sich interessanterweise auf den Kubismus, also eine explizit nicht zentralperspektivische Referenz. Ein weiterer Vorteil für ausgefallene visuelle Experimente im Musikvideo ist das zugrunde liegende, wie auch immer geartete Musikstück. Alle Formen der visuellen Gestaltung/Erscheinung nehmen von hier ihren Ursprung. Das ist augenfällig. Da ich über Popmusik spreche, ist das narrative Moment in jedem Fall schon vorhanden und kann daher durch die Visualisierung konterkariert werden, ohne seine innere Kohärenz/Logik zu verlieren (z.B. Autechre: SECOND BAD VILBEL).
Mit der Ausdifferenzierung der digitalen Produktionsweisen hat im Musikvideo in den letzten Jahren ein starke Veränderung des Gebrauchs von fotografischen Bildern bzw. der Narrativierung fotografischer Handlung stattgefunden, und die Fotografie ist zu einem der tragenden Elemente in der Bildsprache des Clips geworden. Hierfür möchte ich zwei Gründe anführen:
1. Compositing- und Schnitt-Software, Motion Capture und multiperspektivische Kameraensembles sowie 3d-Animation haben einen direkten, unübersehbaren Einfluss auf die Ästhetik des Musikvideos und die Verwendung des Materials. Die gleichwertige Verfügbarkeit unterschiedlichster Medien (Daten) in ein- und derselben Software, man könnte auch sagen: Repräsentation, hat einen nicht zu verkennenden Einfluss auf die veränderte Bilderzeugung und -verarbeitung und dementsprechend auch auf die Gestaltung. Ein einfaches Beispiel ist der Schnitt, der sich gerade im Musikvideo stark an der visuellen Repräsentation der Tonspur orientiert. Die Hüllkurve der Audiospur ist für jeden Cutter, der mit digitalen Videoschnitt- bzw. Compositingprogrammen arbeitet, ein entscheidender Orientierungsfaktor (z.B. Sensorama: STAR ESCALATOR).
Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Gestaltung ist im Compositing die Verarbeitung von Medienobjekten in Ebenen (Layers), die eine Bearbeitung einzelner Objekte in unterschiedlichen Dimensionen zulässt: Zeit, Raum und alle Arten von Eigenschaften. Es ist möglich, Objekte wie Fotos, Filmsequenzen, 3d-Objekte etc. nicht mehr nur wie in der klassischen Mon-tage zeitlich hintereinander anzuordnen oder, wie in digitalen Schnittprogrammen, parallel, sondern die zu verarbeitenden Objekte auch im Raum zu konfigurieren. Hierbei kann durchaus auch das Paradigma der Zentralperspektive durch Verwendung verschiedener perspektivischer Räume und Flächen in einer Komposition aufgelöst werden. Es entstehen (wie in der altniederländischen Malerei) multiperspektivische Räume (z.B. Interpol/ PDA).
2. Das ist die eine Seite, die andere ist der in der globalisierten Welt inzwischen verbreitete neue Gebrauch der Fotografie: das Fotohandy, überall dabei und immer im Einsatz. Die Technik dieses Universalgerätes ist inzwischen so weit, dass Handys beim Klingeln Fotos der Anrufer zeigen oder Klingeltöne durch Videos begleitet werden. Fotoromane für Handys werden von Endemol in Spanien vermarktet (fanTesstic), erste Handyfilmwettbewerbe werden ausgeschrieben. Weil sich Klingeltöne inzwischen besser und mit höherem Gewinn ver-kaufen als z.B. Singles, wird Popmusik so produziert, dass sie sich besonders für diese Töne eignet:
"Die technischen Möglichkeiten haben gehörige Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Musik. Das Telefon klingelt zehn, im Höchstfall 30 Sekunden. In dieser Zeit muss ein Musikthema auf den Punkt kommen, mitreißen und darf nicht abbrechen. Als Ushers Single 'Yeah' mit den markanten Synthie-Sirenen dieses Jahr herauskam, dachten viele 'Was für ein toller Klingelton!' – und nicht 'Was für ein tolles Lied'. ... 'Es ist selbstverständlich, für ein Derivat wie den Ton 1,99 Euro zu bezahlen, aber niemand ist bereit, eine Single für denselben Preis zu kaufen', wundert sich Schulz. [Stefan Schulz ist Digital Rights Manager bei Universal Music, Anm. d. Verf.] ... Über zehn Millionen Klingeltöne hat allein Jamba im vergangenen Jahr verkauft, der gesamtdeutsche Absatz von Singles rutschte im selben Zeitraum von 36,3 auf 24,4 Millionen. In Großbritannien wurde letztes Jahr sogar mehr Geld mit Klingeltönen als mit Singles verdient." (Lippitz 2004)
In neueren Siemens-Handys wird sogar ein Spiel angeboten, dass die Verfolgung einer virtuellen Mücke – in einem durch die eingebaute Kamera erzeugten Videobild der realen Umgebung – zum Ziel hat. (Es entsteht eine Mischform der Realitäten: Augmented Reality). Ein Gadget wird so zum universellen Apparat: Zeit- und Cyberspacemaschine zugleich.
Darüber hinaus trägt sicherlich die massenhafte Verbreitung des digitalen Fotoapparates zu einer starken Veränderung des Gebrauchs von Fotografie bei: Er vereinigt in sich die Qualität des Profiapparates mit dem der Sofortbildkamera und fungiert als universelles Bilderzeugungsgerät im Sinne verschiedener fotografischer Traditionen und Praktiken. Über das einfache Einzelbild hinaus kann er Panoramen, Serien und auch Filme produzieren, ferner besteht vielfach die Möglichkeit, Kommentare einzusprechen und den Apparat sowohl zum Abspielen zu nutzen als auch ihn direkt an einen Fotodrucker anzuschließen.Es handelt sich hier also nicht nur um die Konvergenz von Medien, sondern auch um die Konvergenz kultureller Techniken in einem Hyper-Apparat.1 Fotografie (und zwar als Material bzw. Gegenstand) wird aber wider das Wissen um die Loslösung von der Repräsentation einer dem Bild vorhergehenden materiellen Existenz immer noch als Beleg einer Welt gesehen, die aus Dingen und nicht aus mathematischen Konstrukten (Fiktion) besteht. Ich vermute, dass dies einer der Gründe für den Boom von digitalen Printservices ist. (Der in einem Video von The Streets eine nicht unwesentliche Rolle spielt). Hier wird der Algorithmus wieder zum analogen Teil der physikalischen Welt.
Wenn Manovich im Zusammenhang der Digitalisierung von analogen Medien davon spricht, dass alle Medien weich 'soft' werden (Manovich 2001: 133), dann bezieht sich dies natürlich auch auf die Fotografie. Für die Fotografie in der Repräsentation einer Compositing- oder Schnitt-Software ist es gleichgültig, ob ihr Ursprung digital oder analog war. Sie folgt den Gesetzen der Digitalität, und diese wirken einerseits total und andererseits in einer extremen Weise intermedial. Indem alle Repräsentationen potenziell denselben Algorithmen unterliegen, werden sie auf der Ebene des Digitalen gleichartig, und es können erstaunliche Formen der Bearbeitung auf sie angewandt werden. Bezieht man dies nun auf das zu untersuchende Medium Fotografie, kann es sein, dass die Fotografie durch einen digitalen Filter als Bewegungsimpuls gelesen oder die Amplitude des Sounds zur Steuerung von Bewegung angewandt wird. Zentrales Prinzip ist die wechselseitige mathematische Beeinflussbarkeit der zusammengeführten Medien. Was sich erst einmal absurd anhört, produziert neue Formen der Konvergenz von Medien im digitalen Raum, und hier meine ich nicht Konvergenz von Apparaten und Formaten, sondern ein reales Zusammenwachsen von Medien, was zu erstaunlichen intermedialen Erscheinungen führen kann. Zum Beispiel kann das Signal einer Tonspur direkt auf sämtliche Faktoren der Bildberechnung angewandt werden. Die Lautstärke kann so die Helligkeit, die Größe, die Bewegung, eigentlich jede Art von digitaler Eigenschaft eines Medienobjektes beeinflussen. Dies ist auch eine der wesentlichen Techniken des VJ-ing. Eine Fotografie bzw. ein Film (wie im Experiment O.T. von Christian Mahler, Mitglied des Gestaltungsbüros LEM) wird durch den Pegel der Tonspur bewegt, respektive in der Zeit vorwärts bewegt. In ähnlicher Weise werden die Bilder des Mouse on Mars-Videos DISTROIA durch den Ton bewegt. Hinzu kommt auch die räumliche Dimension für die Anordnung von Medienobjekten. Das flache Medium Fotografie wird z.B. durch Mapping in einem dreidimensionalen Raum angeordnet, wie bei Röyksopp in EPLE zu sehen ist.2
Ebenso neu ist, dass mediale Objekte in einer Compositing-Software zwar austauschbar sind, ihre Eigenschaften aber dieselben bleiben können. Das verändert Produktion enorm. Es lässt sich im Bruchteil einer Sekunde die gesamte Erscheinung einer Komposition beeinflussen, ohne deren räumlich-zeitliche Logik zu verändern oder gar zu zerstören. Das unterscheidet das Compositing stark vom 'einfachen' Schnitt bzw. der Montage. Allerdings gibt es eine nicht verkennbare Nähe zu dem Prinzip der Collage, und wie auch Manovich (2001: 152/153) erwähnt, zu den frühen "combination prints" des 19. Jahrhunderts von Henry Peach Robinson und Oscar G. Reijlander.
Die Fotografie ist in der digitalen Welt quasi der Beweis ihrer eigenen Existenz. Selbst (foto-grafische) Bilder, die 3d-Simulationen entspringen, versuchen in erster Linie, foto-realistisch zu wirken, und sind Bilder, die wir als realistisch/wirklich empfinden, weil sie dem Wahrnehmungsmuster fotografischer Bilder entsprechen. Dazu bemerkt Manovich:
"Was Computergrafiken inzwischen (fast) erreicht haben, ist nicht Realismus, sondern Fotorealismus: Nicht die Fähigkeit, unsere sensorische oder körperliche Erfahrung der Wirklichkeit nachzuahmen, sondern lediglich das fotografische Bild. […] Nur dieses filmbasierte Bild vermag die Computergrafiktechnologie (bislang) zu simulieren. (Und) wir glauben nur deswegen, Computergrafik könne die Wirklichkeit täuschend echt nachahmen, weil wir im Verlauf der letzten 150 Jahre die fotografischen und filmischen Bilder der Wirklichkeit zu akzeptieren gelernt haben. Täuschend nachgeahmt wird lediglich ein filmbasiertes Bild. Nachdem wir erst einmal ein fotografisches Bild als Wirklichkeit akzeptiert hatten, stand der Weg zu einer künftigen Simulation offen." (Manovich 1994: 64)
Friedrich Kittler bemerkt zu diesem Problem: [Es bleibt] allerdings ... zu betonen […], welche Revolution gegenüber den optischen Analogmedien schon in der Tatsache liegt, dass die Computergrafik Optiken überhaupt optional macht […]. Computergrafik, weil sie Software ist, besteht (dagegen) aus Algorithmen und sonst gar nichts. (Kittler 2002: S. 183)
Die Nachbildung von optischen Effekten der Kamera ist also nur nötig, weil wir uns an die Abbildung der Welt durch die Fotografie gewöhnt haben. Tiefenschärfe, Lichtverluste, Verzerrungen sind in den digital erzeugten fotografischen Bildern nur Reminiszenz an ein altes Medium. In der digitalen Welt gibt es keine analogen Probleme, trotzdem wird ein nicht unerheblicher Aufwand betrieben, um z.B. Filter für bild- und tonverarbeitende Softwares zu programmieren, die analoge Effekte simulieren, sei es das Bandrauschen oder die Kratzer auf einem Film. Der Gestalter spricht davon, dass ein Bild/Sound zu 'clean' ist bzw. wirkt, wenn entsprechende Effekte nicht eingesetzt werden. Im Widerspruch dazu versuchen digitale Kameras immer stärker, analoge Effekte wie das Verwackeln, oder versehentliche Doppelbelichtung zu eliminieren.
Unter der Voraussetzung also, dass alle Medien als digitale Objekte denselben Algorithmen/(Gesetzen) unterstehen, muss konstatiert werden, dass alle verwendeten Medienobjekte/(Materialien) (vgl. Manovich 2001: 37) nur noch auf unser Wahrnehmungskonstrukt – unsere Fiktion – von Wirklichkeit referenzieren und so zum Zitat eines Materials – z.B. der fotografischen Oberfläche bzw. einer Technik – werden. Schwindel erregende, in der physikalischen Welt unmögliche Kamerafahrten bzw. -positionen und 3d-Simulationen mit unendlicher Tiefenschärfe im zeitgenössischen Kino können so möglicherweise als Phänomene des Übergangs gelesen werden. Langsam beginnen wir, mit unseren Bildproduktionen den physischen Raum zu verlassen.
Die beschriebenen Phänomene werden eine erhebliche Veränderung der uns heute bekannten Medien mit sich bringen. Dies ist in Musikvideos teilweise schon zu beobachten, und gerade die gleichwertige 'Komposition' verschiedener Medien spricht davon. An dieser Stelle werden eine Reihe von mehr oder weniger zeitgenössischen Videos nur knapp kommentiert vorgestellt, die in unterschiedlicher Weise mit fotografischen Bildern arbeiten. In Ermangelung anwendbarer Beschreibungsmodelle fotografischer Nutzung in Videos beschränke ich mich bei der Kategorisierung der Videos auf genauso fragliche musikalische Genres:
>Elektronische Musik:
Sensorama: STAR ESCALATOR, Röyksopp: EPLE, Autechre: SECOND BAD VILBEL, Mouse on Mars: DISTROIA. Diese Beispiele wurden weiter oben schon vorgestellt. An diesen Musikclips ist zu beobachten, dass experimentelle, nichtnarrative Musikvideos oft für Musik produziert werden, die ohne Text arbeitet, also in der Regel elektronischen Ursprungs ist.
>POP/Rock:
Rolling Sones/ LIKE A ROLLING STONE (s. o.), AHA/ LIFELINES, REM/ DAYSLEEPER. Produktionstechnisch handelt es sich meist um sehr entwickelte Hochglanzprodukte, die mit dem Starimage arbeiten. Häufig sind es Performance Videos, da es in erster Linie um den promoteten Act geht.
>Independent-Sparte:
Hier finden sich die meisten Videos mit fotografischen Inhalten. Gerade hier scheinen diese neuen Produktionsmethoden aber auch eine Form der Gegenbewegung auszulösen: Der Versuch, die Welt im Musikvideo weniger artifiziell wirken zu lassen und da stellt die Referenz auf das physische Existenz behauptende, analoge der Fotografie eine Möglichkeit dar: Beth Gibbons/ MYSTERIES, Jon Spencer Blues Explosion/ MAGICAL COLOUR. Teilweise reflektieren diese Videos unseren veränderten Umgang mit Medien, insbesondere der Fotografie, teilweise beharren sie auf dem vordigitalen Status der Fotografie und des Films, obwohl sie eindeutig digital produziert sind. Als weitere interessante Beispiele aus der Independent-Sparte möchte ich hier noch folgende Videos nennen: PeterLicht/ SONNENDECK, Slut/ TIME IS NOT A REMEDY, Black Rebel Motorcycle Club/ WHAT EVER HAPPENED TO MY ROCK'N ROLL, Winson/ LIEBESKUMMER IST LUXUS BABY, Mogwai/ STANLEY KUBRICK, Franz Ferdinand/ TAKE ME OUT. Beim letzten Video ist eine Nähe zu ELEANOR RIGBY und der verwendeten Collagetechnik offensichtlich: ein Prinzip, das dem Compositing entgegen kommt. In den Videos Interpol/ PDA und Modest Mouse/ FLOAT ON wird die 3d-Collagetechnik (Compositing) sehr weit getrieben. Durch Projektion von zweidimensionalen Flächen (Fotografien) auf dreidimensionale Körper wird die oben beschriebene Auflösung der perspektivischen Welt vorangebracht. Im Independent-Kontext entstehen aber auch sehr interessante hybride Formen von fotografischer Nutzung: Wir sind Helden/ DIE REKLAMATION.
Hier wird eindeutig mit den Mitteln der Homeproduction gespielt. Die einfache und ungenaue Verarbeitung – offensichtlich mit dem Home-Computer gemacht – weist auf den Produzenten, der wie die Band jugendlich authentisch wirken möchte, klar im Gegensatz zu den geklonten Popstars, um so über die Produktionsart ein Identifikationsgefühl für den Rezipienten zu stiften. Etliche Programme der Bildbearbeitung für den Heimbedarf sind merkwürdigerweise genau für diesen Bedarf, fotografische Bilder in bewegte Bilder zu überführen, entwickelt worden, so z.B. das Programm mit dem bezeichnenden Namen: "Photo to Movie". Als weitere Beispiele für die hybride Verwendung von Fotografie möchte ich zwei Arbeiten von Studierenden der Fachhochschule Potsdam erwähnen: Motorpsycho/ MANMOWER. Unter Verwendung eines analogen Mittelformatfotos von einer Holzplatte und Aufnahmen eines Polaroids werden mit dem Videohandy aufgezeichnete Filme in die Polaroids montiert und digital in einer typischen Compositing Software (After Effects) zusammenfügt und animiert: Fibonacci Heap/ LA_PEAU.
>HipHop:
Outkast/ HEY YA, hier werden Rasterelektronenbilder animiert und hinter logoartigen Insekten-Masken konfiguriert. In dem Video The Streets/ FIT BUT YOU KNOW IT geht der Protagonist Mike Skinner (er ist das einzige Mitglied von The Streets) in ein Fotoswift – Photos from digital – Image Centre. Wir sind hier also schon eine Stufe weiter in der postfotografischen Entwicklung seit Sy Parrishs ONE HOUR PHOTO-Laden. Skinner holt seine Fotos ab, lässt den Photo-Umschlag gleich liegen und nimmt auch kein Speichermedium mit, was darauf hin deutet, dass er die Bilder entweder per e-mail dorthin geschickt hat, oder dass die Bilder direkt von der Kamera, i.e. dem Cell Phone, in die Entwicklung kamen. Er beginnt im Laufen, die Bilder anzusehen und seine Geschichte zu erzählen. Die Bilder, die er sich ansieht, beginnen sich in Ausschnitten zu bewegen, allerdings nie in Gänze. Die Illusion eines arretierten fotografischen Bildes soll offensichtlich teilweise erhalten werden. Ein für diese Wahrnehmung wesentliches Detail sind die reflektierenden Oberflächen der Fotografien. Mike Skinner lamentiert vor sich hin, und in den Bildern bewegen sich die Protagonisten im virtuellen Raum des digitalen Fotos zum Verlauf der Geschichte. Erstaunlich sind die Interaktion und der nahtlose Übergang der Handlung zwischen den beiden Ebenen des Videos. Erzählte Geschichte wird so zu einem zukünftigen und erinnerten Bild gleichzeitig. Eine ähnliche filmische Situation aus BLADE RUNNER ist hinlänglich bekannt. Deckard sieht sich ein Foto aus der vermeintlichen Kindheit der Replikantin Rachel an, welches ihm als Beweis ihrer menschlichen Existenz dienen soll. Dieses fotografische Bild füllt die Leinwand und beginnt unmerklich sich zu bewegen. Ist also Mike Skinner ein Replikant?
Videografie
AHA: Lifelines, R: Jesper Hiro, 2002
AUTECHRE: Second Bad Vilbel, R: Chris Cunningham, 1995
BETH GIBBONS: Mysteries, R: D. Leung, 2003
BLACK REBEL MOTORCYCLE CLUB: Whatever Happend To My Rock'n Roll, R: Charles Mehling, 2002
BLUMFELD: Verstärker, R: Christoph Dreher, 1992
FRANZ FERDINAND: Take Me Out, R: Jonas Odell, 2004
INTERPOL: PDA, R: Christopher Mills, 2002
JON SPENCER BLUES EXPLOSION: Magical Colour, R: Terry Richardson, 1998
MOGWAI: Stanley Kubrick, R: Brian Griffin, 1999
MOUSE ON MARS: Distroia, R: Rosa Barba/Herwig Weiser, 1999
OUTKAST: Hey Ya, R: Bryan Barber, 2003
PETERLICHT: Sonnendeck, R: Datenstrudel, 2001
R.E.M.: Daysleeper, R: The Snorri Brothers, 1998
RADIOHEAD: Street Spirit, R: Jonathan Glazer, 1995
ROLLING STONES: Like A Rolling Stone, R: Michel Gondry, 1995
Röyksopp: Eple, R: Thomas Hilland, 2001
SLUT: Time Is Not A Remedy, R: O. Boscovitch, 2002
SENSORMA: Star Escalator, R. Michel Klöfkorn/Oliver Hussein, 1998
THE BEATLES: Eleanor Rigby, R: Georg Dunning, 1967
THE STREETS: Fit But You Know It, R: Dougal Wilson, 2004
WINSON: Liebeskummer Ist Luxus Baby, R: Greifer & Krötenbluth, 2004
WIR SIND HELDEN: Guten Tag (Die Reklamation), R: Florian Giefer/Peter Gölt, 2003
Unveröffentlichte Videos
FIBONACCI HEAP: La Peau, R: Sebastian Grebing, 2004
MOTORPSYCHO: Manmover, R: Sylvia Brockmann/Björn Gripinski/Grit Steinbrücker, 2004
O.T., Christian Mahler, 2004, (Material aus dem Film: Le Mépris, Regie: Jean Luc Godard, Italien 1963)
CD ROM
Slippery Traces, George Legrady, 1995, Veröffentlicht in Artintact 3, CD-ROMagazin interaktiver Kunst, Karlsruhe 1996
Internetquellen für multiperspektivische Kameraensembles
www.movia.com
www.timtrack.com
(Dank an Uwe Albrecht, Katrin Brauner und Nico Roicke für die Unterstützung bei der Auffindung relevanten Video-Materials.)
Distelmeyer, Jan (2002): Die Tiefe der Oberfläche – Bewegungen auf dem Spielfeld des post-klassischen Hollywoodkinos, in: Jens Eder (Hg.) Oberflächenrausch – Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, Münster.
Manovich, Lev (2001): The Language of New Media, Cambridge.
Manovich, Lev (1994): Die Paradoxien der digitalen Fotografien, in: v. Amelunxen, Hubertus; Iglhaut, Stefan; Rötzer, Florian (Hg.) Fotografie nach der Fotografie, Berlin.
Taylor, Dayton (1996): Virtual Camera Movement: The Way of the Future? In: American Cinematographer: Vol 77, No. 9, September. (Am 14.11.2004 auf http://www.timetrack.com/press/ascmag.html)
Kittler, Friedrich (2002): Computergrafik. Eine halbtechnische Einführung, in: Wolf, Herta (Hg.) Paradigma Fotografie, Frankfurt a. M.
Lippitz, Ulf (2004): Klingelton-Boom Pop und Piepen, SPIEGEL ONLINE – am 12. August 2004, 14:09 (Am 14.11.2004 auf http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,312936,00.html)