Zu Hong Sang-soos ON THE OCCASION OF REMEMBERING THE TURNING GATE
Einer der beiden englischen Titel des Films lautet: ON THE OCCASION OF REMEMBERING THE TURNING GATE (SÜDKOREA 2002). Der andere, verbreitetere, einfach: THE TURNING GATE. Seltsam: Enigmatischer ist der lange Titel, er schließt den Film nicht auf, ganz im Gegenteil. Das Subjekt, das sich erinnert, vielmehr, das hier Gelegenheit bekommt, sich zu erinnern, bleibt im Dunkeln. Oder es geht gar nicht um ein Subjekt der Erinnerung, sondern um die Erinnerung selbst, die Gelegenheit der Erinnerung, der der Film im Titel, der auch über einem Gedicht stehen könnte, sich verschreibt.
Das Rätsel der Filme von Hong Sang-soo liegt an der Oberfläche. Nichts führt in die Tiefe, alles liegt zutage. Es gibt Unerklärtes, aber nicht Unerklärliches; es gibt die merkwürdigsten Zufälle, aber kein Schicksal. Alles sieht einfach aus, alles lässt sich mit dem lässigsten Alltags-Realismus verwechseln. Das ist eine Täuschung, aber eine, die Hong, könnte man sagen, nicht sucht, die sich nur ergibt aus der Art, wie wir geschult sind im Umgang mit Geschichten und Bildern. Wir unterstellen der Narration, dass sie sich und die Figuren, von denen sie erzählt, aus sich selbst heraus erklärt. Wir glauben an eine Logik, eine logische Abfolge der Geschehnisse – der Art, dass etwas, das wir später sehen durch etwas, das zuvor geschah, erklärbar ist. Hongs Filme bieten Gelegenheiten, und zwar viele, sich zu erinnern an Dinge, die wir vorher sahen, nur erklären sie vielfach nichts. Vieles ist schiere Wiederholung, oder Wiederholung mit Variation. Wiederholung, die nicht von Entwicklung zeugt, die nichts aufschließt, sondern nur zirkulär auf sich selbst verweist, als Gelegenheit, sich zu erinnern an das, was, zum Beispiel, am Wendetor geschah. Die Erinnerung wendet sich dabei aber nur an sich selbst und schnürt das Geschehen zu einer glatten Schleife, in deren Umlauf die Differenz zwischen dem Ereignis selbst und seinen Wiederholungen sich nicht mehr der Logik der Narration fügt. Wer sich einstellt auf das Funktionieren dieser Filme, wird lernen, sich vorwärts zu erinnern und das heißt: lernen, jedes Geschehnis, jedes Wort und jedes Bild zu begreifen als etwas, das Gelegenheit bieten mag für eine Erinnerung, später. Anders als in der üblichen Spielfilmdramaturgie bleiben diese Beziehungen eines Früher aufs Später – aber auch umgekehrt des Später aufs Früher – bei Hong völlig untermarkiert. Es ist nicht so, dass – metaphorisch gesprochen – die Pistole, die an einer Stelle auftaucht, später auch benutzt werden muss. Sie kann, von einem Moment auf den anderen, auch verschwinden, so wie einzelne Figuren, die eben noch im Zentrum der Geschichte standen, mitten im Film verschwinden und es ist nicht mit einem Wort mehr von ihnen die Rede.
Umgekehrt kann alles zum Bild-Ereignis werden, das nach Vorwärtserinnerung verlangt. Alles ist – täuschend – beiläufig und alles ist – potenziell – wichtig. Es liegt in diesen Filmen eine Trunkenheit der Bedeutungsproduktion, die sich im fortwährenden Trinken und Sich-Betrinken der Figuren spiegelt. Oder vielleicht darf man gar nicht von einer Spiegelung sprechen, sondern muss eher sagen, dass in diesen seltsamen, minutenlangen Gelagen die narrative Dissoziation ins Diegetische hinüber transformiert wird. (Oder transsubstantiiert: Aus der strukturellen Form wird eine leibhafte Szene.) Womöglich muss man diese Filme selbst trunken sehen und eine Art trunkenes Schreiben finden, um nicht die Auflösungsarbeit an Narration und Bedeutung zu unterlaufen, die sie fortwährend leisten. Und doch darf in dieser Trunkenheit der Blick nicht verschwimmen, wie ja auch Hongs Bilder immer ruhig und klar bleiben. (Jedenfalls bis zu TALE OF CINEMA (SÜDKOREA 2005), in dem es urplötzlich wilde, hektische Zooms gibt, die den Charakter dieses Kinos, auf den ersten Blick zumindest, schlagartig verändern.)
ON THE OCCASION OF REMEMBERING THE TURNING GATE ist, in einem Werk der Hinterhalte, ein besonders hinterhältiger Film. Mit dem Wendetor des Titels verbindet sich eine Legende, die im Film selbst erzählt, aber natürlich nicht dargestellt, wird: Ein Mann verwandelt sich, von einer Prinzessin zurückgewiesen, in eine Schlange und windet sich um ihren Körper und droht sie zu ersticken. Die Prinzessin geht in ein Kloster und weist die Schlange an, vor dem Tor zu warten. Die Schlange wartet, die Prinzessin kehrt nie zurück – und also wendet die Schlange sich ab. Das ist die Legende vom Wendetor, die ein Freund dem anderen erzählt, während sie unterwegs sind durch pittoreske Landschaft zu diesem Tor der Legende. Auf den ersten Blick ist das Verhältnis von Legende und im Film erzählter Geschichte klar. Die Wiederholung nämlich der Legende findet statt, in der Gegenwart und im richtigen Leben, von dem der Film mit Seelenruhe erzählt. Der Freund, der glücklose Schauspieler G., wird am Ende des Films vor einem verschlossenen Tor stehen, hinter dem die Frau, die er liebt, verschwunden ist, und damit die vom Titel angekündigte Gelegenheit bekommen, sich an diese Geschichte zu erinnern. Die strukturelle Ähnlichkeit seiner Situation mit der Schlange liegt auf der Hand. Und doch verhindert eine irritierende Auslassung die klare Symmetrie: Das Wendetor der Legende ist im Film niemals zu sehen, denn die beiden Freunde machen auf ihrem Ausflug bereits kehrt, und zwar so unvermittelt wie freiwillig, bevor sie das von Touristen gern besuchte Tor erreicht haben. Es ist banal, es gibt da nichts zu sehen, sagt der, der schon einmal da war. Das Zentrum der Legende, potenziell der größte Bedeutungsattraktor des Films, wird so abrupt entleert – und die Wiederholung, die Gelegenheit zur Erinnerung, verweist auf einen ursprünglichen Moment, den es im Film wie im Leben der Figur gar nicht gab.
Es sind diese Formen leisen, beim Nachdenken und Rückerinnern erst spürbar werdenden Schwindels, diese auf den ersten Blick gar nicht leer scheinenden Blindstellen, die Hongs Filme so eigenartig und beinahe ungreifbar machen. Dem, der sich ihnen schreibend, deutend, nacherzählend nähert, entziehen sie sich wie Lewis Carrolls Cheshire-Cat, von der nur ein Grinsen bleibt. Dies Grinsen erlischt in der Erinnerung nicht, aber es ist doch, als verschwände, je mehr man ihm sich nähert, der Film und löse sich auf in ein Grinsen, in trunkene Klarheit und Bilder, die wiederholen, was es gar nicht gab.