Michael Hanekes CACHÉ
Der Film beginnt mit einer Einstellung auf eine Straße und ein Durcheinander von Häuserfassaden, die mir schier endlos lang und rätselhaft vorkommt. Ab und zu läuft jemand durchs Bild, doch ich weiß nicht so recht, was es hier zu sehen gibt oder geben soll. Habe ich etwas verpasst oder übersehen? Ich muss noch einmal zurückspulen. Ich greife zur Fernbedienung und der Film läuft ein Stück im Schnelllauf. Moment. Das ist merkwürdig: Ich hatte doch noch gar nicht auf 'Review' gedrückt. Der Film selbst tut just in dem Moment das, was ich tun wollte.
Diese Szene ist mir klar in Erinnerung geblieben. Der merkwürdige Effekt der Deckungsgleichheit des Spulenwollens und Spulens verdankt sich natürlich dem Umstand, dass ich den Film zu Hause von DVD geschaut habe – diese Anordnung erst ist Möglichkeitsbedingung eines solchen Erlebnisses. Die Situation hat mich verwirrt: Das 'innerfilmische Spulen', das auf mein Bedürfnis zurückzuspulen zu antworten oder ihm gar zuvorzukommen scheint – woher weiß der Film das? Als ob sich das Filmbild selbst, so wie ich, noch einmal des Gesehenen vergewissern will. Oder als ob der Film mir zeigt: Es gibt halt kein Außerhalb, Wunsch und Erfüllung werden beide vom Film und Kinodispositiv vollbracht. Im Kino hätte ich den Filmanfang wahrscheinlich anders erlebt, denn dort bin ich nicht in der Position/Lage zu einer individuellen und direkten Interaktion – wäre ich hier überhaupt auf die Idee eines Rückspulens gekommen?
Noch einmal gesehen, sehe ich es etwas ander/e/s:
Der Film beginnt mit einer Aufblende in eine zunächst statisch erscheinende Einstellung aus einer Straße auf zersiedelte Häuserfassaden, Autos die am Straßenrand parken, ein Busch in einem Vorgarten – wie ich beim zweiten Mal weiß: der Hauseingang des Ehepaares Georges und Anne, verdeckt durch einen Busch, zu sehen und gleichzeitig nicht zu sehen. Über diesem Bild erscheinen Stück für Stück die Credits als weißer Fließtext. Zunächst geben nur entferntes Vogelzwitschern, Autogeräusche und Stimmen Hinweise darauf, dass dies vielleicht kein Standbild ist. Doch dann läuft irgendwann jemand mit Rucksack vorbei, eine Frau verlässt das Haus, ein Fahrrad biegt in die Straße, in der die Kamera steht. Alles erhält seine Zeit. Irgendwann hört man eine Männer- und eine Frauenstimme aus dem Off, der Sound nun wie aus einem geschlossenen Raum: "Und?" – "Nichts." – "Und wo war's?" – "In 'ner Plastiktüte an der Tür" – Durchatmen und Geräusche – "Was ist denn?"
Schnitt auf den Hauseingang aus anderer Perspektive, es dämmert, ein Mann verlässt das Haus, eine Frau hinter ihm, er geht über die Straße, die Kamera schwenkt mit, er guckt in eine Seitenstraße – "Der muss hier gestanden haben." – [sie aus dem Off:] "Komm rein!" – Er dreht sich um, geht wieder zurück, schließt Gartentor und Tür.
Schnitt: wieder Tageslicht, wieder die Einstellung vom Beginn, wieder Gespräch im Off – die Geräusche der Straße diesmal stark zurückgenommen –, darüber dass man die Nachbarn befragt habe, ob sie etwas gesehen hätten, dann spult der Film, zunächst vorwärts – Das Band läuft über zwei Stunden – das Geräusch eines Videorekorders ist kaum zu überhören, auch ist jetzt an den Bildverzerrungen deutlich, dass es nicht um einen Rücklauf auf DVD, sondern von Video geht. Zurück gespult wird erst nach einer ganzen Weile des schnellen Vorlaufs, dann wieder im Normallauf, dann als Standbild eingefroren. Ein Gespräch darüber, dass er die Kamera doch hätte sehen müssen, dass sie nicht hinter Glas, also nicht von einem Auto aus aufnimmt. Erst dann Schnitt ins Wohnzimmer des Paares, das vor dem Fernsehmonitor steht und sich ein Video ansieht – ein Beobachtungsvideo von ihrem Haus, das in einer Plastiktüte an die Tür gehängt worden ist.
Das Wiedersehen lässt meine Erinnerung verschoben erscheinen: Das Spulen stellt deutlich die Medialität/Materialität von analogem statt digitalem Video aus, es wird vor- statt zurückgespult, entfallen war mir außerdem die Tonspur. In meiner anfänglichen Orientierungslosigkeit und Überraschung gelangten diese Aspekte nicht bis ins Bewusstsein. Vergessen habe ich in meiner Anfangsszene auch, dass es vom fast stehenden Bild bereits einen Schnitt auf den Vorgarten gab, von wo aus Georges hinausgeht und in die Seitenstraße – "Rue des Iris" – guckt. Jetzt wo ich sie wieder sehe, erinnere ich, dass mir dies beim ersten Sehen komplett rätselhaft blieb: Warum ist es plötzlich Abend, wo gerade noch Tag war? Was sucht der Mann da? Ich hatte noch nicht einmal erkannt, dass ich den Hausausgang auf dem Bild vorher schon gesehen hatte, wenn auch aus ganz anderer Perspektive.
Dieses Ver-Sehen und Über-Hören erscheinen symptomatisch für Hanekes Bilder: Paradoxerweise geben sie zu sehen und gleichzeitig doch nicht zu sehen. Übrig bleibt bei aller Verschiebung, dass beim ersten Sehen – vorausgesetzt man hat vorher nicht über den Film gelesen, vorausgesetzt man nimmt die Bilder ernst und fügt sie nicht schon ein in Diskurs – der Status der Bilder vom Haus völlig unklar sind. So wie das innerdiegetische Überwachungsvideo auf Straße und Haus sieht, so tue auch ich dies als Zuschauerin, weil ich – und genau darauf stößt CACHÉ (F / Ö / D / I 2005) den Blick – mit der Kamera zusammen blicke. Darum konnte ich die Dämmerungsbilder, wo Georges das Haus verlässt, um in die Straße hineinzusehen, nicht einordnen: Sie nehmen einen anderen Blickwinkel ein, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie blicken von der Seite und dies ist nicht mehr die Beobachtungskamera. Die Bilder scheinen geradezu auf Nicht-Wiedererkennen, auf fehlenden Anschluss hin angelegt.
Just die Szene, in der dann gespult wird, beinhaltet ein weiteres Skandalon, das ich zuerst etwa in der Filmmitte zu erinnern glaubte: Auf dem Videoband und meinem TV-Monitor ist zu sehen, wie Georges das Haus verlässt und in die Seitenstraße geht – in Richtung der Kamera, die das Videoband aufgenommen haben wird, er wendet den Blick fast in ihre Richtung. Doch wo eigentlich steht diese bebachtende Kamera? Georges – der Georges der Tonspur, den wir dann im Wohnzimmer vor dem Videorekorder sehen werden – hält das Band an und das Paar unterhält sich kurz darüber: "Ist mir rätselhaft, dass mir der Kerl [mit der Kamera] nicht aufgefallen ist, ha" – "Vielleicht war die Kamera in einem Auto" – "Sieht nicht so aus, als wär's durch 'ne Scheibe gefilmt" – "Ja, oder irgendwo am Haus." – Akzentuiert wird auf diese Weise die Aufmerksamkeit, doch ohne eine befriedigende Antwort zu geben: So wie dieses Gesprächsthema im Raum hängen bleibt, lassen die Bilder, lässt die Kamera-Einstellung die Frage offen. Die Kamera, die hier (für Georges auf der Straße) hätte zu sehen sein müssen und von der wir (Zuschauer/innen) auch wissen, dass sie da ist ('irgendwo am Haus') – sonst könnten wir diese Bilder ja nicht sehen – bleibt konsequenterweise verborgen. Doch mit dieser offensichtlichen Kaschierung stellt sie sich paradoxerweise geradezu aus, oder anders: wird die im Medium Film angelegte/vorgesehene Kaschierung der Kamera ausgestellt. Die Kamera bleibt qua medientechnologischer Anordnung/Dispositiv des Films im Off der Bilder, im Rücken der Zuschauer/innen. Zudem hat sich die Präsenz der Kamera im Dienste des 'imaginären Signifikanten' auch formal-ästhetisch auszustreichen. In diesem Bild CACHÉs jedoch wird dieses Off inmitten des Bildes verortet und gleichzeitig kaschiert, gleichsam als Kaschiertes situiert: Was dort gesehen werden müsste, bleibt im Off, bleibt [unsichtbar, verborgen, geheim] – wie der deutsche Untertitel des Films heißt. Doch indem sich ein solch paradoxes Off inmitten des Bildes auftut, geschieht eine merkwürdige Umkehrung: Die Bilder stellen sich aus als Perspektive einer Kamera, als Bilder einer medialen Technologie. Die Kamera(arbeit) entbirgt sich gewissermaßen, sie wird selbst sichtbar. Mit dieser Entnaturalisierung ist eine beunruhigende Verwirrung des Bildes/Blickes verbunden.
Schon die ersten fünf Minuten von CACHÉ erzeugen also eine sonderbare Irritation und Verstörung dessen, was man sieht und glaubt zu sehen. Programmatisch eröffnet sich auf diese Weise das Feld einer grundlegenden Infragestellung des (filmischen) Bildes. Die Orientierung geht verloren – und damit geschieht mir als Zuschauerin genau das, was auch den Figuren geschieht – wenn auch auf andere Weise. Die Irritation der Bilder/des Sichtbaren entzieht Vertrauen, sie stiftet Unfrieden – narrativ spiegelt sich das im kaum ertragbaren Umgang des Paares, dem Zerbrechen der Beziehung. Schwer fällt es die Kamera zu vergessen und sich den Film 'einfach nur anzusehen'. Wenn etwa das Paar bei einer leicht verschobenen, aber ähnlichen Einstellung wie zu Beginn aus dem Haus kommt und zum Auto geht, stolpert man geradezu, wenn die Kamera plötzlich mit ihnen mitschwenkt.
CACHÉ erzeugt ein Misstrauen gegenüber den Bildern, diese Beunruhigung steckt an und bleibt auch an den narrativen Bildern kleben – sobald sich Vertrautheit/Imaginäres in das Gesehene einzuschleichen droht, wird diese sorgfältig wieder erschüttert. Der Status der Bilder bleibt verunsichert, nie weiß ich sicher, ob ich gerade die Bilder der beobachtenden Kamera sehe oder die Filmbilder. Darstellung/Bildobjekt (Figuren und Landschaften, Videoband) und Darstellendes/Bildträger (Videoaufzeichnung, Filmbilder, Film auf DVD) fallen vielfach zusammen und werden ununterscheidbar: Was ist auf den Bildern zu sehen? Die Figuren und Landschaften des Films oder die Videoüberwachungsbilder? Beides ist möglich und beides scheint merkwürdig verquickt – so können etwa die Bilder eines späteren Videos, auf denen durch ein verregnetes Autofenster auf das Elternhaus von Georges geblickt wird, im Rahmen der Montage als seine Fahrt zu seiner Mutter gesehen werden (Georges sitzt danach auf ihrem Bett). Ähnlich auch die mehrfachen Fahrten durch den Hausflur bei Majit. Die paradoxe Kamera im Off im On, die als Abwesende anwesend ist, führt so zu einer Reflexion über die Kamera und Bilder – freilich nicht im Modus der Sprache, sondern im Modus des Bildes, des Schauens und Überprüfens, was ich sehe, des permanenten Blick- und Aspektwechsels vom Bild auf seine Erzeugungsbedingungen. Diese sonderbare Ansteckung überzieht schleichend alle Bilder des Films – und stellt so zum einen Medialität aus, die doch gleichzeitig verborgen werden muss, um zu sehen zu geben. Zum anderen wird auf diese Weise das Bild zu einem Problematisierungsfeld, in dem eine Reflektion über Visualität und Sichtbarkeit in Gang gerät und von dem sich eine Theorie des Bildes einiges abschauen kann. Aufgeworfen sind Fragen wie: Was ist/wird sichtbar im Medium des Visuellen? Und die mit dem Bild verknüpfte zentrale Eigenschaft – seine Sichtbarkeit nämlich, seine Evidenz im Sinne eines "Das sieht man doch!", seine merkwürdige "artifizielle Präsenz" (Wiesing), sein "Zeigen" und seine "fehlende Negation" (Mersch) – wird in ihren Grundfesten erschüttert/unterlaufen: Zu sehen ist (nämlich/erstmal) nichts oder zumindest ist überhaupt nicht mehr klar, was zu sehen ist und was nicht. Es zeigt sich, dass sich gerade nichts oder immer etwas anderes zeigt. Eine Durchkreuzung der Offen-Sichtlichkeit.
Im Schlussbild von CACHÉ wird es aufs Neue un/sichtbar: Ein Bild, das sich, das alles zu sehen gibt, zeigt nichts. Ein Bild, das Dinge zu sehen gibt und sie gleichzeitig verbirgt. Einem Gespräch abgelauscht, was dort zu sehen sei, habe ich drei Varianten entnommen: "Na, da treffen sich doch die beiden Söhne", "nichts Besonderes" und "das Autodach im Vordergrund". Und obwohl ich vor dem Schauen von diesem vielgestaltigen Bild am Ende wusste, wusste, was es da womöglich alles zu sehen gibt, habe ich eigentlich nichts bzw. nur ein Gewusel vor der Schule gesehen.
Und so bleibt der Eindruck eines Films, der paradoxerweise alles und doch nichts zu sehen gibt. Ein Versteckspiel ohne Auflösung/Entdeckung – und darum auch kein Suchbild –, dessen Ausangspunkt vielleicht nicht umsonst in der "Rue des Iris" liegt; ist doch mit der Götterbotin und Göttin des Regenbogens auch die sogenannte 'Blende des Auges' aufgerufen, die mit der Regulierung des Lichteinfalls ins Auge unser Sehen überhaupt erst ermöglicht.