Die filmische Ökotopie des Aussterbens
Diskussionen über das Aussterben erstrecken sich aktuell über viele Bereiche, vom Verschwinden der Tier- und Pflanzenarten über bedrohte Sprachen und Indigene Kulturen, dem Aussterben des Einzelhandels, der Handwerksberufe bis hin zum Aussterben des Kinos. Auch wenn vielerorts versucht wird, jenen Szenarien entgegenzuwirken, ist dies für ein Artensterben als Folge der Erderwärmung kaum schaffbar. Der Klimawandel ist zu einer „Triebkraft des Artensterbens“ (Kalbert 2015: 104) geworden. „Extinction Rebellion“ macht als Umweltschutzbewegung wortwörtlich Aufstand gegen das Aussterben, da „[d]er Zusammenbruch unserer Zivilisation droht“ (N.N. 2022). In der „Trauerrede: Die Erde stirbt“ fordert der XR-Aktivist Thomas Zeitler „gegen die Auslöschung wirksame Zeichen zu setzen“ (Zeitler 2019: 81).
Doch längst wird nicht nur das Aussterben einer einzelnen Spezies diskutiert, sondern wir befinden uns bereits mitten im sechsten Massenaussterben (vgl. Kalbert 2015: 2). Während die vorangegangenen fünf großen Massenaussterbeereignisse meist „aus extremen Umweltereignissen, an die sich Pflanzen und Tiere nicht ausreichend schnell anpassen konnten“ (Sandal 2021: 5–6) resultierten, so wird im Unterschied dazu die jetzige Aussterbewelle als schleichend und vor allem menschengemacht angesehen (vgl. ebd.: 5). Dies scheint insofern viel gefährlicher, da unklar ist, ob der Mensch selbst dieses sechste Massenaussterben überleben wird. Da jedoch nach den vorherigen fünf Ereignissen immer wieder neue Lebenswelten entstanden sind, ist es gut möglich, dass die Erde sich wieder erholen würde, wenn oder gerade weil der Mensch daraus verschwunden wäre (vgl. ebd.: 18).
Die Folgen des menschlichen Aussterbens für die Erde skizzieren auch populäre Sachbücher wie „Die Welt ohne uns” (Weisman 2007) oder „Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung“ (David Wallace-Wells 2019). Wallace-Wells beginnt sein Buch mit den Worten: „Es ist schlimmer, viel schlimmer, als Sie denken“ (Wallace-Wells 2019: 11). Wie schlimm es werden könnte spinnt Weisman in einem Gedankenexperiment weiter. Er skizziert Szenarien, wie eine Welt ohne Menschen aussehen würde und fragt danach, ob die Natur alle Spuren der Menschheit auslöschen könnte (vgl. Weisman 2007: 13).
Eine visuelle Vorstellung von solch einem Szenario vermitteln bereits Bilder von Orten, die aussterben. Es sind Orte, die stillgelegt wurden oder die verlassen werden mussten, weil der Mensch dort nicht mehr leben konnte. Die Natur hat sich diese Orte gewissermaßen über die Jahre zurückerobert.
Ein Beispiel ist Houtouwan in China. Dort lebten bis in die 1990er Jahre circa 200 Fischer mit ihren Familien, bis sie das Dorf aufgrund infrastruktureller Probleme mit der Lebensmittelversorgung aufgeben mussten. Seitdem ist es förmlich von der Natur übernommen worden oder man könnte auch sagen: Die Natur zeichnet die Formen einstiger Zivilisation nach, wenn sich einzelne berankte Häuserwände kaum mehr von den restlichen Farben und Formen in der Natur unterscheiden lassen (siehe Abb.1).
Ganz ähnliche Anblicke von Pflanzen, die sich ihren Weg über die verlassenen Überreste einstiger Zivilisation bahnen, finden sich auch in Fotos von zurückgelassenen Autos und menschenleeren Straßen nach der Atomkatastrophe 2011 in Fukushima, Japan, wieder. Aufgrund der Evakuierung wurden Autos auf Straßen stehen gelassen und dem Verfall überlassen, da der Ort verseucht war. So hat die Natur Spielplätze, Häuser, Supermärkte, Straßen und Autos überwuchert.
Unter dem Stichwort „Lost Places“1 finden sich zudem zahlreiche Bücher und Webseiten, die ähnliche Bilder von verlassenen Gebäuden und Orten zeigen, deren Faszination einen regelrechten Tourismus zu jenen Plätzen mit sich bringt. Denn obwohl das Thema des Aussterbens erschreckend ist, ist es zugleich auch faszinierend (vgl. Kalbert 2015: 10).
Auch Computerspiele und Spielfilme bilden jene postapokalyptische Settings nach, die an jene realen Bilder erinnern, wie das Spiel THE LAST OF US (USA 2014) oder die Filme I AM LEGEND (USA 2007) oder ANNIHILATION (USA/UK 2018).
Im Folgenden soll zuerst auf visuelle Fiktionen des Aussterbens eingegangen werden, um anschließend selbstreflexive Metaphern des Aussterbens und neue Verbindungen in einem Grünen Kino des Anthropozäns beispielhaft an dem Film ANNIHILATION zu untersuchen.
I AM LEGEND und ANNIHILATION beschäftigen sich narrativ beide mit Thematiken des Aussterbens.2 Beide Filme visualisieren, was mit unserer Umwelt passieren könnte, wenn die Menschenmassen, die Technik, die Autos und Häuser verschwinden würden, wie sich eine Stadt transformieren und sich neue Lebensformen entwickeln könnten. In I AM LEGEND wurde fast die gesamte Menschheit durch ein mutiertes Virus getötet und in ANNIHILATION gibt es eine fremdartige und mutierte Pflanzen- und Tierwelt in „Area X“, die äußere und innere Veränderungen am Menschen auslöst. Die Screenshots (Abb. 2–4) zeigen fiktive Orte, doch orientieren Sie sich an einem perzeptuellen Realismus, der „digitalen Nachbildung von Wahrnehmungskorrespondenzen beim Zuschauer“ (Prince 2016: 82). Die Filmbilder bilden eine glaubhafte Welt ab, die über ihre Ähnlichkeit zu bekannten Bildern funktioniert – seien es Lost Places oder Bilder nach einer Katastrophe.
Die beiden Filme, I AM LEGEND und ANNIHILATION, werden häufig als post-apokalyptische Science-Fiction-Horrorfilme bezeichnet. Einem Grünen Kino werden sie kaum zugeordnet. Dabei ist das Storytelling vielfältig. Claire Ahn hat sechs Modi des Storytellings identifiziert, die im Ecocinema genutzt werden, um das Publikum sowohl mental als auch emotional einzubinden und zum Handeln zu bewegen, darunter auch die Apokalypse und das Umweltmelodrama (vgl. Ahn 2018: 68–75). Auch wenn sich Ahn hauptsächlich auf Umweltdokumentationen bezieht, lassen sich die Modi durchaus auf den Spielfilm übertragen. Denn die Genres, die einem Grünen Kino zugeordnet werden, variieren. So wird Climate Fiction häufig als ein Subgenre der Science-Fiction gesehen, gehört aber ebenso einem Green Cinema an, das auch als Ecocinema bezeichnet wird. Jene Zuteilungen hängen sehr von der jeweiligen Betrachtungsweise ab. Dies wird allein am Beispiel des Ecocinema deutlich. Während Paula Willoquet-Maricondi Ecocinema als eine Filmform definiert, die bewusstseinsbildende und aktivistische Absichten verfolgen kann, um Verantwortung und Bewusstsein für aktuelle Themen und Praktiken sowie deren Auswirkungen zu entwickeln und eine Veränderung herbeizuführen (vgl. Willoquet-Maricondi 2010: xii), hinterfragen Stephen Rust und Salma Monani den Begriff Ecocinema kritisch: „[W]e tend to agree that all films present productive ecocritical exploration and careful analysis can unearth engaging and intriguing perspectives on cinema’s various relationships with the world around us“ (Rust/Monani 2012: 3).
Die Bandbreite ist groß und eine eindeutige Definition von Ecocinema existiert nicht, da dieses Genre noch relativ neu ist. Doch möchte ich gerne die These von Stephen Rust und Salma Monani aufgreifen und weiterdenken, da sich darin ein großes Potential für die Filmanalyse birgt: Demnach können Filme auch ökokritisch betrachtet werden, selbst wenn sich diese nicht vorrangig mit Ökokritik auseinandersetzen. Dies ermöglicht neue Sichtweisen auf das Kino und unsere Umwelt.
Selmin Kara hat den Terminus des „Anthropocenema“ geformt – ein Neologismus, der dazu anregen soll, über ein Kino im Zeitalter des Anthropozäns nachzudenken. Für Kara ist Anthropocenema “as much a product of new filmic technologies of post-cinema as it is a portrayal of the catastrophic impacts of human geo-engineering“ (Kara 2016: 769). Kara geht es nicht nur um Umweltproblematiken im Film, sondern für sie sind Narration und Ästhetik im Kino des Anthropozäns selbstreflexive Metaphern. So stehen die Filme GRAVITY (USA/UK 2013) und SNOWPIERCER (KR/USA/F/CZ 2013) beispielhaft für eine Vision, in der die Menschheit permanent durch Faktoren ihres eigenen Schaffens bedroht wird (vgl. ebd.: 753). Der umherschwirrende Weltraummüll eines dysfunktionalen Satelliten in der Anfangsszene von GRAVITY zeigt die Folgen des menschlichen Handelns, obwohl diese normalerweise für uns im Alltag nicht sichtbar sind. In einer Szene sieht man Elektroschrott, der im Weltraum bedrohlich umherschwirrt, da er nicht recycelt werden kann (vgl. ebd.: 753). Gleichzeitig symbolisiert der Weltraummüll für Kara auch den bedrohten Status des Films als klassisch analoges Medium. Auch wenn klassische filmische Formen und Technologien nicht zwingend zu Abfallprodukten geworden sind, so wurden sie durch digitale Medien ersetzbar (vgl. ebd.: 771).
Einen ähnlichen Standpunkt, auf den auch Kara Bezug nimmt, hat McKenzie Wark, die das Kino des Anthropozäns als „Anthropo{mise-en-s}cène“bezeichnet: „[P]erhaps all cinema is now about the Anthropocene. It’s all about a sense that this is not a Never Ending Story.[…] Perhaps cinema is not just about the Anthropocene, but of it“ (Wark 2014). Für Wark ist das Kino des Anthropozäns also auch ein Kino vom Anthropozän.
EVERYTHING WILL CHANGE (D 2022) ist ein Beispiel jenes Kinos vom Anthropozän. Der Film spielt in einem dystopischen Setting im Jahr 2054, in dem die drei Protagonist*innen Ben, Fini und Cherry nicht einmal mehr wissen, was eine Giraffe ist. Als Ben eine Schallplatte mit dem Titel „Birds of Europe“ findet sowie diverse DVDs über Tiere, die mittlerweile nicht mehr existieren, fragt er eine ältere Dame, die sich später als Wissenschaftlerin entpuppt: „What happened to those animals?“ Diese antwortet daraufhin: „They went extinct. All of them. Gone.“ An diese Szene schließt sich eine eingeblendete Grafik an, die die sechs Massensterbe-Ereignisse erklärt und herausstellt, dass sich die Artenvielfalt nach den Ereignissen immer wieder erholt habe – bis der Mensch kam. Ben und Fini machen sich auf die Suche nach mehr Informationen und landen schließlich in einem Archiv, bei dem Wissenschaftler*innen Daten und Exponate zum sechsten Artensterben sammeln. Mittels eines Backups des Internets suchen Ben, Fini und die Wissenschaftlerin nach Nachrichten aus dem Jahr 2020 zum Stichwort „Extinction“. Die erste vertrauenswürdige Quelle, die sie finden, ist ein Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2010. Darin wird erklärt, dass alle 24 Stunden 200 Arten aussterben, was dazu führen kann, dass bis zum Jahr 2050 die Hälfte aller Arten gänzlich ausgestorben seien. Da diese Vorhersage im Jahr 2054 tatsächlich eingetroffen ist, fragt Ben schockiert: „Did everybody know?“
Regisseur Marten Persiel hat zu EVERYTHING WILL CHANGE angemerkt, wie fassungslos er im Laufe der Recherche angesichts des Artensterbens wurde: „Wir leben zurzeit im Ausnahmezustand. Aber aus der Ferne der Zukunft wird man unsere Zeit nicht zuallererst als die ‘Virusjahre’ erinnern, sondern als die Ära der massenhaften Auslöschung von wildem Leben. Was einmal weg ist, ist für immer weg“ (Persiel 2022: 8).
EVERYTHING WILL CHANGE ist insofern interessant, als dass der Film wissenschaftliche Fakten zum Aussterben der Tier- und Pflanzenwelt mit fiktiver Narration verknüpft. Die Diskurse werden von Expert*innen und Forscher*innen vorgetragen (z.B. Prof. Stuart Pimm, Joëlle Chesselet, Prof. Rodolfo Dirzo u.a.), doch sprechen diese „aus der Ferne der Zukunft“ mit Blick auf unsere heutige Zeit. Es wird berichtet, dass es rückblickend aus dem Jahr 2054 nur drei Dekaden gegeben hat, in denen die Menschheit noch hätte handeln können, um einen Großteil der Arten zu retten. Die Narration in EVERYTHING WILL CHANGE dient also dazu, die Zuschauer*innen unmittelbar zu einem Handeln aufzufordern, indem Fakt und Fiktion ineinandergreifen, – für Persiel ist dies ein „dokumentarisches Märchen aus der Zukunft“ (ebd.).
Das Kino muss sich aber nicht nur in Bezug auf Narrationen transformieren, sondern auch hinsichtlich der natürlichen Ressourcen umdenken. Denn von allen Künsten verbraucht das Kino neben der Architektur die meisten Ressourcen – wobei, im Gegensatz zur Architektur, die Filmbauten nur vorübergehend sind und ihre Kulissen und Requisiten gar nicht beständig sein sollen (vgl. Wark 2014). Ein Beispiel sind die Sequels MATRIX RELOADED (USA/AUS 2003) und MATRIX REVOLUTIONS (USA/AUS 2003). Für ihre drei unterschiedlichen Studio-Filmsets wurden 70 Tonnen Holz und Styropor, 300 Tonnen Material für Hausfassaden, 7.700 Tonnen Beton, 1.500 Tonnen Stahl und 1.500 Tonnen Holz verbraucht (vgl. Bozak 2012: 6). Auch wenn angeblich 97,5 Prozent davon wiederverwertet werden konnten (vgl. ebd.), so gibt es viele andere Beispiele, wo die Kulissen, gerade wenn sie abseits eines Studios gebaut wurden, ihrem eigenen Verfall überlassen wurden. Noch heute existieren in der südlichen Wüste Tunesiens Überreste der Kulissen aus STAR WARS (USA 1977), die nach dem Drehschluss dort stehen gelassen wurden und inzwischen eingestürzt sind. Lediglich STAR WARS-Fans versuchen von Zeit zu Zeit, die Kulissen vor einem weiteren Verfall zu retten (vgl. Krick 2012).
Dass Recycling für den Film ein großes Problem darstellt, hat auch bereits Siegfried Kracauer in den 1920er Jahren für den Kulissenbau des Ufa-Studios festgehalten: „Man richtet die Stücke einzeln her und schafft sie an ihren Platz, wo sie geduldig stehen bleiben, bis man sie wieder abreißt“ (Kracauer 2021: 276). Materialien wie „Holz, Metall, Glas Ton“ (ebd.) werden für den Bau verbraucht und wieder abgerissen, dabei ließe sich folgendes tun: „Auch richtige Dinge wären aus ihnen zu machen“ (ebd.).
Wie Nadia Bozak ausführt, existieren zwar mittlerweile Non-Profit-Organisationen (z.B. „ReUse People“3), die Filmsets recyceln (vgl. Bozak 2012: 6), wie im Falle der MATRIX-Sequels, doch ist dies die Ausnahme. Gerade große Filmproduktionen generieren enorme Abfallmengen, die nicht immer dem Recyclingkreislauf zugeführt werden. Doch der Ressourcenverbrauch hört nicht mit der Produktion auf. Insbesondere der Umstieg auf digitale Projektionen im Kino bringt einen noch höheren Energieverbrauch mit sich (vgl. Heidsiek 2018: 15). Wie Jennifer Fay ausführt, haben ausgerechnet die menschlichen Bemühungen, die Erde sicherer, einladender und produktiver zu machen, dazu geführt, dass das Gegenteil bewirkt wurde. Denn die Menschen haben stattdessen eine Katastrophe für den Planeten heraufbeschworen (vgl. Fay 2018: 1–2). Fay schreibt: „In the attempts to master nature (including a human biological nature), we are now more than ever subject to a new nature we cannot master“ (vgl. ebd.: 2). Wir haben es heute also mit einer neuen Natur zu tun, die der Mensch nicht mehr beherrschen kann.
Diese vorangegangenen Überlegungen möchte ich mit dem Film ANNIHILATION verknüpfen, der beispielhaft als selbstreflexive Metapher für ein Kino vom Anthropozän und den Status des Films steht. Damit greife ich auch Fays These auf, dass der Film uns helfen kann, „to see and experience the Anthropocene as an aesthetic practice“ (vgl. ebd.: 4). Es ist der Versuch, neue Verbindungen herzustellen und einen veränderten Blick auf den Film und gleichzeitig auf das Anthropozän zu werfen.
Donna Haraway hat gefordert, dass wir andere Formen der Verwandtschaft brauchen, um auf der Erde überleben zu können. Da der Begriff „Anthropozän“ für sie eher ein Grenzereignis ist, man aber gerade jetzt über das Weiterleben auf einer geschädigten Erde nachdenken muss, plädiert sie für ein neues Zeitalter, das „Chthuluzän“: „'Mein' Chthuluzän […] verwickelt unzählige Zeiten und Räume und unzählige inter-aktive, zusammengefügte Entitäten – auch die Mehr-als-Menschlichen, die Anders-als-Menschlichen, die Unmenschlichen und die Menschen-als-Humus“ (Haraway 2018: 139). Das Mehr-als-Menschliche kann „sowohl Menschen als auch Tiere, Pflanzen, Maschinen, Cyborgs und viele andere sein, deren Heterogenität und Verschränkung mit anderen Akteur_innen bereits in der Bezeichnung mitgedacht wird“ (Ahrens 2020: 274), bezeichnen. Der Film ANNIHILATION gibt eine Ahnung davon, wie die Auflösung eines hegemonialen Dualismus von Natur und Mensch/Kultur aussehen könnte, wenn sich Pflanzen und Menschen zu neuen Entitäten zusammenfügen würden.
ANNIHILATION wurde in der deutschen Filmversion als „Auslöschung“ übersetzt. Gerade auch das große Artensterben wird häufig mit der Thematik der Auslöschung in Verbindung gebracht und kann daher analog zum Aussterben gelesen werden, als „eine radikale filmische Vision über Vergänglichkeit und Neuschöpfung“ (Schwartz 2018). Im Unterschied zu EVERYTHING WILL CHANGE erzählt ANNIHILATION nicht direkt vom Artensterben, sondern von einem sonderbaren organischen Wachstum in der Tier- und Pflanzenwelt, aus dem sich neue Lebensformen mit unmöglichen Formen und seltsamen Farben entwickeln. Auch der Mensch ist davon nicht ausgeschlossen, durch die Berührung damit mutiert er gewissermaßen zu einer neuen Lebensform.
ANNIHILATION handelt von einem fünfköpfigen Expeditionsteam an Wissenschaftlerinnen, die aufbrechen, um den sogenannten „Schimmer“ in „Area X“ zu erforschen. Dieser Schimmer ist eine Art bunt schillernde, transparente Blase, die sich nach einem Meteoriteneinschlag um ein Gebiet geschlossen hat und sich seitdem immer weiter ausbreitet. Die Zellbiologin Lena (Natalie Portman) ist Teil des Teams und wollte mit auf diese Expedition, nachdem ihr Mann Kane (Oscar Isaac) nach einem geheimen Einsatz in Area X als einziger zurückgekehrt ist – allerdings innerlich verändert, ohne Erinnerung und körperlich beschädigt. Lena möchte herausfinden, was dort passiert ist. Unter der Leitung der Psychologin Dr. Ventress (Jennifer Jason Leigh) bricht sie mit zwei weiteren Wissenschaftlerinnen aus den Bereichen Physik und Geomorphologie sowie einer Sanitäterin auf, um das Phänomen näher zu untersuchen. Da nichts aus den vorherigen Expeditionen bekannt ist, ist es eine Expedition ins Ungewisse.
Ungefähr in der Mitte des Films gibt es eine Szene, in der die Gruppe seltsame, mutierte Pflanzen mit menschenähnlichen Formen untersucht. Die Physikerin Josie (Tessa Thompson) stellt fest, dass innerhalb des Schimmers die Funk- und Lichtquellen gebrochen werden. Sie vermutet, dass das Erbgut der Pflanzen aus menschlichen Hox-Genen besteht – Gene, die die menschliche Körperstruktur definieren. Die Pflanzen besitzen demnach also einen menschlichen Bauplan, an dem sie sich mit dem Wachstum ihrer Zweige und Ranken orientieren. Josie und Lena folgern daraus, dass der Schimmer eigentlich ein Prisma ist, der alles bricht – dabei aber nicht nur Funk- und Lichtwellen, sondern tierische, pflanzliche und sogar menschliche DNS.
In ANNIHILATION wird der Mensch zu einer neu zusammengesetzten Entität, die sich mit dem Mehr-als-Menschlichen verbindet. Doch es ist keine friedliche Übernahme. Dem Ganzen ist das Subgenre Horrorfilm unterlegt. Kurz vor der endgültigen Mutation sagt Dr. Ventress zu Lena, dass etwas anderes als das Menschliche in ihr sei und dass es wachsen wird, bis es alles verschlungen habe, sie sagt: „Our bodies and our minds will be fragmented into their smallest parts until no one part remains. Annihilation.“
Als Lena am Ende des Films als einzige zurückkehrt und der Schimmer zerstört ist, wird sie unter Quarantäne gestellt und von Forscher*innen befragt. Auf die Frage, was der Schimmer wollte, weiß Lena keine Antwort. Den anderen ist die Antwort allerdings klar, sie sehen den Schimmer als etwas Außerirdisches mit folgender Absicht: „It was mutating our environment, it was destroying everything.“ Lena denkt kurz darüber nach und antwortet schließlich: „It wasn’t destroying. It was changing everything. It was making something new.“
Den Schimmer, im Sinne eines „It-was-making-something-new“, möchte ich als selbstreflexive Metapher in Verbindung mit einem „Anthropocenema“ oder „Anthropo{mise-en-s}cène“ lesen – als eine Veränderung des Kinos. Das Aussterben bzw. den Untergang des Kinos zu thematisieren, ist nicht neu. Im Laufe der Geschichte ist dies mehrfach geschehen, sei es bei der Einführung des Tonfilms, des Fernsehens und vielem mehr, immer dann, wenn eine neue Technologie eingeführt wurde. Susan Sontag schreibt in den 1990ern von einem unumkehrbaren Niedergang des Kinos (vgl. Sontag 1996) und Peter Greenaway verkündigte „Cinema is dead“, womit er das Ende des lange vorherrschenden klassischen Erzählkinos meinte (vgl. Gaudreault/Marion 2015: 1).
Während also lange Zeit Debatten zum Untergang des Kinos hauptsächlich mit der digitalen Transformation verknüpft waren und André Gaudreault und Philippe Marion in ihrem Buch „The End of Cinema?“ (2015) noch herausfinden wollten „whether cinema, in its shift to the digital, has simply made a turn […] or whether it is in the process of becoming something else” (ebd.: 5), wird Wark zur gleichen Zeit bereits deutlicher:„Cinema is part of the very thing that can and will be made into something else“ (Wark 2014 ).
Doch wohingehend verändert sich das aktuelle Kino oder inwiefern transformiert es sich zu etwas Neuem? Headlines von Beiträgen auf Websites, Foren, Kolumnen oder Kommentaren sehen das Kino auch heute noch als eine bedrohte Art, die ausstirbt und geschützt werden müsse. Die Fragen dort lauten: „Werden Kinos so wie Videotheken aussterben?“4, „Wird das Kino bald aussterben?“5, „Werden Kinos aussterben, wenn Streaming immer beliebter wird?“6 oder „Wird der Kinofilm wegen Netflix, Disney+ und Co aussterben?“7. Als Grund für ein Aussterben wird hier oft auf die neuen Sehgewohnheiten bzw. die Beliebtheit der Streamingdienste verwiesen.
ANNIHILATION hatte in Deutschland keine Kinopremiere, sondern wurde ab Februar 2018 nur auf den größten Märkten im Kino gezeigt. Doch bereits ab März 2018 konnte der Film über den Streamingdienst NETFLIX angesehen werden – angeblich, da ANNIHILATION nicht massentauglich sei und Regisseur Alex Garland sich weigerte, entsprechend nachzubessern (vgl. Schwartz 2018). Doch abgesehen davon, wie erfolgsversprechend ein Film für die Kinodistribution sein darf oder sollte, geht mit dem Streaming eine mediale Entwicklung einher, die im Angesicht knapper werdender Ressourcen auch hinsichtlich ihres CO2-Fußabdrucks innerhalb einer neuen grünen Kinopraxis betrachtet wird. Laut einer britischen Studie liegen die globalen Emissionen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) derzeit zwischen 2,1 und 3,9 %, mit steigender Tendenz (vgl. Freitag/Berners-Lee et al. 2021). Daher ist für ein grünes Kino nicht nur interessant, wie viele Ressourcen beim Dreh verbraucht wurden, inwiefern die Narration zu einem nachhaltigen Handeln aufrufen soll, sondern auch die Art der Filmauswertung mit der Praxis des Filmeschauens nimmt Anteil daran. Nadia Bozak schreibt mit Verweis auf Bazin und Vertov „cinema begins where the camera ends“ (2012: 24), das heißt:
Achieving a balance between what is represented and the means of representation, or between reality and the apparatus, suggests the same goals that drive carbon-neutrality and post-humanism: a residue-free, ecologically benign state of environmental symbiosis that exceeds the boundaries of physical materiality. (ebd.)
Im Sinne eines grünen Kinos müssen daher die Infrastrukturen des Films genauso Teil der Repräsentation sein wie die Narrationen. Die Vision des Aussterbens birgt das Potential, eine Diskussion über ein grüneres Kino in Gang zu setzen. Betrachtet man die materiellen Ökologien des Kinos, die Technologien und Produktionsbauten, so müssten diese nicht zu Abfallprodukten werden, sondern könnten in neuen Formen wiederbelebt oder weitergenutzt werden. Es könnten sich daraus neue mediale Beziehungen ergeben. So wie die Losung „Back to the Future” gewissermaßen ein Apell ist, aus der Zukunft etwas in der Gegenwart zu ändern, so könnte „Back to the Nature“ dazu aufrufen, die Beziehung zur Natur ernst zu nehmen und zu versuchen, die Gegenwart des Films zu verändern und im besten Falle die Natur, die Menschheit und das Kino vor dem Aussterben zu bewahren. ANNIHILATION erzählt von unvorhersehbaren Mutationen und einem Schimmer, der alles umgibt und sich immer weiter ausbreitet. Doch heißt dies nicht zwingend, dass alles Vorhandene komplett ausgelöscht wird, denn wie Marie-Luise Angerer mit Bezug auf Olivia Truffaut-Wong herausstellt, steht „annihilation“ in der Physik ebenso auch für „einen Vorgang der Kreation, wenn sich nämlich ein Partikel mit seinem Anti-Partikel verbindet und diese neue Kombination in Energie konvertiert“ (Angerer 2020:101-102). Doch wie viel kann man von etwas verändern, bevor es zu etwas völlig Neuem wird?
Es ist auch für den Film an der Zeit, aus der Blase auszubrechen, ein Aussterben zu vermeiden und kreativ zu werden. ANNIHILATION ist auch ein neuer Vorgang der Kreation, denn Garlands Film präsentiert ein anderes Ende als VanderMeers Roman. Während im Film am Ende Area X zerstört wird und Lena zurückkehrt, bleibt sie im Buch in Area X. „Ich werde nicht nach Hause zurückkehren“ ist ihr letzter Satz im Roman. Alison Sperling sieht sie im Buch „finding pleasure or joy in what she is becoming (…). A decision like the biologist’s, what we might call after Donna Haraway ‘staying with the trouble’” (Sperling 2019: 24). Dass es sich im Sinne Haraways um Begegnungen und Vermischungen mit dem Mehr-als-Menschlichen handelt, verleitet Lewis Gordon zu der Frage: „Is Annihilation the first true film of the Anthropocene era?“ (Gordon 2019). Für Haraway ist diese Verbindung essentiell für eine lebenswerte Zukunft.
Das Kino vom Anthropozän ist nicht nur ein Erzählen über das Anthropozän, sondern ein Erzählen mit dem Anthropozän und gleichzeitig geht es auch um den Umgang damit und eine Veränderung unserer Sichtweise. Gleichsam wie sich nach Haraway der Mensch mit anderen Entitäten vernetzen müsste, um die Erde zu retten, muss auch ein Kino vom Anthropozän eine neue Form des grünen Storytellings verbunden mit nachhaltiger Produktion kreieren, um zukunftsfähig zu sein und etwas Neues zu erschaffen.
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