Überlegungen zum subjektiven Realismus von FISH TANK
Mia, die Protagonistin von Andrea Arnolds FISH TANK (NL/UK 2009) ist permanent in Bewegung: Sie geht, kämpft, läuft, tanzt, rennt, bahnt sich ihren Weg durch den Film und ihr Parcours strukturiert die Erfahrung der Zuschauer:in. Ähnlich wie in ROSETTA (BE/F 1999), mit dem der Film auch sonst einige Gemeinsamkeiten hat, konzentriert sich die Kamera auf die junge Frau, die fast in jeder Einstellung zu sehen ist, wenn es sich nicht um eine PoV-Einstellung aus ihrer Sicht handelt. Es ist Mias Erlebensperspektive, die unseren Blick auf ihre Welt prägt. Ihre Welt: Das ist zunächst eine Hochhaussiedlung in Essex, östlich von London, wo Mia (Katie Jarvis; siehe Header-Abbildung) mit ihrer alleinerziehenden Mutter Joanne (Kierston Wareing) und ihrer jüngeren Schwester Tyler (Rebecca Griffiths) lebt. Die erste Sequenz etabliert diese Welt (Clip 1):
Vorstrukturiert ist die Kulmination der Sequenz durch einander opponierende Vorstellungen von Weiblichkeit: auf der einen Seite Keeley und ihre neuen, normkonformen Freundinnen mit der engen, kurzen, körperbetonten Kleidung, die sich für die Blicke der männlichen Jugendlichen exponieren; auf der anderen Mia, die Hoodie und weite Hose trägt und sich so der Norm verweigert. Francesco Sticchi beschreibt es (im Vokabular Michail Bachtins) folgendermaßen:
The antagonism between an over-eroticised and objectified femininity and Mia’s speech is one of the grounding dialogical motifs of this cinematic chronotope, reinforced and enacted also through the reciprocal hostility with her mother (abiding to the former category), with whom, in fact, she is involved in an endless series of verbal and physical fights. Furthermore, the dialogical negotiation between these different models of female subjectivities allows us to ground the experience by aligning with a character in complete conflict with her existential context, a chronotope where her desires and expectations appear evidently abnormal. (Sticchi 2021: 64)
Verschränkt mit diesem Diskurs über einander entgegengesetzte Modelle von Weiblichkeit ist allerdings, wie ich zeigen möchte, ein Diskurs über Klassendifferenzen, der subtiler gestaltet ist und sich erst im Laufe des Films entfaltet. FISH TANK erzählt eine Coming-of-age-Geschichte, die nicht nur ,éducation sentimentale‘ ist und ,éducation sexuelle‘, sondern auch ,éducation sociale‘.
„Nowadays it is fashionable to talk about race or gender; the uncool subject is class.“ – Der erste Satz aus bell hooks’ Where We Stand – Class Matters (2000b) war schon zum Zeitpunkt der Übersetzung ins Deutsche (2022 [2000a]) nicht mehr uneingeschränkt gültig. Die Anzahl an Publikationen, die sich mit Klassenfragen beschäftigen, hat in den vergangenen Jahren rasant zugenommen. Das Thema ist offenbar im Begriff, wieder cool zu werden: „Class is back“ (Robnik 2021: 10f.).
Allerdings hatte seine Tabuisierung – und mit Blick auf die Filmwissenschaft lässt sich hooks’ Diagnose voll bestätigen – wohl nicht nur soziologische und sozialpsychologische Gründe (die mehrheitliche Herkunft von Kulturwissenschaftler:innen aus bürgerlichen Verhältnissen, die mit Beschämung verbundene Marginalisierung von Forschenden anderer Herkunft), sondern vielleicht auch theoretische und konzeptionelle. Denn die Kategorie der Klasse lässt sich noch schwerer fassen als jene von ‚Race‘ und Gender (deren genaue Fassung auch umstritten ist). Trotz aller Dekonstruktionsbemühungen werden Gender und ‚Race‘ mehrheitlich binär kodiert (als männlich/weiblich* respektive weiß/nicht-weiß). Die zahlreichen Grenzfälle und multiplen Unschärfen zwischen den vermeintlich klaren Kategorien werden dabei meist vernachlässigt.
Bei Klassenfragen herrscht keine vergleichbare Ordnung im Diskurs. Weder sind die Kriterien der Unterscheidung klar, noch ob solche Kriterien überhaupt gefunden werden können. Während Soziolog:innen immer wieder neue Klassenstrukturen diagnostizieren,1 schlagen manche Sozialphilosoph:innen oder -theoretiker:innen vor, die Klassenkategorie als sozialen Auseinandersetzungen nachgeordnet zu betrachten, so jüngst Ruth Sonderegger (2021: 26ff.) mit Verweis auf E.P. Thompson und Alex Demirović. Klassen konstituieren sich demnach erst in Kämpfen, und je nach Kampffeld zeichnen sich andere Bruchlinien, andere Frontstellungen und damit andere Klassenformationen ab. Das ist einerseits plausibel: So spalten sich in einer der gegenwärtig dominanten sozialpolitischen Auseinandersetzungen – der um bezahlbares Wohnen – die Klassen im Wesentlichen nicht entlang von Arbeit und Kapital oder entlang von Fragen formaler Bildung oder kultureller Präferenzen, sondern von Miete und Immobilienbesitz. Andererseits lässt sich aber mit Bourdieu auch von tieferliegenden Klassenstrukturen sprechen, die gar nicht bewusst werden müssen, um wirksam zu sein, und sich nur ausnahmsweise in Kämpfen artikulieren:
Die Erfahrung von sozialer Welt und die darin steckende Konstruktionsarbeit vollziehen sich wesentlich in der Praxis, jenseits expliziter Vorstellung und verbalem Ausdruck. Einem Klassen-Unbewußten näher als einem ‚Klassenbewußtsein‘ im marxistichen Sinn, stellt der Sinn für die eigene Stellung im sozialen Raum – Goffmans ‚sense of one’s place‘ – die praktische Beherrschung der sozialen Struktur in ihrer Gesamtheit dar – vermittels des Sinns für den eingenommenen Platz in dieser. Die Wahrnehmungskategorien resultieren wesentlich aus der Inkorporierung der objektiven Strukturen des sozialen Raums. Sie sind es folglich, die die Akteure dazu bringen, die soziale Welt so wie sie ist hinzunehmen, als fraglos gegebene, statt sich gegen sie aufzulehnen und ihr andere, wenn nicht sogar vollkommen konträre Möglichkeiten entgegen zu setzen. (Bourdieu 1984: 17f.)
Die Widersprüche lassen sich vorerst kaum auflösen, zumal andere Aspekte die Diskussion weiter verkomplizieren.2 Dennoch kann von der Klassenkategorie auch nicht einfach abgesehen werden – zu offensichtlich leben wir in einer von Klassenantagonismen strukturierten Gesellschaft, zu massiv prägt die soziale Herkunft soziale Schicksale. Weite Teile des gesellschaftlichen Lebens sind von Klassendifferenzen bestimmt.
Für die Analyse von FISH TANK ist Bourdieus Zitat in mehrfacher Hinsicht relevant. Zunächst bleiben Klassenfragen hier tatsächlich unbenannt und vorbewusst, das etablierte Milieu wird anfangs nicht in Beziehung zu anderen Milieus gesetzt und seine soziale Überdeterminierung kommt allenfalls in symptomatischen Details zum Ausdruck. Das liegt auch daran, dass der Film konsequent aus Mias Perspektive erzählt ist. Auch wenn die Fokalisierung nicht als ‚intern‘, sondern eher als ‚extern‘ zu bezeichnen ist – „we’re not granted access to Mia’s thoughts, except through her actions“ (Christie 2011) – wird doch alles, was passiert, durch Mias Perspektive gewissermaßen gefiltert; ihr Erleben fungiert als „eine Art Informationsschleuse“ (Genette 1998 [1983]: 242).
Die Klassendifferenz tritt in Mias Lebenswelt in Person von Conor (Michael Fassbender), dem neuen Liebhaber ihrer Mutter Joanne.3 Im morgendlichen Sonnenlicht, mit nacktem Oberkörper und tiefsitzender Hose steht er plötzlich (wie ,ex nihilo‘) hinter ihr, während sie Moves aus einem Hip-Hop-Video nachahmt. Arnolds Mise en Scène rückt Michael Fassbender ins beste Licht: Conor sieht blendend aus, ist charmant und schon in dieser Szene souverän bis zur Überheblichkeit. Dass die Selbstverständlichkeit, mit der er Mias Bewegungen kommentiert („You dance like a black… It’s a compliment.“) und mit der er sich in der Küche am von ihr aufgesetzten Teewasser bedient, nicht nur mit seiner Gender-Sozialisierung, sondern auch mit seiner Klassenherkunft zusammenhängen könnte, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erkennen, jedenfalls nicht für Mia. Die Gender-Asymmetrie und der Altersunterschied verschleiern die Klassendifferenz.4
Erst 70 Erzählminuten und zahlreiche narrative Verwicklungen später erkennt Mia, dass Conor einem anderen Milieu angehört. Es ist interessant zu sehen, wie Andrea Arnold und ihr Kameramann Robbie Ryan das inszeniert und gefilmt haben (Clip 2):
Mia, die sonst immer hastet und rennt, verlangsamt ihren Schritt, als gelte die Aufforderung „Reduce your speed“ des Straßenschilds ihr persönlich. Um Orientierung bemüht blickt sie sich um. Sie bedankt sich sogar für eine Wegauskunft, was ansonsten nicht ihre Art ist. Eine Passantin beäugt sie kritisch, also wolle der Blick sagen: „Ich sehe, dass Du nicht hierhergehörst.“ In einer der wenigen Totalen des Films sehen wir, wie Mia in die Familienhaussiedlung eintritt wie durch ein Tor zu einer anderen Welt. Auch die Geräuschkulisse ändert sich, der Verkehrslärm wird leiser, dafür ist Vogelgezwitscher zu vernehmen.
Die Sequenz erinnert an Stellen aus Darren McGarveys autobiografischem Buch Poverty Safari, an denen der Autor den Besuch eines Kinderpsychologen beschreibt. Nachdem er Pollok, einen sozial depravierten Vorort Glasgows, zuvor selten verlassen konnte, muss er nun, im Alter von 12 Jahren, wöchentlich mit der U-Bahn zu dem Psychologen in den wohlhabenden Ortsteil Hillhead fahren. McGarvey schildert seinen ersten Besuch dort als ein Auftauchen in einer fremden Welt, in der eine andere Grundstimmung und andere Regeln herrschen:
The first thing I remember upon stepping off the escalator and onto the busy street was an odd feeling of relaxation. People here looked and sounded different in a way that was immediately apparent. [...] Where I grew up it was unusual to see clean pavements, but here the streets were in pristine condition and nothing like the turd gauntlet I was accustomed to running every day. Here dogs were attached to leads and walked by their owners, as opposed to the collarless, feral hounds running around outside the shopfront along the road from my house.“ (McGarvey 2017: 25f.)
McGarveys Beschreibungen permanent präsenter Aggression und Bedrohung und des entsprechenden Stresslevels in dem Viertel, in dem er aufwuchs, und die filmische Schilderung der Atmosphäre in FISH TANK sind bemerkenswert ähnlich. Das subjektive Empfinden des harten Kontrasts zur anderen, bürgerlichen Welt wird allerdings im einen Fall verbalisiert und ist im anderen nur anhand von Mias Verhalten zu erahnen. Narrativ entscheidender ist jedoch, dass sich die Differenz für Mia in Conor kristallisiert, der aufgrund ihrer adoleszenten Verliebtheit zum Zentrum ihrer Aufmerksamkeit geworden ist.
Erst retrospektiv vereindeutigen sich die zuvor als uncodiert gesetzten Differenzen zu Markierungen des Klassenunterschieds: Anders als Joanne besitzt Conor ein Auto; anstatt den Bewegungsradius auf das Viertel zu beschränken und in der freien Zeit fernzusehen, macht Conor mit Joanne, Mia und der kleinen Schwester Tyler einen Ausflug ins Grüne; im Unterschied zu Joanne und Mia hört Conor nicht zeitgenössischen Hip-Hop, sondern Oldies wie „California Dreamin‘“. Derartige Differenzen werden nicht nur wie nebenbei eingeführt, sondern durch den Dialog noch unterstrichen. Joanne kramt im Handschuhfach seines Autos nach CDs, fragt: „What is this?“ und nimmt eine CD in die Hand: „You’ve got some weird shit here, I’m telling ya.“ Er blickt kurz herüber: „Come off it.“ Joanne. „Yeah, it is weird.“ Conor: „You cannot call Bobby Womack ‚weird shit‘.“ Dann schiebt er die CD ein, drückt auf Play und kommentiert halbironisch paternalistisch: „Okay. It seems I’m gonna have to educate you girls.“ Solche Differenzen werden zwar markiert, bleiben aber dennoch subtil, sodass sie – aus Mias Sicht, die wie gesagt fokalisierungstechnisch maßgeblich ist – nur zu einer ,unbestimmten‘ Irritation führen.
Die Funktionsweise der simultanen Markierung und Verwischung der Differenzen in FISH TANK lässt sich mithilfe des semiotischen Konzepts der Paradigmatik besser nachvollziehen.5 Während die Syntagmatik die sequenzielle Verknüpfung der Elemente betrifft (z.B. im Satzbau oder in filmischen Szenen und Sequenzen), bezieht sich die Paradigmatik auf mögliche Alternativen innerhalb derselben Elementkategorie (z.B. ein Substantiv statt eines anderen, eine Einstellungsgröße statt einer anderen). Der Sinn der Setzung, dass Conor die Musik von Bobby Womack hört, lässt sich im Abgleich gegen andere Möglichkeiten erkennen: Er hört weder zeitgenössischen Hip-Hop oder aktuelle Dancefloor-Hits noch klassische Musik oder modernen Jazz. Ähnliches gilt für viele andere Attribute: Conor hat (im Unterschied zu Joanne) einen Job, aber er arbeitet nicht als Banker, Manager oder Universitätsprofessor, sondern in einem Baumarkt. Seine Kleidung ist weder besonders fein noch besonders billig. Er ist „soft“ (sagt Joanne, als er die völlig betrunkene Mia in ihr Bett trägt), soll heißen: sanfter und behutsamer als in diesem Milieu üblich – aber das könnte auch an seiner Zuneigung zu Mia liegen. Mit anderen Worten: Conors Differenz gegenüber dem Underclass-Milieu der Hochhaussiedlung, in der Joanne, Mia und Tyler wohnen, ist markiert, aber der Kontrast ist nicht so groß, dass Mia ihn zwingend im Sinne eines Klassenunterschieds decodieren müsste. Tatsächlich wirkt Conor wie ein Klassenamphibium: Wie ein Fisch im Wasser (oder im ,fish tank‘) bewegt er sich im Underclass-Milieu, bringt Dosenbier zu Joannes Party mit, kann feiern und vögeln wie ein Prolet und zelebriert so ein ,class-passing‘ nach unten.6
Dass dieses Passing überhaupt möglich ist, liegt auch an der Ausdifferenzierung und Teilnivellierung des Klassensystems in Großbritannien, dessen Abstufungen tatsächlich ,fein‘ sind – nicht mehr so grob und klar codiert, wie es George Orwell für das 19. und frühe 20. Jahrhundert beschrieb. Damals habe sich jedes Individuum augenblicklich anhand von äußerlichen Merkmalen wie Kleidung, Umgangsform und Akzent im Klassengefüge verorten lassen.7In jüngerer Zeit habe sich das jedoch geändert: „So far as outward appearance goes, the clothes of rich and poor, especially in the case of women, differ far less than they did thirty or even fifteen years ago.“ (ebd.: 32). Diese Entwicklung hat sich seither einerseits fortgesetzt, andererseits haben sich neue, nunmehr weniger von der Klassenstruktur abhängige Differenzierungen ergeben. Im fein abgestuften Klassensystem Großbritanniens verortete Orwell sich selbst übrigens in der „lower-upper-middle class“ (Orwell 1937: 113).
Aufgrund der angesprochenen, konsequent durchgehaltenen Fokalisierungsstruktur wird vieles, was an diesem Klassensystem intrikat und erklärungsbedürftig wäre, in FISH TANK allenfalls gestreift. An keiner Stelle ist der Film um Ursachenanalyse bemüht; Themen wie Ausbeutung, systemische Asymmetrien und struktureller Klassismus werden lediglich angedeutet. Kritiker:innen, die an FISH TANK den marxistisch informierten Realismus von Ken Loach vermissen,8 haben diese vermeintlichen Mängel beklagt:
[W]hile Fish Tank’s cinéma vérité cinematography, extreme close-ups and location shooting contribute to the reading of the text as part of a British social realist film culture, the film’s indifference to the nature of its working class representation constitutes the main problem in this context. […] In other words, while the naturalistic casting, filming on location and chronological shooting might grant the film an aura of realism, its culturally verisimilar features narrative obscures the social problems the film-maker seeks to depict. In this way, the film can be interpreted as a depolitical character study devoid of its social context. (Nwonka 2014: 213)
Dieses Urteil und die ihm zugrunde liegende Analyse erscheinen mir doppelt ungenau. Erstens ist an Nwonkas Kritik und ähnlich lautenden Äußerungen die implizite Prämisse fragwürdig, dass sich alle Filmschaffenden, die sich mit sozialen Fragen auseinandersetzen, am Modell des politischen Realismus von Loach orientieren sollten. Mir erscheint umgekehrt gerade eine Pluralität sowohl der filmischen Form wie auch des thematischen Fokus notwendig, um die Komplexität der Klassengesellschaft kinematografisch greifbar zu machen. Weder wäre es attraktiv, nur Filme der Loach-Variante zu sehen, noch wäre umgekehrt der Verzicht darauf wünschenswert. Die Kritik an Arnold im Namen eines klassenbewussteren Kinos erscheint mir sowenig plausibel wie umgekehrt die Kritik an Loach im Namen einer weniger didaktischen Filmpoetik.
Daraus ergibt sich für mich ein Plädoyer für einen politisch progressiven Pluralismus:9ein weitherziges Willkommenheißen unterschiedlicher Poetiken, von denen manche stärker auf Kritik und Analyse, andere auf phänomenologische Erfahrung, dritte auf Ermutigung und Ermächtigung im politischen Kampf setzen; von denen einige sich den Problemen der alten (und neuen) Arbeiterklasse, andere denen der neuen (und alten) Unterklasse, wieder andere denen der Mittel- und der Oberklasse widmen; von denen manche – wie FISH TANK, NORDRAND (A/D/CH 1999) und ROSETTA – intersektionale Verbindungen zu Fragen von Gender filmisch bearbeiten, während Werke wie GET OUT (USA 2017) die ,Race‘-Komponente der Klassengesellschaft und andere, wie CLAUDINE (USA 1974), ,triple oppression‘ thematisieren. Ein solcher progressiver Pluralismus wäre nicht unkritisch, aber er würde einer solidarischen Kritik wohlwollende Lektüren zugrunde legen. Für FISH TANK bedeutet das, die darin vorhandenen Fragmente eines Klassendiskurse nicht am Anspruch einer umfassenden Gesellschaftskritik zu messen.
Darüber hinaus ist zweitens fragwürdig, inwiefern sich FISH TANK so nahtlos in das Quasi-Genre des sozialrealistischen Films eintragen lässt, wie Nwonka und andere (Bradshaw 2009; Knörer 2010) behaupten. Dagegen sprechen schon einige enigmatisch anmutende Details, wie etwa die von Catherine Grant in einem schönen Video-Essay thematisierte Einstellung einer gesplitterten Scheibe,10 die den Film durchziehen. Manche Einstellungen, wie der Close-up eines sterbenden Fischs (Abb. 1), können als (realistisch motivierte) Metaphern gelesen werden; andere wie der PoV-Shot einer kaputten, auf dem Schrottplatz am Boden liegenden CD-Hülle vielleicht als (affektiv aufgeladene) Wirklichkeitseffekte (Abb. 2; vgl. Kirsten 2013: 167–176). Wieder andere lassen sich kaum plausibilisieren und bleiben (kurze, nicht nachhaltig störende) Irritationen, etwa die Aufnahmen von Tylers Kinderzimmer, in denen wir kleine Katzenaufkleber am Hochbett oder Strichzeichnungen an der Wand erkennen. Sie sind nicht in den narrativen Verlauf eingebunden, tragen allenfalls zur Atmosphäre bei (einer Mischung aus kindlicher Unbeschwertheit und Verwahrlosung), besitzen aber in ihrer ins Abstrakte tendierenden Farbkomposition auch einen ästhetischen Eigenwert (Abb. 3). Insgesamt ist die Découpage von FISH TANK viel weniger klassisch als die der Filme von Loach, eher am Stil der Dardenne-Brüder orientiert, aber weniger formal konsequent, freier, nervöser.11 Ergänzt wird sie um eine komplexe und vielschichtige Tonspur, auf der Geräusche unterschiedlicher Quellen unmerklich ineinander übergehen. Unterhalb, innerhalb oder neben dem offensichtlichen Naturalismus wird in Fragmenten ein anderer, ungebundener und fast experimenteller Film sichtbar.
Der Erzählmodus ist, wie schon gesagt, durch eine weitgehend externe Fokalisierung bei konsequentem Fokus auf Mia charakterisiert. Die Okularisierung (die optische Perspektive) ist manchmal klar ‚intern‘ (so in einer Einstellung, die durch Mias nur halbgeöffnete Lider zeigt, wie Conor sie ins Bett bringt und ihr die Schuhe auszieht; Abb. 4); die akustische Perspektive changiert, auch hier ohne allzu offensichtliche Motivierung, zwischen interner, externer und Null-Aurikularisierung. So hören wir in einer Szene Mias Tanzschritte und nur sehr leise die Musik, die sie per Kopfhörer hört, im Anschluss dann aber, begleitet von einem unbestimmten Wassergluckern und anderen „unidentifizierbaren Klangobjekten“ (Flückiger 2001: 126ff.) vergleichsweise laut ihr eigenes Atmen, was wiederum in das Rauschen von Blättern im Abendwind übergeht (Clip 3):
Insgesamt handelt es sich – trotz „miserabilistischer“ und naturalistischer Anmutung („culturally verisimilar features narrative“; s.o.) und externer Fokalisierung – um einen derart ,subjektiven Realismus‘, dass die Grenze zum unzuverlässigen Erzählen porös wird.12Die Auswirkungen des Erzählmodus auf die Behandlung der Klassenthematik habe ich oben schon angedeutet: In FISH TANK wird die Struktur der Klassengesellschaft nicht analysiert, sondern ihr unmittelbares Erleben dargestellt. Thema ist nicht ein Klassenbewusstsein, sondern das von Bourdieu beschriebene „Klassen-Unbewusste“.
Während aber Bourdieu nur dessen konservative Tendenz betont, den „sense of one’s place“, der kein Begreifen der Struktur voraussetzt, rebelliert Mia spontan dagegen, sobald sie diese Struktur und die mit ihr verbundenen Determinismen zu erkennen beginnt. Der einzige Ort, der sich ihr zu bieten scheint, nachdem sie von der Schule verwiesen werden soll und ihre Mutter sie in die Obhut einer staatlichen Einrichtung geben will, ist der als Tänzerin in einem Erotikclub. An diesem Ort bündelt sich die doppelte Unterdrückung durch patriarchale und klassistische Strukturen. Sobald Mia der Charakter des Vortanzens, zu dem sie eingeladen wurde, klar geworden ist, verlässt sie es, ohne sich weiter zu exponieren.
Die angesprochene doppelte Unterdrückung durch patriarchale und klassistische Strukturen, die oft mit der Metapher der Intersektionalität bezeichnet wird,13 ist in FISH TANK ihrerseits asymmetrisch strukturiert. Es existieren Differenzen zwischen den Arten der Differenzerfahrungen, die Mia im Laufe des Films macht. So wird der Genderaspekt durch eine doppelte Differenz markiert: Neben der Differenz zum als männlich codierten Geschlecht, dessen paternalistische Ausformung Conor repräsentiert, steht die oben angesprochene Differenz verschiedener Modelle von Weiblichkeit. Diese Modelle sind wiederum auf die grundlegende Differenz bezogen, da sie zwei verschiedene Umgänge mit ihr bedeuten: einen sich für den ,male gaze‘ exponierenden, einen sich ihm verweigernden. Dieses doppelt dichotome Gewebe, in das Mia eingebunden ist, wird durch die Figur des Billy aufgebrochen, der Mia von vornherein als Gleiche betrachtet und ihr auf Augenhöhe begegnet – sein Blick ist weder paternalistisch noch sexistisch. Die Augenhöhe hängt auch mit der geteilten Klassenposition zusammen: Beide sind jenem Segment des Proletariats zuzurechnen, das von Marx despektierlich als Lumpen-, von anderen als Subproletariat, in Deutschland heute meist als Unterschicht und in Großbritannien als ,underclass‘ bezeichnet wird. Anders als die integrierte ,working class‘ steht dieses Segment (erneut metaphorisch gesprochen) ‚am Rande‘ der bürgerlichen Gesellschaft und teilt deren Werte nur bedingt. Dass dies nicht nur Elend und Depravation bedeuten muss, sondern auch Aspekte der Freiheit mit sich bringt, deutet Arnold am Ende ihres Films an (und führt dies einige Jahre später in AMERICAN HONEY [USA/UK 2016] weiter aus). Der Mutter, Conor und dem staatlichen Zugriff in Form der Schulbehörde sich entziehend, bricht Mia mit Billy nach Wales in eine ungewisse Zukunft auf.
Diese finale Flucht ist so wenig ein politischer Akt wie zuvor der Abbruch des Vortanzens – an den Strukturen und damit an der Reproduktion der Probleme wird sich dadurch nichts ändern. Aber sie folgen Mias intuitiver Ablehnung von oppressiven Institutionen jedweder Art. Ohne die Option politisch gestaltender Transformation bleibt (neben der Randale) nur der Versuch, sich den Mechanismen und Akteuren patriarchaler und klassistischer Bevormundung so weit wie möglich zu entziehen. Aus meiner Sicht ist es die Kombination von subjektivem Realismus und spontaner Rebellion, über die sich FISH TANK ins Spektrum politisch progressiver Filme zur Klassenfrage einträgt.
Adamczak, Bini (2017) Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (1984) Sozialer Raum und ‚Klassen‘, in: Ders. Sozialer Raum und ‚Klassen‘; Leçon sur la leçon. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 9–45.
Bradshaw, Peter (2009) Fish Tank, in: The Guardian, 10.09.2009.
https://www.theguardian.com/film/2009/sep/10/fish-tank-review (30.11.2021).
Brütsch, Matthias (2011) Von der ironischen Distanz zur überraschenden Wendung: Wie sich das unzuverlässige Erzählen von der Literatur- in die Filmwissenschaft verschob, in: Kunsttexte 1.
http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-1/bruetsch-matthias-8/PDF/bruetsch.pdf (30.11.2021).
Christie, Ian (2011) Fish Tank: An England Story, in: Criterion, 22.02.2011.
https://www.criterion.com/current/posts/1764-fish-tank-an-england-story (30.11.2021).
Flückiger, Barbara (2001) Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films. Marburg: Schüren 2007.
Genette, Gérard (1983) Neuer Diskurs der Erzählung, in: Die Erzählung. 2. Aufl. München: Fink 1998, S. 193–298.
Grant, Catherine (2016) Beyond Tautology? Audio-Visual Film Criticism, in: Film Criticism 40, Nr. 1. DOI: https://doi.org/10.3998/fc.13761232.0040.113.
Gregory, Stephan (2021) Class Trouble. Eine Mediengeschichte der Klassengesellschaft. Paderborn: Brill/Fink.
Hartmann, Britta (2009) Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Marburg: Schüren.
hooks, bell (2000a) Die Bedeutung von Klasse: Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind. Münster: Unrast 2020.
hooks, bell (2000b) Where We Stand: Class Matters. New York/London: Routledge.
Ince, Kate (2017) The Body and the Screen: Female Subjectivities in Contemporary Women’s Cinema. London: Bloomsbury.
Jacquet, Chantal (2018) Zwischen den Klassen: Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Konstanz: Konstanz University Press.
Kirsten, Guido (2013) Filmischer Realismus. Marburg: Schüren.
Klinger, Cornelia (2008) Überkreuzende Identitäten – Ineinandergreifende Strukturen. Plädoyer für einen Kurswechsel in der Intersektionalitätsdebatte, in: Dies./Knapp, Gudrun-Axeli (Hg.) ÜberKreuzungen: Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 38–67.
Knörer, Ekkehard (2010) Miserabilismus zu sehr ermäßigten Konditionen, in: Perlentaucher, 22.09.2010. https://www.perlentaucher.de/im-kino/miserabilismus-zu-sehr-ermaessigten-konditionen.html (30.11.2021).
McGarvey, Darren (2017) Poverty Safari. Understanding the Anger of Britain's Underclass. Edinburgh: Luath Press.
Nwonka, Clive J. (2014) ‚You’re what’s wrong with me‘: Fish Tank, The Selfish Giant and the Language of Contemporary British Social Realism, in: New Cinemas 12, Nr. 3, S. 205–223. DOI: https://doi.org/10.1386/ncin.12.3.205_1.
Odin, Roger (1990) Cinéma et production de sens. Paris: A. Colin.
Orwell, George (1940) Charles Dickens, in: Ders. Shooting an Elephant and Other Essays, London: Penguin 2009, S. 49–114.
Orwell, George (1941) The Lion and the Unicorn. London: Penguin 2018.
Orwell, George (1937) The Road to Wigan Pier. London: Penguin 2001.
Reckwitz, Andreas (2019) Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp.
Robnik, Drehli (2021) Einleitung: Klasse als Sicht und Sache, in: Ders. (Hg.) Klassen sehen. Soziale Konflikte und ihre Szenarien, Münster: Unrast, S. 7–12.
Sonderegger, Ruth (2021) Multiple Klass(e)ifizierungen in der (kunst-)universitären Bildung: Plädoyer für eine Auflockerung, in: Robnik, Drehli (Hg.) Klassen sehen. Soziale Konflikte und ihre Szenarien, Münster: Unrast, S. 13–44.
Sticchi, Francesco (2021) Mapping Precarity in Contemporary Cinema and Television: Chronotopes of Anxiety, Depression, Expulsion/Extinction. Cham: Springer/Palgrave Macmillan.