Filmisches Denken zwischen viraler Aneignung und digitaler Ansteckung in Chloé Galibert-Laînés Desktop Documentary
Bei dem sogenannten Morgellons-Syndrom haben Betroffene den Eindruck, dass Fasern, mal fädig, mal granulös oder auch ‚autofluoreszierend‘, spontan aus der Haut wachsen oder dass sich Insekten unter der Haut befinden (vgl.: Koo et al. 2006). Da dermatologische Tests wiederholt keine Befunde erbringen, die diesen Eindruck bestätigen könnten, interpretiert die klinische Medizin das Phänomen weniger als eine Erkrankung der Haut als eher des psychischen Apparats in Form des sogenannten Dermatozoenwahns (vgl.: Freudenmann et al. 2010; Burke/Waddel 2006). 1 Seit dem 17. Jahrhundert weitestgehend in Vergessenheit geraten, 2 re-etablierte sich der Begriff Morgellons 2002, als die US-amerikanische Biologin Mary Leitao bei der Internetrecherche über die Hautläsionen ihres zweijährigen Kindes darauf stieß (vgl.: Fesler et al. 2018). Sie gründete daraufhin die Morgellons Research Foundation (MRF), „[…] with a medical board that boasts five MDs and an RN. Interestingly, none are dermatologists“, wie Caroline Koblenzer betont (2006: 921).
Medizinhistorisch wie medientheoretisch ist das Syndrom von speziellem Interesse,3 denn seine epidemiologische Verbreitung scheint nicht biologisch, sondern medial bedingt und steht eng in Verbindung zur Digitalisierung unserer Erfahrungswelt. Koblenzer verweist darauf, dass, wer z.B. ‚bugs under the skin‘ googelt, früher oder später auf die Website der MRF trifft, deren Berichte den eigenen Verdacht bestätigen (vgl. ebd.). Die Prävalenz der Krankheit fällt mit der Digitalisierung zusammen, wird durch sie sogar ermöglicht. Die Ausbreitung des selbst-diagnostizierten Syndroms wird wie die eines ‚viralen‘ Internet Memes beschrieben (dessen Wortherkunft selbst ja wiederum auf einen Biologismus, die Verschmelzung der Worte ‚memory‘ und ‚gene‘, zurückzuführen ist; vgl.: Dawkins 1976).
The recent success of the Morgellons-disease meme is, in part, explained by the fact that the Morgellons label resonates with symptomatic individuals. In one person’s words: ‚I felt so relieved. I found all these people talking about the same thing I was.‘ […] For Morgellons disease, most information available to patients exists on the Internet; thus, the World Wide Web is a second important contributor to the proliferation of the Morgellons moniker. With widespread reports dating back only about 3 years, Morgellons has seen explosive growth for a concept dormant for more than 300 years. (Lustig et al. 2009: 90)
Der essayistische Desktop-Film WATCHING THE PAIN OF OTHERS (F 2019, 31 Min.) der französischen Filmemacherin und Medienwissenschaftlerin Chloé Galibert-Laîné widmet sich diesem medizinischen Internetphänomen und den Bedingungen seiner Verbreitung. Die Desktop Documentary geht von der Rezeptionserfahrung eines anderen Films aus: Penny Lanes dokumentarischem Kompilationsfilm THE PAIN OF OTHERS (USA 2018, 71 Min.) über drei nordamerikanische Youtuberinnen namens Carrie, Marcia und Tasha, die in ihren Videos von ihren Morgellons-Symptomen erzählen. Galibert-Laînés Desktop-Film lässt sich als Video-Tagebuch verstehen, in dem die Filmemacherin sich tiefer damit beschäftigt, was Lanes Film in ihr auslöst. Mehr noch gelingt es ihr, von der Reflexion der eigenen Wahrnehmung auf generelle Verhaltensweisen in den Social Media zu schließen und so die persönliche Erfahrung für ihre Forschung zu sozialen und medialen Online-Praktiken anschlussfähig zu machen. Dabei stellt die Desktop Documentary das Entdecken, Recherchieren und Selbst-Diagnostizieren als alltägliche Prozesse digitaler Interaktion aus und präsentiert diese „in the digital environment“ (Bešlagić 2019: 52) der Desktop-Oberfläche.
Das Desktop-Interface in Galibert-Laînés Film gestaltet mediale Aneignungspraktiken bidirektional, zum einen in seiner Resonanz mit anderen Empfänger*innen in der virtuellen Oberfläche (epidemisch) und zum anderen in eigener Resonanz auf der körperlichen Oberfläche (epidermisch). Aneignung, so die These, bedeutet in dem Sinne nicht nur eine remediatisierte Form fremder Inhalte, welche Zuschauer*innen zu Akteur*innen ermächtigt (vgl.: Diekmann 2018). Bei Galibert-Laîné wird Aneignung vielmehr als ein wechselseitiger Prozess verhandelt, in dem jenes Verhalten der Zuschauer*innen bzw. User*innen auch im Gefüge digitaler Mediatisierungs- und Kommunikationsdynamiken instrumentalisiert wird: Ihr Aneignen reproduziert diese Dynamiken und wird dabei selbst davon eingenommen; es assimiliert einen wie einen Wirt, der von einem Parasiten gelenkt wird, um die Verbreitung zu gewährleisten. Galibert-Laînés Kollege und Desktop-Film-Essayist Kevin B. Lee beschreibt diese Erfahrung aus seinem Medienverhalten am eigenen Leibe:
Eventually I grew alienated from these activities, feeling that the pursuit of my cultural enthusiasms as a profession had chained me to machines—not just the laptop but also the mechanisms of the social web—and that I was becoming increasingly machine-like as a result. (Lee 2016: 212f.)
Diese Verwicklung führt WATCHING THE PAIN OF OTHERS indes über die Metapher der medial-ansteckenden Krankheit vor Augen, und dieser Aufsatz wird sich ihr dahingehend in drei Schritten annähern: Um die Bidirektionalität der filmischen Wirkung nachzuvollziehen, werden im ersten Schritt (Kap. 2) zwei mögliche Eigenschaften des filmischen Denkens erörtert: die methodische Übersetzung formgebender in erkenntnistheoretische Parameter sowie die semiotische Anschlussfähigkeit an den wissenschaftlichen Diskurs. Beide fungieren als Voraussetzung für einen mit dem filmischen Denken einhergehenden erkenntnistheoretischen Prozess, der initiiert wird durch audiovisuelle und zeitbasierte Wissensformen der Desktop Documentary. In einem zweiten Schritt wird diese ‚ansteckende‘ Erkenntnisproduktion nachgezeichnet anhand der dem Film zugrundeliegenden Metapher (Kap. 3.1.) sowie der subjektiven Rolle der Filmemacherin/Forscherin (Kap. 3.2.). Der dritte Schritt (Kap. 4.1. und 4.2.) überprüft die Diskursfähigkeit hinsichtlich der filmeigenen Verschränkungen von zeitbasiertem Erkenntnisgewinn und gelangt darüber auch zur Reflexion der Mechanismen der Bidirektionalität.
Desktop Documentaries setzen sich die Bildfläche eines Computer-Bildschirms als formale Grenze, und innerhalb dieser Grenze präsentieren sie die Anwendungen, Web-Contents sowie Benachrichtigungs- und Kommunikationsfenster im Rahmen ihrer digitalen Rezeptionsweisen. Betrachter*innen werden Zeugen eines ihnen höchstwahrscheinlich vertrauten Arbeitsprozesses am Computer-Monitor, wobei sich die Erfahrungen der Filmemachenden und des Publikums miteinander synchronisieren. „Since we see the researcher searching, it is like having a secretive look into his or her creative (or intellectual) process.“ (Strauven 2016: 152) Die Anzahl an Desktop Documentaries hat seit dem ersten Aufkommen – APPLE COMPUTERS (Nick Briz, USA 2013, 31 Min.) und GROSSE FATIGUE (Camille Henrot, F 2013, 13 Min.) – rapide zugenommen. Die Medienforschung befasst sich mit Desktop Documentaries bis dato hinsichtlich der Ermächtigung der Zuschauerschaft (vgl.: Diekmann 2018), den Möglichkeiten der zugrundeliegenden Algorithmen als demokratisches Archiv (vgl.: Rothöhler 2014) sowie als Werkzeug der ethnografischen Forschung (vgl.: Köhn 2020) oder künstlerischer Ausdrucksweisen im Gefolge etablierter Found-Footage- bzw. Postproduktionstechniken (vgl.: Bachmann 2017; Bešlagić 2019). Weniger wurde bislang darauf eingegangen, inwiefern sich Desktop-Filme als spezifisches Subgenre dazu eignen, einen Rezeptions- und Produktionsprozess nachzuzeichnen und erlebbar zu machen, und welche Form dafür gefunden wird. Die Form des vorliegenden Beispiels gestaltet sich etwa durch ihre Bidirektionalität: Sie skizziert nicht nur die Immersion der Zuschauer*in/User*in in die virtuelle Welt, sondern beleuchtet auch den Einzug der virtuellen Welt in die realweltliche Erfahrung der Person vor dem Bildschirm.
Die Besonderheit der Desktop Documentary liegt vielleicht selbst in ihrer ansteckenden Wirkung: ausgelöst durch ein Nachvollziehen von Entscheidungsprozessen; durch die Faszination, beizuwohnen, wie Inhalte entdeckt und gleichzeitig präsentiert werden; durch das Bewusstwerden eigener Handlungs- und Verhaltensweisen in der digitalen Interaktion; sowie die Brisanz der Inhalte und ihrer Zusammenhänge in einer mediatisierten Welt. Kevin B. Lee beschreibt den sinnstiftenden Effekt anhand seiner einschlägigen Desktop Documentary TRANSFORMERS: THE PRE-MAKE (USA 2014, 24 Min.) wie folgt:
The positioning of one audio-visual element alongside another creates the effect described by Harun Farocki as ‚soft montage‘, where meaning is made through the spatial juxtaposition of clips as opposed to the traditional montage effect of linear sequencing. In the specific context of the desktop, this soft montage effect also preserves the quality of each image as a screen object occupying a limited space, rather than presenting an all-encompassing screen view. (Lee 2016: 219)
Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses der Desktop Documentary richtet sich die Frage nach der Form des filmischen Denkens auch auf die Anbindung an einen wissenschaftlichen Kontext. Immerhin präsentiert sich Galibert-Laînés Film selbst als Forschungsarbeit mit „epistemologischer Relevanz“, zunächst mehrmals im Film selbst und auch in seinen Paratexten.4 Thomas Weber definiert die epistemologische Relevanz als „das, was man in einem bestimmten medialen Milieu durch sie und an ihnen zu erkennen glaubt und was ihnen als Erkenntnispotenzial zugesprochen wird.“ (Weber 2018: 110) Akademische Diskursfähigkeit sei demgemäß durch zwei Eigenschaften bestimmt: eine Übertragung formgebender in erkenntnistheoretische Parameter sowie die semiotische Anschlussfähigkeit an den wissenschaftlichen Diskurs selbst.
Um mit letzterer Eigenschaft zu beginnen, lässt sich festhalten, dass sich die traditionelle akademische Debatte über die Trennung zwischen diskursiv-sprachlicher (d.h. vermeintlich wissenschaftlich stichhaltiger) und präkognitiv-nichtbegrifflicher (situierter und variabler) Erkenntnis weitestgehend auf zwei Richtungen bezieht: entweder die Dokumentation des Forschungsprozesses im Sinne einer sachlichen Rekonstruktion (die aber die Formalästhetik der Forschung als maßgebliches Konstituens des Erkenntnisgewinns ignoriert); oder die Möglichkeiten der Verbalisierung der Forschungsergebnisse (was schnell zu einer affirmativen Perspektive auf die Projektergebnisse führen kann). Zur Überwindung dieser Trennung schlägt Henk Borgdorff vor, sich diskursiv der künstlerischen Forschung anzunähern: nicht indem Schlussfolgerungen aus der künstlerischen Beobachtung gezogen werden,5 sondern der besondere Erkenntnischarakter ästhetischer Erfahrung berücksichtigt wird, nämlich dass diese weniger Gedanken oder Begriffe als abgeschlossen präsentiert als sie vielmehr initiiert. Dies wären „Gedanken und Begriffe, die sich sozusagen selbst in einer Weise um ein Kunstwerk versammeln, dass das Kunstobjekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selbst zu sprechen beginnt.“ (Borgdorff 2012: 74). Diese Schwellenprozesse gelte es Borgdorff zufolge zu suggerieren. Das Verhältnis der Desktop Documentary zu ihrem Gegenstand kann demgemäß als Remediation beschrieben werden, denn so können die dahinter liegenden Prozesse erfahrbar gemacht und aufbereitet werden, ohne sie ihrer formalen Aspekte zu berauben. „Im Gegensatz zu einer Deutung des künstlerischen Werks oder einer Rekonstruktion des künstlerischen Prozesses geht letztere Option mit einer Emulation oder Nachahmung des in der Kunst verkörperten nichtbegrifflichen Inhalts oder einer Anspielung auf diesen einher.“ (Ebd.: 87)
Der Begriff Remediation wurde durch Richard Grusin und Jay Bolter im Zuge der Theoretisierung elektronischer und digitaler Medien in das Feld der New Media Theory eingeführt. Grundsätzlich beschreibt Remediation die Repräsentation eines Mediums in einem anderen. Dies impliziert auch das Spannungsverhältnis, in welchem die neue Mediengeneration hinter der Repräsentation der älteren Generation verborgen bleiben und sich gleichzeitig durch sie hindurch ausweisen muss: Im ersten Moment legitimiere sich ein neues Medium, indem es Zugang zum Inhalt des älteren Mediums verschafft. Es habe den Anspruch der Transparenz, damit die Mediennutzer*innen in unveränderter Beziehung zum Inhalt stehen können. Infolgedessen müsste sich das neue Medium allerdings selbst wieder ins Spiel bringen, um seinen Stellenwert zu verteidigen „call[ing] into question the character of a text or the status of an image.“ (Bolter/Grusin 1999: 46). Formal geschieht dies im vorliegenden Beispiel etwa durch die Rahmung der fragmentierten Inhalte auf der Oberfläche der Desktop-Fenster und Browser-Frames (‚appropriation‘), die die Zuschauer*innen infrage zu stellen aufgerufen sind.
Die andere Komponente der Diskursfähigkeit ist die Möglichkeit einer Übersetzung formgebender in erkenntnistheoretische Parameter. Sie zielt ab auf die im Zentrum dieses Aufsatzes stehende Diskussion um die Möglichkeiten und Ausprägungen filmischen Denkens. Dieter Mersch weist darauf hin, dass ein ästhetisches Denken nur pluralistisch zu verstehen sein und sich nicht außerhalb der konzeptuellen Trennung von Diskurs und dessen Kehrseite vollziehen kann:
Wenn es eine genuin visuelle Form des Denkens, eine spezifisch ästhetische Dimension des Wissens gibt, worin besteht diese, ohne bereits auf die gängigen Schemata des Diskurses bzw. eine Differenz zwischen Diskursivität und Nichtdiskursivität zu rekurrieren und damit in der Tat einen ‚Unter-Schied‘ oder eine Teilung zu setzen, die über den Operator der Negation dualistisch verfährt? Denn jede Trennungslinie zwischen dem ‚Diskursiven‘ und ‚Nichtdiskursiven‘ verläuft selbst schon innerhalb des Diskursiven und zeichnet damit Diskursivität als Medium der Unterscheidung aus. (Mersch 2018: 25; Herv. i.O.)
Die Desktop Documentaries ermöglichen es, Bewegtbilder in die gedankliche Abhandlung zu integrieren, ohne sie zu verändern oder als Ekphrasis ins Schriftliche übersetzen zu müssen. W.J.T. Mitchells Definition der Ekphrasis als „the verbal representation of a visual representation“ (1994a: 152) zeichnet den jahrhundertelangen und – ihm zufolge – vergeblichen Versuch nach, die Trennung von Wort und Bild zu überwinden. Aus der zunächst einsichtigen Resignation über die Aussichtslosigkeit des Unterfangens werde im Gegenzug dann eine Überhöhung in die Kunst projiziert, sie entziehe sich per definitionem jeglicher Beschreibung. „It is the moment in aesthetics when the difference between verbal and visual mediation becomes a moral, aesthetic imperative rather than […] a natural fact that can be relied on.“ (Ebd.: 154) Die zugrunde liegende Untersuchung lässt sich folglich nur als Versuch verstehen, visuelle an textuelle Ausdrucksformen über die zeitliche Simultaneität der audiovisuellen Argumente im Verlauf ihres Vollzugs anzugleichen (assimilation). Form und Integrität der audiovisuellen Bezugsquellen werden nicht in ein sprachliches System übertragen und sind eingebettet in einen ebenfalls sich audiovisuell und zeitlich vollziehenden Referenzrahmen, während sie gleichzeitig aus dem ursprünglichen Entstehungskontext genommen und für die wissenschaftliche Erkenntnis aufbereitet werden können. Unter Gesichtspunkten der Remediation gesprochen, legitimiert diese Praxis beide Mediengenerationen und entlarvt sie zur gleichen Zeit in ihrem Realitätsanspruch:
This tearing out of context makes us aware of the artificiality of both the digital version and the original clip. The work becomes a mosaic in which we are simultaneously aware of the individual pieces and their new, inappropriate setting. In this kind of remediation, the older media are presented in a space whose discontinuities, like those of collage and photomontage, are clearly visible. (Bolter/Grusin 1999: 47)
Das Dispositiv einer solchen Sichtbarmachung dekontextualisierter Quellen zeigt sich in der Desktop Documentary über die verschiedenen nebeneinander und hintereinander gestaffelten Browser- und Anwendungsfenster auf dem Bildschirm. WATCHING THE PAIN OF OTHERS etabliert gleich zu Beginn diese Doppel-Anordnung des Fensters mit dem zu betrachtenden Inhalt (ein Youtube-Beitrag in Lanes Film) und des Fensters, das das Betrachten ausstellt (Galibert-Laîné über ihre Webcam). Das Neben-, In- und Übereinander audiovisueller Inhalte spiegelt gewissermaßen eine Zerstreuung und Diskontinuität der digitalen Arbeitsweise wider, die sich oftmals äußert in zig offenen Browser-Tabs, unterbrechenden E-Mails und Messenger-Diensten. So kann sie als maßgebliches Charakteristikum der Desktop-Filme, als „hyper-representational bewilderment (paradigmatic for present-day multiscreen multitasking)“ (Bešlagić 2019: 56), angesehen werden. Auf diese Grundanordnung greift der Film mehrmals zurück, und zunächst soll sie als Ästhetik der (inszenierten) Erkenntnisproduktion ergründet werden.
WATCHING THE PAIN OF OTHERS lässt sich in drei Teile gliedern: Das erste Filmdrittel (00:00–09:30) erläutert die Thematik sowie das zugrunde liegende Verhalten in den Social Media und es erörtert die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Morgellons-Syndroms. Das zweite Drittel (09:30–19:20) versucht, das Phänomen in Hinblick auf die sozialen Konstellationen hinter der Social-Media-Nutzung zu ergründen, und legt dabei die diskursive Verstrickung von Krankheit, Medienkonsum und Gender offen. Das letzte Drittel (19:20–30:55) beschäftigt sich mit der Filterung des ursprünglichen Youtube-Materials durch Lanes Film, die sich auch auf Galibert-Laînés Rezeption auswirkt, sowie der Einsamkeit, welche die drei Charaktere aus Lanes Film und die Analystin Galibert-Laîné vor dem Bildschirm gemein haben sollen. Den sich hieraus formierenden Epilog (29:55–30:55) werde ich später als filmisches Handeln beschreiben. Die obigen Überlegungen lassen sich aber zunächst mit dem zweiten Drittel veranschaulichen. Dies setzt bei Galibert-Laînés Recherche an, zu der sie durch Lanes Film angeregt wurde und die noch der Empathie als Mechanismus der Bidirektionalität nachgeht, bevor sie herausfindet, dass die drei Youtuberinnen Verschwörungstheorien folgen.
Zu Beginn der Sequenz nutzt Galibert-Laîné eine Google-Eingabe, um die Aufmerksamkeit auf einen tatsächlichen journalistischen Bericht über eine zweitägige Morgellons-Konferenz in Austin zu lenken (s. Jamison 2013). Die Recherche stellt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik für Galibert-Laîné dar. Diese weiß sich in Szene zu setzen, indem sie das Browser-Fenster mit Jamisons PDF-Artikel in die untere linke Ecke minimiert und dahinter selbst durch ein Webcam-Fenster hervortritt (Abb. 1). Sie fasst den Artikel zusammen und schildert dann, warum er für sie wichtig ist – das heißt sie bringt ihre eigene Person in den Diskurs, indem sie darüber spricht und sich als Forscherin, Filmbetrachterin und Frau dazu positioniert. Dabei gelingt es ihr, aus der persönlichen Perspektive heraus einen Kern des Phänomens zu formulieren:
And the essay is really … moving, or at least it really resonated with me because she [Jamison] really raises this question at which point does feeling empathy for other people’s pain becomes toxic for oneself? At which point do we start making ourselves sick when we pay too much attention to what other people feel? (11:28–11:55)
Unabhängig von dem Stichwort ‚empathy‘, um das es noch gehen soll, handelt es sich hier zunächst um eine Textbesprechung, dokumentarisch, ungeskriptet und audiovisuell aufgezeichnet im Stile eines Videotagebuchs. Dadurch, dass Galibert-Laîné innehält, sich selbst unterbricht, durch ihre Mimik, den suchenden Blick ihrer Augen, durch ihr Gestikulieren lässt sich erkennen, dass sie ihren Gedanken freien Lauf lässt und ausspricht, was in ihr vorgeht.
In dieser Sequenz ist Galibert-Laîné zum ersten Mal selbst beim Sprechen zu sehen: durch die Webcam, die ihr Bild auf den Desktop-Bildschirm transportiert. Bislang war sie nur im Off zu hören. Der dokumentarische Anschein eines Video-Tagebuchs verleiht ihrem Verhalten und ihren Beobachtungen Glaubhaftigkeit. Galibert-Laîné inszeniert hier das dokumentarische Dispositiv der Selbstaufnahme, um ihrer Erkenntnis Aussagekraft und (durch die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Bildelemente) Transparenz zu verleihen. So schafft sie die Grundvoraussetzungen für die epistemologische Relevanz. Der Schluss liegt also nahe, dass Wert darauf gelegt werden soll, eine stichhaltige Argumentation im filmischen Spiel zu gewährleisten, d.h. die Erkenntnis als eine solche darzustellen, die aus dem filmischen Dispositiv entstanden ist und ‚nur‘ angesichts der filmischen Exposition als Reflexion über die audiovisuelle Form entstanden sein kann. Darauf weist auch die Nutzbarmachung computer-inhärenter Technologie hin, wie z.B. die Sprachausgabe-Funktion, mit der Galibert-Laîné markierte Textstellen aus Jamisons Artikel von einer (weiblichen) Computerstimme robotisch-blechern verlautbaren lässt. In diesem Moment wird das geschriebene Wort in ein sich zeitlich vollziehendes Medium übersetzt, textuell-kognitives Denken wird audiovisuell und zeitbasiert.
Nachdem Galibert-Laîné die Authentizität ihrer Aufnahme etabliert hat, bricht sie im nächsten Schritt selbst wieder mit dieser Ästhetik: Von der Textlektüre führt sie über zu Beobachtungen an ihrem eigenen Körper. Sie habe selbst Morgellons-Anzeichen an sich festgestellt, die sie mit Hautläsionen beweisen will, und stellt die Beobachtungen als Entdeckung dar: „I have … wounds, I don’t know how to call them, that, that have appeared, that won’t go away, and in other places of my body, too.“ (12:40–54) Zum einen fixiert sie ihre Beobachtungen fotografisch mit dem Smartphone, im naiven Sinne der Youtuberinnen-Logik werden sie also real. Die Beobachtungen werden in über-auffälliger Simultaneität in das Desktop-Bild integriert (man wird Zeuge der Smartphone-Nutzung im Webcam-Fenster, die mit den Bewegungen im sich ad hoc darunter öffnenden Fenster der Smartphone-Kamera korrespondiert und darüber ihre ‚Echtheit‘ zertifiziert). Die Filmemacherin bindet ihre eigenen Körperwahrnehmungen und ihr eigenes Mediennutzungsverhalten in das der anderen Youtuberinnen ein und signalisiert damit auch, dass sie sie ernst nimmt und nicht als hypochondrisch abtut. An dieser Stelle tritt die spezifische mediale Bedeutung der Desktop Documentary zutage, die grundlegend die Art und Weise infrage stellt, wie unser Mediennutzen zur Konstruktion von Realität beiträgt, „resembling, or even replicating our everyday tasks and operations“, wie Luka Bešlagić es formuliert, und betont: „This is the very issue which all of the desktop documentaries fundamentally question and examine.“ (Bešlagić 2019: 52)
Zum anderen vergleicht Galibert-Laîné die Beobachtungen mit einem Still von Hautläsionen aus THE PAIN OF OTHERS, das oben links auf dem Desktop auftaucht (Abb. 2). Wichtig an dieser Geste ist, dass der Vergleich der Symptome anhand von Bildern auf dem Desktop – also medial – erfolgt: Innere Vorgänge sind an der Gegenüberstellung der Bildquellen ablesbar und finden im Entfalten des Films statt. Der dokumentarische wird dabei nahtlos in einen fiktiven Duktus überführt. Weniger geht es hier jedoch darum, dass der Authentizitätsanspruch verfällt – unglaubwürdig wird, weil sich Galibert-Laîné selbst dem Morgellons-Trugschluss hinzugeben scheint –, als vielmehr darum, dass sie hintergründig den unsichtbaren Übergang von der Empathie zur Selbstinspektion und -diagnostizierung als genuin körperliche Erfahrung nach- und filmisch aufzeichnet. Das digitale Medienrezeptionsverhalten schlägt sich auf eine körperliche Reaktion in Form eines Angesteckt-Werdens nieder. Die Beobachtung aus dem vergleichenden Sehen wird ernstgenommen: „I can very easily convince myself that I would have reasons to worry.“ (13:24–27).
Als nächstes pausiert Galibert-Laîné – sie hält inne, immer noch in der Manier eines Videotagebuchs –, dann öffnet sie einen neuen Internet-Tab in dem Browser-Fenster und gibt eine Frage in die Google-Suchmaske ein: ‚what do morgellons wounds look like‘. Innere Vorgänge, ihre Gedankengänge, werden zu geschriebenen Worten und spiegeln sich in der Eingabe in der Google-Oberfläche wieder. Scrollend stellt sie fest: „In fact, this is how Morgellons disease gets transmitted. Rarely has talking about the ‚virality‘ of online images been so relevant …“ (13:50–14:00) Von der Stimme der Tagebuchführenden springt das Sprechen zurück ins Voice-Over der Filmemacherin. Chloé, die Filmemacherin, gewinnt akustisch kritischen Abstand von Chloé, der Tagebuchführenden, die mit geneigtem Haupt, suchend hin- und hertastendem Blick und typisch-selbstvergessener Körperhaltung in die Ergebnisse der Google-Bildersuche eintaucht. Ihr ‚kontaminiertes‘ Ich verharrt stumm und scrollend auf der Bildebene, von welcher die körperlose Stimme wieder die Funktion der allwissenden Erzählerin einnehmen und ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen kann. Dabei demonstriert Galibert-Laîné auch das typische Verhalten, das zur gefährlichen Selbstdiagnose führt, was schließlich in dem anschließenden Video-Testimonial der Akteurin Tasha aus Lanes Film mündet. Wir hören Tashas Selbstbestätigung – oder anders ihr Coming-Out als sogenannte ‚Morgie‘ – und Galibert-Laîné pausiert wieder, diesmal mit dem Pause-Button ihres Players, sodass Tashas Portrait einfriert. Wie bei der Video-Aufzeichnung ihres eigenen, im Scrollen verlorenen Ichs überlagert Galibert-Laînés Voice-Over nun Tashas Bild und entwickelt aus der filmischen Anordnung des Gedankengangs ihr Argument, ja pointiert dies sogar als Epiphanie, fixiert es, wie auch Tashas Bild feststeht:6
At this precise moment of my research, I had the feeling of understanding something. It just clicked. I thought: if it’s a disease that is transmitted through excessive empathy, it’s not surprising that the sufferers are almost all female. (14:31–45)
Auf die feministische Lesart soll näher eingegangen werden. Elisabeth Bronfen zieht in ihrem jüngsten, durch COVID-19 angeregten Essay Angesteckt: Zeitgemäßes über Pandemie und Kultur kulturhistorische Schlüsse zwischen der Zirkulation von Krankheit und Frauenbildern. Als Beispiele nennt sie u.a. Figuren der griechischen und christlichen Mythologie, ‚symptomatische‘ Filmcharaktere und ebenso die historische Figur Mary Mallon (1869–1938): Als erste geschichtlich beschriebene Person, die mit Typhus infiziert, aber selbst symptomlos war, habe die irische Immigrantin Mallon zur Verbreitung von Typhus in den USA beigetragen. „Wie Hesiods Pandora soll Mary Mallon als superspreader eine Krankheit ins Land eingeführt haben, die es vorher dort noch nicht gegeben hatte“, schreibt Bronfen, und weiter:
Infolge dieser Zuschreibung wird aus der konkreten Frau Mary Mallon ein Stereotyp, die gefährliche Einwanderin namens ‚Typhoid Mary‘. Diese hat nicht nur als Fremde eine an sich gesunde einheimische Bevölkerung gefährdet. Sondern an dieser Einwanderin, die 1883 über den Ozean gereist war, um in New York City Arbeit zu finden, konnten auch noch weitere Ängste verhandelt werden, was die Gefahren des Kontakts zwischen fremden Menschen in einer global vernetzten Welt betrifft […]. (Bronfen 2020: 60f.)
Diese Angst vor der Globalisierung lässt sich bei den ‚Morgies‘ vielleicht in der Sorge um Insekten unter der Haut wiederfinden, die sich möglicherweise aus einer stereotypen Vorstellung des Globalen Südens speist. Morgellons scheint daher auch ein fragliches postkoloniales Gedankengut zu implizieren. An der „kriminelle[n] Freizügigkeit“ (63) kultureller Frauenzeichnungen verhandelt Bronfen die Verschränkung von Krankheit und Gender, die auch in THE PAIN OF OTHERS sowie WATCHING THE PAIN OF OTHERS zum Tragen kommt (und ebenfalls einen bemerkenswerten Rekurs zur Hysterie zulässt). Galibert-Laîné exponiert das Bildmigrieren anhand der Aneignung und des Reframings der originalen Youtube-Videos in ihrem und Lanes Film. Dabei verweist sie nicht nur auf die überholte Aufteilung der Geschlechter in Arzt und Patientin, indem sie die Aufnahmen der Youtuberinnen Tasha, Marcia und Carrie mit denen von Ärzten als Talking Heads in Fernsehbeiträgen aus Lanes Film gegenüberstellt (Abb. 3). Vielmehr stellt sie den gesellschaftlichen und medialen Druck heraus, vor dem alternde Frauen stehen.7 Vor dem Hintergrund zunehmender Selbstvermarktung und der Kapitalisierung des eigenen Körpers in den Social Media erscheint das Aufkommen des Morgellons-Syndroms fast schon als logische Konsequenz unserer Zeit (Abb. 4). Führt der Film zunächst sehr überzeugend die Empathie für Frauen in einer jugend-fixierten Gesellschaft vor, so wird er anschließend die Einstellung zu ihnen differenzieren und die Ambivalenz der ursprünglichen Youtube-Videos offenlegen – diese, so zeigt sich, sind nämlich durch Lanes Film gefiltert und stehen in enger Beziehung zu Verschwörungstheorien. Die Empathie als wohlwollender Mechanismus des Angesteckt-Werdens verändert sich im Angesicht konspirativer Strukturen zu einer distanzierenden Haltung. Das nach Bronfen kulturell vorgegebene Bild der ‚Gefahren des Kontakts zwischen fremden Menschen in einer global vernetzten Welt‘ wird somit auf ein weibliches Medienverhalten übertragen und dies erfährt entweder eine Psychopathologisierung (durch die Ärzte) oder eine Entkräftigung durch die Aufdeckung der konspirativen Hintergründe (durch die Filmemacherin selbst).
In dem Sinne ist auch zu verstehen, warum sich Galibert-Laîné selbst inszeniert „as an embodied, gendered, hence vulnerable researcher, […] as another knowledge producer whose authority can be questioned“ (Galibert-Laîné 2019) – mit Betonung auf ‚researcher‘, um sich von den Verschwörungstheoretikerinnen letztlich distanzieren zu können. Von der Einnahme der Ich-Perspektive erhofft sich die Filmemacherin, ihre Zuschauer*innen hin zur selbstkritischen Reflexion eigener Rezeptionsmodi zu führen:
[I]t offers the possibility for viewers, like you, to reflect upon your relationship to me, as a not-so-reliable narrator, and as a (female) image. Do you feel empathy for me, and why? Do you respond the same way to the image of a woman talking about her own body depending on whether you identify her as an online vlogger, a film scholar, an acclaimed filmmaker or a conspiracy theorist? How does the interface in which this woman’s image is embedded (YouTube, Vimeo, a movie screen, an academic journal) modify your affective capacity to empathize with her? (Galibert-Laîné, zit. n. Sarmiento Hinojosa 2019)
Demgemäß bietet ihr Video bei genauem Blick mehrere Ansatzpunkte, um die dokumentarische Rhetorik und jenen Forschungsanspruch der größtmöglichen Transparenz zu dekonstruieren. Auf rein bildgebender Ebene geschah dies bereits in der besprochenen Sequenz, als sich das Smartphone-Video der selbstinspizierten Hautläsion als desktop-fremdes Element plötzlich mit den anderen Desktop-Fenstern vereinte und eine Geschlossenheit vorgab, die der audiovisuellen Argumentation dienlich war. Dies geschieht auch, wenn einem auffällt, dass die Zeit- und Datumsanzeige, die sich eigentlich in der Windows-Taskleiste unten rechts auf dem Bildschirm befinden müsste, deaktiviert ist – ein deutlicher Widerspruch zu dem Zweck eines Videotagebuchs. Oder es geschieht zu Filmbeginn, als die sich selbst zu tippen scheinende E-Mail-Anfrage für den Film von Penny Lane bereits mit der Wiedergabe ebendieses Films zusammenfällt und dabei eine sich per Webcam aufzeichnende Galibert-Laîné beim Zuschauen filmt, sie aber offensichtlich nicht die E-Mail tippt (Abb. 5). Der Desktop wird hier zu einem Konglomerat zeitlich unterschiedlicher und augenscheinlich doch miteinander verbundener Vorgänge.
Als hätte sie Galibert-Laînés Beschäftigung mit den drei zentralen Youtuberinnen antizipiert, hat Michaela Ott darauf hingewiesen, „dass in den weiblichen Essayfilmen die persönliche Besessenheit auf eine allgemeinere, gesellschaftliche Besessenheit, auf ein unpersönliches Symptom hin vertieft wird.“ (Ott 2011: 192) Bestimmte Perspektiven zur Welt, wenn auch widersprüchliche und nicht die eigenen, können darin adaptiert und in eine kontrafaktische Formsprache überführt werden.
Dank seiner Verweigerung gewaltsamer Abstimmungen zwischen Bild und Ton, zwischen Bildtypen und Schnittfolgen, zwischen formalen Mitteln und Aussageabsicht, kann sich der Film schließlich auf Problemlösungen zu bewegen: Essayfilmen kann dann auch heilen sein. (Ebd.)
Galibert-Laîné zeigt sich diesbezüglich in ihrer Doppelrolle: als angesteckte, quasi sich selbst verlierende Filmbetrachterin und als sich rettende Analystin und Filmemacherin mit einer gedanklichen Klarheit von tiefgründiger Komplexität.
Wenn es bei der Remediation durch digitale Medien um eine visuelle Form geht, die der Fragmentierung, Unbestimmtheit, Heterogenität und der Prozesshaftigkeit audiovisueller Objekte Vorzug gibt,8 so scheinen die Bewegtbilder in Desktop Documentaries die Offenheit der Bilder wieder an ein (zwar verrückbares, doch) linear narratives Muster zurückzuführen, das den akademischen Regeln der logischen Argumentation, assoziativen oder nachvollziehbaren Beobachtung und sprachlichen Kohärenz und bildlichen Veranschaulichung folgt. Dies bedeutet auch, die zeitbasierte Komponente zu berücksichtigen, in der sich Argumentation, Veranschaulichung und Beobachtung entfalten.
Zur Untersuchung zeitbasierter und performativer Arbeiten, zu denen Galibert-Laînés gezählt werden kann, schlagen Henrik Frisk und Henrik Karlsson vor, zu differenzieren „between investigating ‚the object‘ in-time, while it is unfolding, as opposed to doing it over-time.“ (Frisk/Karlsson 2010: 281) Arbeiten, wie WATCHING THE PAIN OF OTHERS, die das zeitliche Entfalten eines Gedankens ausstellen, vollziehen sich „in and through real time rather than primarily over time“; im Interesse des Erkenntnisgewinns der Desktop Documentary, welcher „hidden in its in-time properties“ ist, solle die Forschung deshalb versuchen, sich von der „investigation of the over-time and out-of-time representations of art work“ (ebd.: 278) zu lösen. Den Unterschied veranschaulichen die Autoren am Beispiel einer bekannten Melodie: „Imagine listening to a well known melody being played. As the melody is unfolding there is a perpetual interaction between its in-memory representation and its real-time representation.“ (Ebd.: 286) Der Grund, warum die Melodie so beliebt ist bzw. erinnert wird, füge sich zusammen mit dem realzeitlichen Vernehmen des Klangs (der den erinnerten Klang vergegenwärtigen, bestätigen, verändern oder mit ihm konkurrieren kann).
Der Dauer einer sich in der Zeit entfaltenden Arbeit steht die Stasis einer erinnerten Objekt-Einheit gegenüber, die die Arbeit als ganzes Stück fasst, gemäß der ‚over-time representation‘. Die dementsprechende Frage, „is it really possible that our in-memory representation of something […], that exists and evolves in time, can be represented independent of time?“ (ebd.: 282), kann insofern vielleicht damit beantwortet werden, als man sich im Werk selbst auf die Spurensuche begibt nach Momenten, in denen In-time- und Over-time-Erkenntnisse kulminieren. Dies, so soll überprüft werden, sind in WATCHING THE PAIN OF OTHERS auch die Momente, in der sich ein unidirektionales User-Content-Verhältnis umkehrt zu einem bidirektionalen Verhältnis, in dem sich nicht nur der User durch die Aneignung fremder Inhalte ermächtigt und daraus Wissen gewinnt, sondern selbst zum Objekt der Inhalte wird.
Das Ende von WATCHING THE PAIN OF OTHERS suggeriert, dass Galibert-Laîné schließlich die gleichen Strukturen von Isolation und Kommunikationsbedürfnis in ihrem Online-Verhalten und in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit wiedererkennt, die auch das Verhalten von Carrie, Marcia und Tasha bestimmen.9 So deutet sie erstens nochmals die Kontaktaufnahme zu Penny Lane per E-Mail vom Filmbeginn an und beschließt sie mit ihrer Signatur. Zweitens beschreibt sie den Moment, als Penny Lane im Skype-Interview auf ihre Seherfahrung im Kino eingeht, als ein Gefühl der Erleichterung – des Gesehen- und Anerkannt-Werdens nach all den Wochen des Sichtens. Drittens fragt sie sich, worin sich ihr ‚reaching-out‘ bzw. diese gespürte Anerkennung und das Verhalten der Youtuberinnen unterscheiden (Abb. 6). Die Filmemacherin kommt zu dem Schluss: „I hesitated to try and contact Carrie, Marcia and Tasha by myself but came to understand that some conversations don’t need to happen to somehow have occured.“ (29:43–53)
Was Galibert-Laîné aus dieser Erkenntnis generiert, bildet im Epilog die Verdichtung der Ebenen der In-time- und der Over-time-Erkenntnis nach Frisk/Karlsson. Gemäß jener Einsicht, dass manche Online-Begegnungen nicht geschehen müssten, um zu existieren – im Kern mithin virtuell bleiben –, erschafft Galibert-Laîné technisch modifizierte Skype-Gesprächssituationen, in denen sich alle videogebenden Akteurinnen, die der Film portraitiert, ‚im virtuellen Raum virtuell‘ treffen, sich zuzuhören und zu verstehen scheinen: Chloé selbst im Skype-Gespräch mit Carrie, Penny mit Tasha, Marcia mit Carrie, Chloé mit Tasha.
Dies zeigt, dass es dabei nicht darum geht, nie darum ging, was vorher vorproduziert oder ‚live‘ in das Videotagebuch gesprochen wurde, sondern dass die Erfahrung der Betrachter*innen von Galibert-Laînés Film – meine Begegnung als Zuschauer mit den Inhalten und Schlussfolgerungen ‚in situ‘ – zentral ist. Diese Filmerfahrungen treffen sich in dem Moment, als die Video-Aufnahmen ein weiteres Mal aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst werden und sich nun wiederholen. Die Aufnahme von Galibert-Laîné dabei, wie sie ihre Haut nach Morgellons-Anzeichen absucht, wird in einen Dialog mit einer ebenfalls bekannten Aufnahme von Tasha gesetzt, die sie zuhörend lächelnd zeigt und aus ihrem Kontext genommen wurde (vgl. Abb. 4). Die Stimme ist dabei ersetzt durch die Stimme der Sprachausgabe-Funktion, die das Gesagte vorliest. Dieses Mal ist es nicht wie oben das geschriebene Wort, das in eine zeitliche Dauer übersetzt wird, sondern das gesprochene Wort, das in der Zeitlichkeit der Dauer nochmals medialisiert wird. Das zeitliche Entfalten gerät durch die mechanische Verlautbarung also durchaus ins Stocken und wird wieder auf die Einzeltonsegmente der Sprachausgabe zurückgeführt (Clip 1).
Dass wir beide Videos der ‚Gesprächspartnerinnen‘ schon aus dem Vorfeld kennen, veranschaulicht, was Frisk/Karlsson mit Over-time-Erkenntnis meinen: eine bekannte Einheit aus unserer Erinnerung, deren Bedeutung einzig darin begründet liegt, dass wir die Videos bereits kennen: Galibert-Laîné im Moment ihrer Selbstinspektion ist zu einer Objekt-Einheit geworden, die einen zentralen Aspekt des Films im Zuschauergedächtnis – der ‚over-time representation‘ – festhalten wird. Diese Einheit bildete sich zu dem Zeitpunkt aus, als die Gerichtetheit der immersiven geistigen Auseinandersetzung und medialen Aneignung der Morgellons-Bilder sich umkehrte und nicht in den virtuellen Raum hinein, aber aus ihm heraus auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers abzielte; das war auch der Zeitpunkt, als sich die rein dokumentarische Rhetorik des Films auflöste. Indes entspricht jener In-time-Erkenntnis das Setting, dass beide Videos nun in ein virtuelles Gespräch gesetzt werden. Man erlebt, was passiert, und schaut aufmerksam, neugierig und vielleicht verblüfft ob der komplexen Filmanordnung zu, was sich vor einem eröffnet. Man wird Zeuge eines filmischen Handelns.
Die In-time-Erkenntnis, die wir just beim Schauen machen, erzielt ihre Bedeutung aus dem Umstand, dass sie sich vor einem abspielt und in der Zeit entfaltet. Galibert-Laîné, die Forscherin und Selbst-Analystin aus der früheren Anordnung, in der wir das Videomaterial zuerst sahen, wird zu einer anderen Galibert-Laîné, der Gesprächspartnerin einer Morgellons-Diagnostizierten, die an sich selbst Symptome entdeckt, während ihr die andere Seite geduldig und gutmütig zuhört und Glauben schenkt. Diese künstliche Anordnung trägt dem Wunsch Rechnung, in eine bilaterale Beziehung zu den Web-Contents zu treten und eine Ausgewogenheit herzustellen, die in beide Richtungen infizierend wirkt. Dadurch, dass Galibert-Laîné ihr eigenes Material in ein Remediationsverhältnis setzt, verdichtet sie die In-time- und Over-time-Erkenntnisebenen zu einem wissenschaftlich stichhaltigen Punkt, führt Diskursfähigkeit vor und bietet sie an. Diese Diskursfähigkeit geschieht allerdings als eine künstlerische Wendung der Fiktionalisierung, die eine klare wissenschaftliche Rhetorik außen vor lässt. Als künstlerische Wendung entspricht Galibert-Laînés Erkenntnis Borgdorffs Eingeständnis dahingehend, dass sie „might just prove to be an ideal sphere for testing the scope and fecundity of [a] research agenda.“ (Borgdorff 2010: 60)
WATCHING THE PAIN OF OTHERS exemplifiziert ein Wissen über Krankheit, das gleichzeitig ein Wissen über Mediennutzung ist. Aus der Beschäftigung mit den drei Frauen heraus konnte Galibert-Laîné den Schluss ziehen, dass sich in diesem Verhältnis von Krankfühlen und Mediennutzen besonders die Isolation und das Gefühl der Einsamkeit manifestieren. Der Epilog ist eine Remediation und eine Reprise einzelner zuvor im Film auftauchender Videosequenzen aller fünf Akteurinnen: Als Remediation problematisiert er die Diskursfähigkeit filmischen Denkens als performativen, aber fiktionalisierten Prozess. Als Reprise ist er eine künstlerische Geste filmischen Handelns – im Sinne einer ‚agency‘ für Tasha, Marcia und Carrie, die je nach Ausgangspunkt von Lanes Film oder ihrer Youtube-Quellen mal mit Empathie, mal mit Skepsis betrachtet werden können. In dieser quellenabhängigen Ambivalenz vollzieht sich die Einbeziehung des Publikums in das bidirektionale Gefüge: Susan Sontags Essay Das Leiden anderer betrachten, auf dessen Titel sich Galibert-Laînés Film ansatzweise bezieht, beobachtet, dass sich in die Erschütterung beim Betrachten einer Nahaufnahme eines Leids (man denke an die Hautläsion auf Chloés Bein) auch Beschämung mische.
Vielleicht haben nur jene Menschen das Recht, Bilder eines so extremen Leidens zu betrachten, die für seine Linderung etwas tun könnten – […] Menschen, die aus ihr etwas lernen könnten. Wir anderen sind, ob wir wollen oder nicht, Voyeure. (Sontag 2003: 51)
Sontag kommt zu dem Schluss: „Jene, die es verkraften, hinzusehen, spielen eine Rolle, der von zahlreichen bedeutenden Leidensdarstellungen ihr eigenes Recht zugebilligt wird.“ (Ebd.) Es ist also eine künstlerische Geste, eine, die zugleich kuratorisch und kurativ wirkt: ‚Essayfilmen kann dann auch heilen sein.‘
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