Die Politik der Körper bei Claire Denis, Maurice Merleau-Ponty und Michel Foucault
Es war das Pizzaessen und der darauf folgende One Night Stand, der exzessive Tanz auf dem Bett oder vor dem Spiegel einer Disco, die langsam verstreichende Zeit der Wüste und der polynesische Strand oder auch die Auslage sahniger Backwaren – es war das Kino der Claire Denis, das mich zu einigen Überlegungen zum Status des Körpers in der Filmwahrnehmung brachte. Beschränken möchte ich mich hier auf einige Bemerkungen zu ihrem Film NÉNETTE ET BONI und dessen produktionsästhetischer Ausstellung von Sinnlichkeit. Auffallend sind die konzentriert eingesetzten Stilmittel – das bisweilen schwache Licht und die grellen bedeutungsgeladenen Farbkompositionen sowie die traumartig klingende Musik der »Tindersticks« –, die zu einer prinzipiellen Uneindeutigkeit intradiegetischer Traumsequenzen oder Rückblenden gegenüber dem vermeintlichen Hauptstrang der Erzählung führen.1 Die filmische Konstitution der erlebten Zeit, des prozessualen Werdens, ist im Falle Denis’ eine nicht-kausal determinierte, eine, die sich nicht den Gesetzen der Narration unterzuordnen hat: Die Kamera nimmt sich Zeit für eine Eröffnung des Peripheren, der alltäglichen Bewegungen. Dabei rückt sie ihrem Gegenüber ziemlich auf die Pelle, verfährt jedoch behutsam anschmiegend: »Als wir den fast nackten Boni in seinem Schlafzimmer filmten, wollte ich dem Publikum das Gefühl [sensation] geben, dass sie ihn bei seinem Anblick berühren wollten. Doch dies ist Intimität, nicht Voyeurismus.«2 (Denis, zit. n. Thompson 1997: 18) Aufmerksamkeit erregen die Körper und Dinge in ihrem besonderen Licht, in ihrer Dauer und ihrer ontologischen Gleichheit – also unabhängig davon, ob es sich um die amouröse Berührung zweier Körper, das gestreichelte Fell eines Kaninchens, den Geruch der Achselhaare oder eines lapprigen Burgerbrötchens, das Kneten des Pizzateigs oder eine katzenartig schnurrende Kaffeemaschine geht. Wie in Angela Schanelecs MARSEILLE verzichtet auch Denis auf Establishing Shots und saturierte Panoramaeinstellungen der südfranzösischen Hafenstadt. Die langen Kamerafahrten gelten anderem: den Landschaften profaner Dinge und menschlicher Körper. Doch »die maßgeblichen Landschaften waren die Gesichter der Schauspieler, und diese waren unendliche Landschaften.« (Ebd.: 20)
Hierin, in der ausgestellten Sinnlichkeit des Films, deutet sich eine erste Korrespondenz zu einer bestimmten philosophischen Idee an: Während Edmund Husserl die phänomenologische Bewegung »Zu den Sachen!« rief, steht auf der anderen Seite der diskrete Versuch Claire Denis’, mit der Kamera »unter die Haut« zu gehen (ebd.: 16). Dieser Wunsch, unter die Haut zu gehen, den lebendigen Körper auf der zweidimensionalen Leinwand berühren zu wollen, scheint zunächst unmöglich (bzw. erst durch das Wissen um die Unmöglichkeit als Wunsch zustande zu kommen), denn der Film, so die rationalistische Annahme, beansprucht unmittelbar nur unseren Seh- und Hörsinn. Aber: Ebenso sehr vermag er, als audiovisueller Zusammenhang eine synästhetische Wirkung zu entfalten, die uns gerade über die Gerichtetheit des Sehens und Hörens riechen, schmecken und tasten lässt. Die Wahrnehmungsphänomenologie Maurice Merleau-Pontys spricht dementsprechend dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen eine grundsätzliche Synästhesie zu, die in der pragmatischen Orientierung jedoch durch die Konzentration auf einzelne Sinne überdeckt wird (Merleau-Ponty 1966: 253ff.). Diesem Gedanken folgend wäre die Filmwahrnehmung diejenige Form, die uns etwas von dem verdeckten allgemeinen Vermögen zurückzugeben vermag. Genau dies ist es, was in NÉNETTE ET BONI erfahrbar wird: Die filmische »Haut-zu-Haut-Geschichte« (Denis) stellt gerade die ›nicht-filmischen‹ Sinne der Haptik, des Geschmacks und des Geruchs filmisch aus und lässt sie körperlich spürbar werden.
In der gegenwärtigen Filmtheorie gibt es nicht wenige vielversprechende Versuche, den sich hier abzeichnenden Zusammenhang von Filmkörper und Zuschauerkörper zu erklären: sei es kognitivistisch oder über eine starke Beanspruchung von Metaphoriken, beispielsweise in der Figur der Zuschauer_in als Leihkörper des filmischen Geschehens oder der des Films als Haut (Voss 2006; Marks 2000). In den folgenden Ausführungen geht es mir allerdings nicht um ein weiteres Erklärungsmodell, vielmehr scheinen die Versuche als solche interessant, verweisen sie doch auf die grundsätzliche Schwierigkeit, wie über den Körper zu sprechen sei – und somit letztlich: auf den basalen Zusammenhang von Körper und Sprache. Denn einerseits erleben wir unseren Körper als spontan und authentisch, andererseits zeigt der Ausdruck ›unser Körper‹ bereits an, dass er untrennbar ist nicht nur von der Intentionalität des Bewusstseins, sondern von einem je bestimmten Körperdenken, einem historisch-spezifischen Netz sprachlicher und diskursiver Konstruktionen. Über diese ontologischen Überlegungen hinaus sei hier der Frage nachgegangen, was daraus im Bereich der Ästhetik für die Filmwahrnehmung folgt und welche Rolle dabei bestimmte Filme wie NÉNETTE ET BONI spielen, die die Sinnlichkeit ausstellen, d.h. gewissermaßen einen eigenen filmischen Diskurs über den Körper konstruieren. Zu unterscheiden gilt es demnach drei analytische Ebenen, zu der ich jeweils eine These formulieren möchte: eine historisch-ontologische, eine medial-dispositive und schließlich eine filmanalytische.
Die reale, lebensweltliche Körperlichkeit des Subjekts und damit die körperliche Bedingtheit des »Zur-Welt-seins« zu denken, ist das große Vorhaben Merleau-Pontys. Seine Beschreibung der leiblichen Wahrnehmung führte seit den 1990er Jahren zu einer Renaissance im Kontext einer Theorie der Filmwahrnehmung, weist doch die filmwissenschaftliche Frage nach der körperlichen Affizierung der Kinozuschauer_innen starke Berührungspunkte auf. Merleau-Pontys Begriff des Leibes weist den menschlichen Körper als einen Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen aus: Durch ihn ist das Bewusstsein Sein beim Ding, ist es zur Welt. Der Leib fungiert als das notwendige Mittel unseres Zugangs zu ihr. Folglich ist er nicht gleichzusetzen mit dem bloß physikalischen Körper, sondern bleibt an die Intentionalität des Bewusstseins gebunden. Ist der Leib die Verbindung von Bewusstsein und Welt, so zielt der später lancierte Begriff des Fleisches auf jene fundamentale Seinsstruktur, in der Leib, Welt und Ding »chiasmatisch« miteinander verflochten sind (Merleau-Ponty 1966: 185ff.; Merleau-Ponty 1986: 172ff.).
Merleau-Pontys Interesse am Körper besitzt durchaus eine kritische Pointe: Er positioniert den Körper als eine Figur des Dritten, als ein Scharnier zwischen Bewusstsein und Seinsstruktur, Subjekt und Objektsphäre. Leib und Fleisch dienen folglich als ein kritisches Korrektiv gegenüber der cartesianischen Trennung von Körper und Geist und ihrem jeweiligen Fortleben in Idealismus und Empirismus. Es handelt sich um eine diskursive Erweiterung der analytischen Subjekt-Objekt-Dichotomie, möglicherweise gar um deren Subversion, hin zu einem offeneren Verhältnis von Leib und Welt. Doch indem er den Leib lebensweltlich verankert, zahlt er den Preis einer Essentialisierung des Körpers als ursprünglichen. Kaum verwunderlich erscheint es folglich, dass die Schlüsselbegriffe und Metaphoriken fast allesamt dem Vokabular des Katholizismus entstammen.3
In einem radikalen Kontrast dazu steht die Konzeption des Körpers bei Michel Foucault: Der Körper ist hier gerade nicht jene fundamentale Verbindung zur Welt, im Gegenteil gilt er hier wieder als ein Gegenstand. Und nicht nur das: Der Körper ist ein produzierter Gegenstand – was wiederum die Rede von seiner Authentizität ad absurdum führt. Er stellt das diskursive Ergebnis von Wissen/Macht-Komplexen dar, die in Gestalt historisch-spezifischer Dispositive auftreten. Der Körper, den wir wahrnehmen und über den wir reden können, ist Foucault zufolge mitnichten eine ursprüngliche Einheit, die erst in einem zweiten Schritt, d.h. im Verlauf der Geschichte Veränderungen durchlebt. Gerade umgekehrt sind es Formationen der Geschichte, beispielsweise der modernen Disziplinarmacht, die den Körper erst als ein Apriori erscheinen lassen. Aus dieser lausbübischen Kehre folgt wiederum notwendig, dass jene Transformationen nicht bloß äußere, negative Formen der Unterdrückung eines vermeintlich rein inneren Körperbegehrens darstellen, wie es neben Merleau-Ponty in den ›klassisch‹-modernen Theorien des Körpers und deren zeitgenössischer Kulturkritik von der Lebensphilosophie über die Psychoanalyse und Phänomenologie zum Freudomarxismus und Differenzfeminismus bisweilen anklingt. Die Dispositive der Macht inaugurieren vielmehr ein ganzes positives Regelwerk, das den geschichtlichen Körper erst als solchen hervorbringt. Das Subjekt wird dabei allerdings nicht passiv von den Äußerungen der Macht durchdrungen, sondern stellt den Knotenpunkt »gouvernementaler« Fremd- und Selbstführungstechniken dar. Autonomie wäre demnach nicht das aufklärerische Streben nach Selbstbestimmung, sondern lediglich eine Technik der Selbstführung innerhalb eines ›heteronomen‹ Wissen/Macht-Komplexes. Foucaults Subversion des Cartesianismus kulminiert schließlich in jener provokativen Losung, der zufolge nicht der Körper das Gefängnis der Seele, sondern umgekehrt die Seele das Gefängnis des Körpers sei (Foucault 1976: 42). Und der Existentialismus tupft sich die Stirn ab.
Während Merleau-Ponty die Subjekt-Objekt-Relation zwar um die Ebene der Lebenswelt erweitert, bleibt er mit der alternativen Leib-Welt-Beziehung dennoch grundsätzlich ihrem Paradigma verhaftet. Foucault hingegen dynamisiert die Perspektive dergestalt, dass nicht mehr die Frage nach den subjektiven Bedingungen der richtigen Erkenntnis von Objekten, sondern das »Problem der gleichzeitigen Subjektivierung der Subjekte und der Objektivierung der Objekte« im Fokus steht. Subjekt und Objekt der Erkenntnis stellen hier nicht den Ausgangspunkt, sondern erst das Ergebnis in dem Ausbildungsprozess von Wahrheitsspielen dar, welche die »reziproke Genese des Subjekts und des Objekts« organisieren (vgl. Lemke 1997: 333). Foucaults eigener Aussage nach besteht Merleau-Pontys Projekt lediglich darin, eine erkenntnistheoretisch reflektierte und empirisch verifizierte Erfassung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens vorzulegen. Die Phänomenologie versuche, die »Bedeutung der alltäglichen Erfahrung zu erfassen, um herauszufinden, inwiefern das Subjekt, das ich bin, in seinen transzendentalen Funktionen tatsächlich grundlegend ist für diese Erfahrung und diese Bedeutungen.« (Foucault 1996: 27) Foucaults Interesse an der Erfahrung gilt aber nicht der Erfassung feststehender Bedeutungen durch das Transzendentalsubjekt, sondern gerade dem Versuch, »das Subjekt von sich selbst loszureißen« (ebd.). Kurzum: Die Phänomenologie konzipiert Erfahrung als Erfassung von Bedeutung, während Foucaults Denken auf die Erfahrung als Überschreitung zielt. »Die Erfahrung, die es uns gestattet, bestimmte Mechanismen zu verstehen […], und die Weise, in der wir fähig werden, uns von ihnen zu lösen, indem wir sie mit anderen Augen wahrnehmen, sind nur die beiden Seiten derselben Medaille.« (Ebd.: 31f.; Hervorhebung C.T.) Eine Erfahrung ermöglicht ein Verstehen, das dazu ermächtigt, sich vom Bestehenden zu lösen, und zwar dadurch, es anders wahrzunehmen und letztlich selbst anders zu werden. Die Perspektive einer transgressiven Erfahrung führt den späten Foucault schließlich zum Projekt einer »Ästhetik der Existenz«, die nach den Möglichkeiten einer anderen Lebensweise fragt und zu der ich später zurückkommen möchte: »Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, anders zu machen und anders zu werden als man ist.« (Foucault 1984: 22)
Rekapituliert man die beiden Weisen, den Körper zu denken, so erscheinen Merleau-Ponty und Foucault in diesem Licht als klare Antipoden, und nicht zufällig grenzt sich letzterer mehrfach explizit von dem alten französischen Meister ab. Zwar treffen sich beide in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Erbe des Idealismus, doch nach Foucault sei Merleau-Ponty nur den halben Weg gegangen. Der hier aufklaffende Widerspruch scheint kaum aufhebbar – außer über den modernen philosophischen Taschenspielertrick, ihn stattdessen als ein existentielles Paradoxon zu denken: Demnach wäre der Körper zugleich situativ ursprünglich und diskursiv produziert. Doch genau dies ist hier der Fall. Die historisch-ontologische These, die ich hier verfolge, geht nur von einem scheinbaren Dilemma aus. Mit Merleau-Ponty und Foucault verstehe ich den Körper in der Figur einer nachträglichen Ursprünglichkeit, die ihre materiellen, realen – und das heißt mit der Phänomenologie: lebensweltlichen – Effekte besitzt.4 In aller philosophisch sich noch ziemenden Grobheit möchte ich darauf hinweisen, dass wir es einfach mit zwei unterschiedlichen Analyseebenen zu tun haben: mit der Schau der Lebenswelt einerseits und der Analytik des Machtdispositivs andererseits. Dies ist jedoch nur scheinbar banal. Denn der Vorwurf, der sich hieraus an Foucault richtete, beträfe nicht nur seine Vernachlässigung oder gar Ausblendung der Lebenswelt, sondern auch die Tatsache, dass er ihr anscheinend keinerlei kritisches Potential zutraut. Mit Merleau-Ponty ließe sich dies wiederum korrigieren: Worüber man nicht präzise reden kann, darüber sollte man keineswegs schweigen. Daher sei gegenüber einem voreiligen ›Konstruktivismus‹ Recht und Geltung einer Schau der Lebenswelt betont, die eine der Pointen ästhetischer und somit auch filmischer Wahrnehmung auszeichnet: dass unsere körperlichen Gefühle wirklich echt sind.
Von dieser epistemologischen Fragestellung aus zeichnet sich eine auffällige Korrespondenz zur Filmwahrnehmung ab: dass wir echte Gefühle vor einem fiktiven, unbestreitbar produzierten Geschehen haben, in das wir nicht unmittelbar eingebunden sind. Magenschmerzen oder Liebeskummer, die uns im Alltag heimsuchen – ohne Zweifel: Das tut weh. Echt jetzt. Im Kino hingegen werden die Gefühle, die durch den Körper gehen, über eine Maschinerie produziert – und dies nicht bloß im manipulationstheoretischen Sinn einer ökonomischen Maschine in Gestalt der Traumfabrik Hollywood, sondern grundsätzlicher und in zweierlei Hinsicht: Erstens wird die Affektproduktion von einem Medium bedingt, das den erscheinenden Zusammenhang hervorbringt.5 Es handelt sich um einen mechanischen Apparat, der fotografische – also in einem optisch-chemischen Prozess hergestellte – Bilderfolgen in 48 bzw. real 24 Bildern pro Sekunde in eine den Sehsinn überfordernde Bewegung setzt und mit einer am Rand des Filmstreifens eingebauten Tonspur synchronisiert, so dass das audiovisuelle Geschehen, welches schließlich auf die Leinwand projiziert wird, als ein natürliches und lebendiges erscheint. Das Filmmedium lässt uns demnach eine besondere Lebendigkeit wahrnehmen, die uns als eine solche körperlich affiziert, die aber erst durch die Objektivität einer Maschinerie ermöglicht wird, also durch diese hindurch gegangen ist. Das Wunder des Films ist seine Dialektik von Objektivität und subjektivem Erleben. Zweitens verortet sich das mediale Geschehen innerhalb einer bestimmten Wahrnehmungsanordnung oder eines Dispositivs, in dem eine ganze Reihe von Regeln gelten, die der zerstreuungssüchtige Teenager ebenso wie die intellektuelle Cineastin willentlich oder unwillentlich akzeptieren und von denen hier nur die offensichtlichsten benannt seien: das Für-Wahr-Nehmen der wahrgenommenen Fiktion oder die Einschränkung der körperlichen Mobilität zugunsten der sinnlichen Wahrnehmung.
Kurzum: In der Kinomaschinerie erfahren wir ein regelrechtes Körperwerden unserer selbst. Allerdings werden die Gefühle des Körpers im Kino zugleich als ursprünglich und durch die Maschinerie produziert erfahren – was wir wissen, wenn wir ins Kino gehen. Damit, so die These zum medialen Dispositiv, wird im Kino materiell und somit wahrnehmbar, was sonst unsichtbar zu bleiben trachtet: dass der menschliche Körper ein authentisch fühlender und dispositiv produzierter Körper ist. Diese These sei bewusst in den Kontext jener romantischen Tradition der Filmtheorie gestellt, die den Film als Entdeckung, Entbergung und Wahrnehmbarmachung der materiellen Welt feiert. Mit dem Film geraten wir »unter die Haut« zur Welt.
Die Amalgamierung von Fühlen und Wissen, von Körper und Textualität, die bereits im Begriff der Kinemato-grafie aufgehoben ist, vermag in Filmen auf je spezifische Weise zum Ausdruck kommen, weshalb ich noch einmal zum Kino Claire Denis’ zurückkehre. Auch wenn zu Recht das Gros der Filmkritik die somatische Affizierung in Filmen wie NÉNETTE ET BONI, BEAU TRAVAIL oder VENDREDI SOIR hervorhebt, so besteht meines Erachtens die ästhetische Pointe in der besonderen Konstellation von Intuition und Reflexion, Körper und Text. Ich möchte dies anhand einer Szene aus NÉNETTE ET BONI nachvollziehen, die im Film einen diegetischen Wendepunkt bzw. eine topische Verdichtung markiert und die Judith Mayne als »eine der berührendsten und am schönsten gestalteten im gesamten Werk Denis’« bezeichnete (Mayne 2005: 75).
Die Sequenz setzt ein mit der den Sound kaschierenden elegischen Musik der Tindersticks: Der 19-jährige Boni (Grégoire Colin) steht verloren in einem Einkaufszentrum, von vorbeieilenden Passant_innen geschubst, nach einem Streit mit seiner kleinen Schwester, die ihr ungeborenes Kind ablehnt. In einer Parallelmontage sehen wir jene Frau (Valéria Bruni-Tedeschi), die im Film als »die Bäckerin« eingeführt wird und die das Objekt von Bonis sexuellen Fantasien darstellt, tanzend und liebevoll küssend mit ihrem Mann (Vincent Gallo) und ihrem Baby. Die Kamera tastet sich behutsam die Haut der beiden leicht bekleideten Körper entlang. Unklar, ob es sich um eine innerdiegetisch reale oder von Boni imaginierte Szene handelt, liegt der dramaturgische Wendepunkt in dem Wandel von Bonis projiziertem Weiblichkeitsbild vom Objekt sexueller Begierde zur familiären Geborgenheit und Liebe, die durch die Schwangerschaft der Schwester ausgelöst wird.6 Schließlich erblickt er die Bäckerin in einem Parfumgeschäft durch eine Scheibe, die Leuchtreklame des Ladens wird durch das spiegelnde Glas auf seinem Gesicht reflektiert. Plötzlich steht sie hinter ihm, spricht ihn an und schlägt vor, gemeinsam einen Kaffee trinken zu gehen.
Anstatt dass sich die Kleine-Jungs-Fantasien Bonis endlich erfüllen, reagiert er völlig unsicher und sprachlos, während sich durch ihr anhaltendes Reden die imaginären Weiblichkeitsbilder von Sexobjekt und Mutter aufzulösen beginnen und sie dadurch entmystifiziert wird, ohne allerdings asexuell zu erscheinen. Die Kamera ist zunächst ganz auf sie gerichtet. Sie lässt sich von einem Sitznachbarn eine Zigarette anzünden und fasst sich beiläufig an die Nase. Dann hält sie Boni ihre ausgestreckte Hand hin, mit der Aufforderung, an der Innenseite ihres Unterarms zu riechen, um ihr Gesprächsthema einzuleiten. Sichtbar unbeholfen erzählt sie von einem Artikel über die biologische Wirkungsweise von Pheromonen, die zwischen Frau und Mann zirkulierten und sexuelle Signale aussendeten. Sie benutze kaum noch Parfum, seitdem sie diesen Artikel gelesen habe. Der Film kokettiert in dieser Szene durch kleine Gesten mit dem Geruchssinn, doch anders als in den vorangegangenen intensiv-sinnlichen Aufnahmen des Berührens, Riechens und Schmeckens erzeugt die hiesige sprachliche Ebene eine Distanz zum Gezeigten.
Während man anschließend weiterhin ihre Stimme hört, sieht man nun Bonis Gesicht in einem langen Close-up, sein leichtes Schluchzen und die glasig unbestimmten Augen, bis die Sequenz abrupt endet. Von dem sexuellen Begehren Bonis ist nichts mehr zu spüren. Noch einmal Claire Denis: »die maßgeblichen Landschaften waren die Gesichter der Schauspieler, und diese waren unendliche Landschaften.« Die Untiefe des Gesichts erscheint paradigmatisch für den Film. Zwar haben die Charaktere eine Geschichte und sind Teil eines sozialen Netzes, doch folgt daraus nicht die Repräsentation einer stabilen Identität, vielmehr zeigt sich in der Figur männlicher Adoleszenz die prozessuale Verunsicherung von Identität: »Die individuellen Charaktere werden nicht in ihrer ›Tiefe‹ definiert, in irgendeinem psychologischen Sinn, sondern werden eher permanent konstruiert in dem Prozess des Werdens, während sie sich durch verschiedene Räume und Orte bewegen.« (Mayne 2005: 71). Überhaupt, so Mayne, spiele NÉNETTE ET BONI mit dem durchgängigen Motiv des Flusses, der Bewegung und der Veränderung.
Für die Zuschauer_innen sind in dieser entscheidenden Szene Hören und Sehen getrennt. Scheint der Film zuvor die synästhetische Sinnlichkeit auszustellen, so die filmanalytische Beobachtung oder These, so wird an dieser Stelle die Metaebene des Diskurses transparent. Während im Off der selbstreflexive Verweis auf den Konstruktionscharakter des Somatischen hörbar ist, wird er wiederum durch die apsychologische Untiefe und Sinnlichkeit des Gesichts gebrochen.
Auf der ontologischen, der medial-dispositiven und der Ebene des konkreten Films habe ich versucht aufzuzeigen, wie der Körper und seine Gefühle zugleich ursprünglich und produziert sind und wie dieser Umstand im Kino und darüber hinaus in bestimmten Filmen reflektiert und wahrnehmbar wird. Wider die falsche Alternative einer aisthetisch indifferenten postmodernen Zitationsikonografie einerseits und einer ontologischen Rehabilitation ursprünglicher Körperlichkeit durch die Hintertür einer somatischen Filmtheorie andererseits möchte ich das Spezifikum der Kinoerfahrung hervorheben, das in der reflexiven Erfahrung der Eigenleiblichkeit begründet liegt: körperlich-affektiv mitgerissen zu werden, und dies gerade im Wissen um den Konstruktionscharakter filmischer Welten. Der Versuch, beide konträren Aspekte, erlebte Ursprünglichkeit und diskursive Konstruktion, zusammenzudenken, entspringt dabei dem negativen Impuls gegenüber zwei gängigen, aber meines Erachtens verkürzten Extrempositionen in Theorie, Kritik und Publikum: Die erste marginalisiert mit dem Mittel eines konstruktivistisch informierten Alltagswissens das zentrale Rezeptionsmoment passiv-körperlichen Mitgerissenwerdens und Hingerissenseins, während auf der anderen Seite einer populärexistentialistischen Authentizitätsrhetorik in die Hände gespielt wird.
Was die körperphänomenologische Rezeptionsästhetik anbelangt, so entpuppt sich die Sprache einer solchen Theorie selbst als Problem. Denn die phänomenologischen Beschreibungen erfolgen beinahe notwendig – so auch in meinen eigenen bisherigen Ausführungen – in einem Kollektivsingular, den die Politik der Differenztheorien seit langem als abstrakte oder ideologische Homogenisierung kritisierte: Wer verbirgt sich hinter diesem Wir, das seinen Leib spürt? Neben der postmodernen Identitätskritik aus dem Umfeld der Cultural Studies wäre es vor allem das negative Denken der Kritischen Theorie, das dem phänomenologischen leiblichen Zur-Welt-sein die spielverderberische Frage entgegenhielte, von welcher Welt und wessen Leib sie eigentlich sprechen. Denn jene Zentralbegriffe verdecken tatsächlich zutiefst asymmetrische Gefüge, die je nach Kategorien sozialer Herrschaft wie Klasse, Geschlecht, Sexualität, Ethnizität und Alter strukturiert sind. Eine indifferente Übernahme eines solchen Vokabulars, die nicht zwischen der lebensweltlichen und diskursiven Analyseebene unterscheidet, käme einem Rückschritt von wohl vierzig Jahren kritischer Forschung innerhalb der Filmwissenschaft gleich.
Was nun aber die so genannten Diskurstheorien anbelangt, so möchte ich zuletzt gegen Butlers (Butler 1997a) und Foucaults (Foucault 1996; Foucault 2005) voreilige Verwerfung des phänomenologischen Paradigmas für eine Relektüre Merleau-Pontys plädieren – und dies im Lichte der performativen Wende. Denn der richtige Vorwurf des Essentialismus reicht hier für ein ›Oublier Merleau-Ponty‹ nicht aus. Denn er vermag nicht diese bestimmte Emphase zu erklären, die Merleau-Pontys Wahrnehmungsbegriff umhüllt. In dessen prosaischem Schreiben offenbart sich bisweilen, dass der Text nicht bloß ein konstatierender ist, wie Foucault ihn verstand, sondern zugleich mit einem konstruktiven und performativen Impetus versehen ist, wie das folgende Zitat zeigt: »Wir haben aufs neue gelernt, unseren eigenen Leib zu empfinden, wir haben, dem objektiven, distanzierten Wissen vom Leib zugrunde liegend, ein anderes Wissen gefunden, das wir je schon haben, da der Leib immer schon mit uns ist und wir dieser Leib sind. In gleicher Weise werden wir eine Erfahrung der Welt zu neuem Leben zu erwecken haben, so wie sie uns erscheint, insofern wir zur Welt sind durch unseren Leib und mit ihm sie wahrnehmen.« (Merleau-Ponty 1966: 242 f.) In der Beschreibung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens liegt bereits der subalterne Appell, anders zur Welt zu sein und somit, was Foucault gedachte, anders zu werden.
Über den Leib sind wir zur Welt und in der Welt des Kinos, wo wir in die Dinge und Körper hinein können, unter ihre Haut, wobei wir ein Stück weit und eine Zeit lang unser Selbst an die Maschinerie verjubeln und über die fleischliche Verwebung anders werden. Hierin liegt der Anfang einer Kino-Ästhetik der Existenz.
Butler, Judith (1997a) »Geschlechtsideologie und phänomenologische Beschreibung. Eine Kritik an Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung«, in: Phänomenologie und Geschlechterdifferenz, hrsg. v. S. Stoller und H. Vetter, Wien: WUV-Universitätsverlag 1
Butler, Judith (1997) Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Deleuze, Gilles (1991) Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Foucault, Michel (1976) Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Foucault, Michel (1996) Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Foucault, Michel (1984) »Der maskierte Philosoph«, in: Von der Freundschaft, Berlin: Merve, S. 9-24
Foucault, Michel (2005) »Strukturalismus und Poststrukturalismus«, in: Dits et Ecrits. Schriften IV, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 521-555
Kracauer, Siegfried (1987) »Ansichtspostkarte«, in: Straßen in Berlin und Anderswo, Berlin: Das Arsenal, S. 37-38 (Erstauflage Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964)
Lemke, Thomas (1997) Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg: Argument
Marks, Laura (2000) The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses, Durham, London: Duke Univ. Press
Mayne, Judith (2005) Claire Denis, Urbana/Chicago: University Of Illinois Press
Merleau-Ponty, Maurice (2003) »Das Kino und die neue Psychologie«, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg: Meiner, S. 29-46
Merleau-Ponty, Maurice (1986) Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink ([1964])
Merleau-Ponty, Maurice (1966) Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter
Thompson, Andrew O. (1997) »Nénette et Boni Exposes Brother-Sister Bond«, American Cinematographer, Band 88, S. 16-20
Voss, Christiane (2006) »Filmerfahrung und Illusionsbildung. Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos«, in: …kraft der Illusion, hrsg. v. Gertrud Koch und Christiane Voss, München: Fink, S. 71-86