Tanz im Autorenfilm am Beispiel Jean-Luc Godards
Zum Tanz im Film bei Godard ‚nachzuschauen‘, scheint zunächst nicht unbedingt naheliegend: Tanzszenen als solche sind nicht eben omnipräsent in seinem Œuvre. Dennoch möchte ich die Hypothese wagen, dass Tanz im Sinne einer choreografischen Situierung als Strukturmerkmal in ausgewählten Beispielen des Autorenfilmers aufgefunden werden kann und zwar im Hinblick auf kompositorische Gestaltungen und auf narrative Elemente in ausgewählten Filmbeispielen. Bei den folgenden Überlegungen konzentriere ich mich auf Aspekte wie Pose beziehungsweise Still und ihre Anordnungen, auf Aussetzung, Unterbrechung und Fragmentierung sowie auf Blickführung und Rahmungen von Filmelementen, die wiederum intermediale Bezüge aufweisen und hierbei etwa Attribute von Tanz und Film der historischen Avantgarde adaptieren.
Im Film UNE FEMME EST UNE FEMME (F 1961), der, auch indiziert durch entsprechende Schrifttafeln, die Genres der Comédie-Française, der Oper und des Musicals zitiert, finden sich besonders im Hinblick auf Letzteres tatsächliche Tanz-Szenen. Der Plot entfaltet sich entlang genretypischer Geschichten einer Dreiecksbeziehung: Angela (Anna Karina) ist mit Émile (Jean-Claude Brialy) verheiratet und wird von Alfred (Jean-Paul Belmondo) begehrt. Die Figuren sind sämtlich typisierend überzeichnet im Hinblick auf Gestik, Sprache, klischierte Zitate aus entsprechenden Genres, die bereits im Titel angespielt werden, und den komödienhaften Schluss, der an vergleichbare Filme mit Doris Day oder Audrey Hepburn erinnert. In einer Situation nähert sich Alfred Angela, die ihn in einem kurzen Wortwechsel jedoch abweist. Die darauffolgende Musicalszene unterbricht diesen Dialog, indem sie sich der Charakteristika von Musikfilmen bedient, wie man sie etwa aus Gene-Kelly-Filmen kennt. Besonders der Vergleich mit SINGIN' IN THE RAIN (USA 1952) fällt hierbei ins Auge. So posiert Angela kokett mit einem Schirm auf ähnliche Weise wie Gene Kelly in einem Hinterhof, der allerdings nicht romantisch technocolorisiert und weichgezeichnet ist, sondern eher vermüllt und düster erscheint.
Im Hinblick auf das typische Bewegungsrepertoire der Kelly-Filme, das sich in weit ausgreifenden Gesten, Sprüngen oder Stepptanzschritten entfaltet, fällt bei Godard das Zitat dieser Ästhetik der bewegten Überbietung auf, die mit entsprechender kurzer Musik untermalt ist: Anders als die temporeiche Virtuosität Kellys jedoch läuft der Tanz als Bewegungsakrobatik bei Godard ins Leere. Der kurze konkurrierende ‚Battle‘ zwischen Angela und Alfred gestaltet sich in seinen Bewegungszitaten vielmehr in einem ungelenken und banalen Duett aus kurzen, posenhaften Arretierungen von Bewegung: Am Boden hockend, sich den Hintern zuwendend oder, leicht wackelnd, ein Bein ausgestreckt in die Höhe hebend. Damit wird die Pose des Musicals buchstäblich als solche körperlich zitiert, überbetont ausgestellt und ironisch kommentiert. Die Musik wiederum setzt kurzgetaktete, abrupte Akzentuierungen für jene Posituren, verläuft also nicht in einem harmonischen melodischen Bogen, auf den hin der Tanz üblicherweise dramaturgisch ‚passend‘ inszeniert ist.
Die Ausstellung des Genres fällt besonders in Bezug auf die Thematisierung der ‚Gemachtheit‘ jener Haltungen in Musicalfilmen auf: Am linken Rand der beschriebenen Szenerie hält sich ein Paar in einem Hauseingang auf, in einer Umarmung im Kuss verstrickt. Konzentriert man den Blick auf diese ‚Randepisode‘, fällt auf, dass das Paar sich recht antiromantisch in diese Pose hineinruckelt, sie kurz ausprobiert und dann regelrecht in die Pose hinein-geht und dort absolut still, in fast fotografischer Bewegungslosigkeit verharrt. Siegfried Kracauers Vorwurf an das Musical als leblose Kunst scheint dabei explizit gewollt (Kracauer 1964: 75). Gilles Deleuze wiederum bemerkt zu Godards Spiel mit dem Genre Musical:
Während in einem klassischen Musical der Tanz sämtliche Bilder, selbst die einführenden und die eingeschobenen, gestaltet, entsteht er hier als ein ‚Moment‘ im Verhalten der Helden, als eine Grenze, auf die eine Bilderfolge hin strebt: eine Grenze die, sobald sie erreicht ist, eine neue Folge bildet, die auf eine neue Grenze hin ausgerichtet ist. (Deleuze 1997: 239)
Kracauer allerdings betont, dass sich das Musical nicht nur in distinkten Tanz- und Gesangsszenen strukturiere, sondern diese den „Fluss der [alltäglichen] Geschehnisse“ der Handlung insgesamt mitbestimmten (Kracauer 1964: 73).
Insofern könnte man die Umarmung in UNE FEMME EST UNE FEMME als Moment des Ver-Haltens, des Innehaltens markieren, das nicht nur das Musical selbst, sondern auch den Moment des Stillstellens von Bewegung auf einer filmisch(-technischen) Metaebene pointiert. Aus tanzwissenschaftlicher Perspektive ergibt sich ein noch weiterer Blick auf jene Musicalszene. Mit Gabriele Brandstetter kann die beschriebene Randsituation als ein Bewegungs-Still1 gefasst werden, das nicht nur im Film, sondern bereits im Tanz selbst immer schon die Medialität der Wahrnehmung artikuliere. Brandstetter verweist hierbei besonders auf den Tanz der historischen Avantgarde, der sich zwischen einem konstanten (Vorwärts-)Fließen und Streben, das die Moderne markiere, und diskreten, anhaltenden Momenten gestalte (Brandstetter 2005: 68).2 Das Herauslösen eines einzelnen Bestandteils im beschriebenen Filmbild könnte nun als ein solch diskreter, unterbrechender Augenblick verstanden werden, der auf den fiktiven und her-gestellten Charakter des Films verweist. Ich möchte hier allerdings weitergehen und mit Kracauer gegen Deleuze argumentierend die Hypothese aufstellen, dass die Musicalszene im Ganzen nicht ausschließlich die Ausstellung des Genres anhand der hier vollzogenen Brüche und Stopps unternimmt oder lediglich einen Moment des Aussetzens prononciert. Vielmehr gibt die tänzerische Sequenz einen Hinweis auf die Weise choreografischer Anordnungen, die sich über den gesamten Film erstrecken und diesen rhythmisieren.
Das Konzept der Anordnung wird besonders in den letzten Jahren in einer erweiterten Perspektive von Choreografie hinsichtlich interdisziplinärer Kontexte diskutiert, so etwa im Rahmen der bildenden Kunst. Choreografie wird hier beispielweise als ein Strukturmerkmal gefasst, das die Anordnungen und Arrangements von Ausstellungen gestalte, so Maren Butte, Kirsten Maar et al.: „to arrange determine[s] the different ways by which spaces, objects and people are activated and related to each other in both art and dance.“ (Butte et al. 2014: 21) Dorothea von Hantelmann wiederum konstatiert den choreografischen Charakter von Ausstellungen etwa anhand spezifischer, Zuschauer/innen lenkender Konstellationen in Projekten von Daniel Buren (von Hantelmann 2007). Wird hier das choreografische Prinzip des Arrangierens besonders im Hinblick auf Konstellationen zwischen Kunst-Dingen und Betrachter/innen verstanden, ist zu überlegen, inwieweit das Choreografische, als Extension über die Aufführung hinaus gedacht, auch außerhalb solcher relationaler Verknüpfungen als Strukturprinzip sichtbar werden kann. Bezogen auf den Film Godards kann jenes Prinzip der Anordnung in der Weiterführung der Musical-Tanz-Bewegung in eine ‚Choreografie des Alltags‘ beobachtet werden, so die Hypothese. Die habituellen Gesten in einer Wäschewasch-Szene werden beispielsweise tänzerisch ‚erleichtert‘. Darüber hinaus fallen im gesamten Film Wiederholungsstrukturen in der Makro- wie Mikroebene auf. So wird das allabendliche Ritual des Zu-Bett-Gehens des verheirateten Paares Angela und Émile choreografisch verstärkt: beim synchronen Anheben der Bettdecke und im gleichzeitigen, rhythmischen Abwischen der Fußsohlen, bevor diese die Laken berühren. Auch ein Streit wird buchstäblich choreo-grafisch gelöst: Auf die Ansage hin, mit dem Partner kein Wort mehr wechseln zu wollen, wird die Auseinandersetzung gewissermaßen schriftlich weitergeführt. In regelmäßigen Abständen erheben sich Angela und Émile aus dem Bett, treten an ein Regal und ziehen Bücher heraus, deren anschließend vor-gehaltene Buchtitel den Wort-Wechsel nun tonlos mit Schimpftiraden wie „Monstre“, „Filou“ oder gar (als Buchtitelkombination) „Tous les femmes... au poteau“ weiterführen. Dabei ist das wiederholte Aufstehen, Buchholen und Im-Bett-Vorzeigen stark rhythmisiert gestaltet.
Auf der Makrobene des Films wiederum erscheinen wiederholt bestimmte Elemente oder Szenen, von denen hier zwei ausgewählt seien: So wandelt sich der kokett gehaltene Schirm in der Musicalszene in ein eher pragmatisches, wenn auch unpraktisches Instrument der Beleuchtung des Bücherregals qua Lampenschirm, der umständlich mehrfach vom Bett zum Regal und wieder zurück geschleppt wird. Die Kuss-Umarmungs-Szene am Rande wiederum rückt später im Film ins Zentrum des Geschehens, als sich das Paar Angela und Émile wieder versöhnt: Ein Kuss im Treppenhaus zitiert in seiner formalen Bewegungslosigkeit nicht nur die Liebesbezeugung, sondern auch das technische Verfahren des Stills in der Musicalszene. Folglich fungiert Tanz in diesem Filmbeispiel nicht als Ausnahme, sondern strukturiert den Film im Sinne choreografischer, anordnender Prinzipien, die den Film rhythmisieren und über die wiederholende Anordnung von Szenen, Objekten und Bewegungselementen nachhaltig entdramatisieren. Darüber hinaus spielt Tanz bei Godard auch inhaltlich, im Sinne von Aussetzungen im Kontext von Arbeit eine Rolle und fungiert hier zudem als Moment der Unterbrechung und Rahmung von Handlung, worauf ich nun genauer eingehen möchte.
Im eine Dekade später gedrehten Film TOUT VA BIEN (F 1972) ist der Schauplatz eine von Angestellten und Arbeiter/innen besetzte Fabrik, in deren Streikaktionen der Werbefilmer Jacques (Yves Montand) und die Journalistin Suzanne (Jane Fonda), die privat ein Paar sind, hineingeraten. Verschiedene Plotstrukturen verlaufen hierbei parallel, wobei sich Fakt und Fiktion vermischen: die krisenhafte Beziehung von Suzanne und Jacques, die arbeitspolitische Auseinandersetzung in der bestreikten Fabrik sowie die eingeschobenen Reflexionen intellektueller Filmemacher im Nachklang des Mai 1968 und linksaktivistische Aktionen in den nachfolgenden Jahren.3 In die verfilmte Ausnahmesituation einer Aussetzung von Arbeit und damit Stagnation üblicher Gesten des Professionellen und ihrer Körperrepertoires und Bewegungsabläufe sind die bereits beschriebenen, rhythmisierenden Elemente des Choreografischen ebenfalls in einzelnen Szenen präsent: hier nun, um Bewegung als ungeregelten Kontrast von den konventionellen Gebärden des Arbeitens abzuheben – so etwa bei einer kammerspielartigen, boulevardesken Situation im Treppenhaus, in dem es zu Staus und daraufhin Gerangel der aufgebrachten Angestellten kommt. Später wiederum breitet sich die politische Bewegung in den gesellschaftlichen Alltag aus: In einer Supermarktszene am Ende des Films kommt es zu einer regelrechten Plünderungschoreografie einer Einkaufswagen schiebenden Menschenmasse, die sich aus den Regalen bedient, die Kassiererinnen ratlos zurücklässt und die schließlich von einer Gruppe Polizisten gewaltsam aufgehalten wird.4
Tanz wird außerdem selbst zum Gegenstand im Film: in einer Werbefilmszene, in der augenscheinlich die Kameraeinstellungen mit zwei Tänzerinnen als Werbeträgerinnen für Strumpfhosen geprobt werden. Eingebettet ist die Szene in eine vorangehende Rede Yves Montands – in der er den Zwiespalt zwischen politischem Engagement als Filmemacher und den Sachzwängen, Geld verdienen zu müssen, problematisiert – und den anschließenden Schwenk in das Studio des amerikanischen Fernsehsenders, in dem Fonda und Kolleg/innen arbeiten. In diesen das Berufliche denotierenden Rahmen führt nun der Tanz der Werbefilmszene das Thema Arbeit auf einer anderen Ebene weiter, indem er sich als ein Interludium, als ‚Entr’acte‘ gleichsam, zwischen die politisch motivieren Auseinandersetzungen um Arbeit schiebt. Denn die Szene bleibt zu den vorhergehenden relativ unverbunden, besonders auf der bildlichen Ebene und hier besonders der gewählten selbstreflexiven Bilddramaturgie: Die Sicht auf die Szenerie der beiden auf einem Podest tanzenden Darstellerinnen findet ausschließlich durch den Monitor der Kamera, gelenkt durch den Blick des Filmenden (im Narrativ des Films vermutlich Montand) statt, dessen ein- und nachstellende Hand sich immer wieder seitlich in das Bildfeld schiebt. Die tanzenden Beine werden dabei einerseits teils durch den Monitor der im Vordergrund platzierten Kamera verdeckt und sind jedoch paradoxerweise durch den fokussierenden Rahmen des Monitors derselben zugleich exponiert.
Die Attribuierung des Tanzes in dieser exponierten Szene von TOUT VA BIEN findet hierbei insbesondere über drei Demarkationen statt: den Blick, die Fragmentierung und den Rahmen.
Bezogen auf den Blick schiebt sich hier besonders der durch die Kamera bereits beschriebene als ein im Grunde doppelter in den Vordergrund: In der erwähnten Nähe-Distanz-Ambiguität sind die Beine außerhalb des Monitorrahmens durch die eigentliche Filmkamera Godards in ‚Originalgröße‘, aber nur unscharf sichtbar, durch den Monitor der Kamera des Protagonisten Montand wiederum zwar scharf, jedoch verkleinert, wodurch das Pendel in Richtung einer Distanzierung vom Filmgeschehen ausschlägt. Eine vorgebliche sexualisierte Blick-Lenkung auf die weiblichen Beine wird somit ver-stellt und, mit Kathrin Fahlenbrach formuliert, buchstäblich eine „Dekonstruktion monopolisierender Blickwinkel“ erreicht, welche die Sicht auf die „Industrie der Bilder“ und „Schulen“ eröffneten (Fahlenbrach 1997: 177–176). Auch das Gemacht-Sein jener Bilder rückt erneut in Vordergrund, über die schemenhaft zu erkennenden Ventilatoren am Rande, welche die kurzen Röcke der Tänzerinnen wehen lassen, und über die Apparatur der Kamera als mechanischer, produzierender Blick des Kameramanns Montand.
Der fragmentierende Fokus auf die Beine wiederum bezeichnet zunächst ein typisches Verfahren aus der Werbung oder aus Katalogen, wie man es etwa bei Spülmitteln, Unterwäsche oder Handcreme kennt, wo oftmals lediglich die durch das Produkt adressierten Körperteile ins Zentrum gerückt werden. Ein solches Vorgehen ist wiederum auch aus anderen Filme Godards bekannt, so etwa in BANDE À PART (F 1964), in dem in einer Filmszene zwischen einer Kameratotalen und dem ausschnitthaften Blick auf die Beine von Tanzenden in einem Bistro gewechselt wird (vgl. Nessel 2009: 62). Hanno Möbius betont die Montagen und Brüche fragmentarischer Bildfolgen in Godards Arbeit als charakteristische Elemente in dessen Filmästhetik. Dazu gehört auch die bekannte Trennung zwischen Sprache und Bild (Möbius 2003: 15–16). Interessant am Beispiel der Werbeszenen in TOUT VA BIEN ist nun, dass Godard diese Praxis auf den Ton als solchen erweitert und eine Distinktion zwischen Ton und Bild und wiederum Ton einzieht. So ist die ‚Tanzszene‘ zunächst geprägt von der üblichen weichspülhaften und zu den präsentierten Bildern passenden Musikuntermalung aus Werbekontexten, die allerdings das Probenhafte der Szene kontrastiert. Diese auf Konsum einstimmende Verknüpfung von Ton und Bild wird dann wiederum durch die – auf einem Holzpodest platzierten – trampelnden Absatzschuhe der Tänzerinnen akustisch rüde gestört und gebrochen. Der Tanz ist dabei im Wesentlichen beschränkt auf ein Vor und Zurück der Beine, hier und da ergänzt durch kleine Hüpfer nach oben. Durch den holzschuhartigen Sound entsteht ein grober, ungelenker Eindruck des Getanzten, der den in der Regel erwünschten eleganten Effekt einer handelsüblichen Strumpfhosenwerbung irritiert – und andererseits vermutlich auf die Herstellungsmethoden jener Industriefilme verweist, in denen das Aufgezeichnete klanglich zumeist nachsynchronisiert wird.
Sowohl die Blickführung der Kamera(s) als auch die Fragmentarik in der Bildlichkeit wiederum lässt intermediale Bezüge zu den Filminnovationen der historischen Avantgarde vermuten, in welcher der Tanz oftmals Experimentierfeld oder zumindest Bestandteil des noch jungen Mediums Film war. In René Clairs Kurzfilm ENTR'ACTE (F 1924), der in sehr schnell aufeinander folgenden Bildmontagen teils unverbundene Szenen von schrumpfhauptenen Puppen, Blicke aus fahrenden Zügen oder auf den Kopf gestellten Fabriken zeigt, sind in sehr kurzen, nahezu augenblickhaften Ausschnitten die sich drehenden, weißbestrumpften Beine einer (Ballett-)Tänzerin zu sehen, in diesem Falle gänzlich von unten (durch ein gläsernes Podest) aufgenommen. Wie der Titel bezeichnet, wurde ENTR'ACTE seinerzeit in der Pause der Aufführung des Balletts Relâche (theaterwörtlich: abgesagte Aufführung) in der Choreografie Francis Picabias in Paris gezeigt. Stück wie Film spielen also bereits in den Titeln mit der Idee der Aussetzung und Unterbrechung.5 Ich möchte insofern den Werbetanzfilm(-dreh) in TOUT VA BIEN als eine mögliche Entr’acte vorschlagen: mit Deleuze als einen „Zwischenraum zwischen den Bildern“ beziehungsweise zwischen zwei Bildern (Deleuze 1997: 233–234), der in diesem Falle ein Zwischen im Sinne einer Aussetzung des Politischen im Moment des Werbefilmherstellens denotiert. Fahlenbrach spricht hierbei von einem Modus des Zwischen bei Godard, den dieser einsetze, um „die Bezüge zwischen den Dingen in den Mittelpunkt [zu] stellen, statt die Dinge selbst“ (Fahlenbrach 1997: 178).6
Als dritte Markierung von Tanz möchte ich diesen folglich als Rahmen-Handlung positionieren und zwar sowohl im Hinblick auf die politischen Bezüge, die Godards Film inhaltlich wie formal konstelliert, als auch in der ästhetischen Perspektivierung. Innerhalb der zentralen Plotstruktur des Films und seiner Bewegungsanordungen, die zumeist aus streikbedingtem Warten, Verharren sowie Diskutieren und (die Arbeit) Reflektieren bestehen, setzt Tanz an dieser Stelle die Arbeits-Losigkeit gewissermaßen aus. Allerdings fungiert Tanz hierbei nicht als außersprachliches Mittel einer anderen Ebene von Kommunikation „von Körpern zu Körpern“, wie Wenke Wegner anhand von Beispielen aus dem jüngeren deutschen Autor/innenfilm konstatiert (Wegner 2015: 233, 235). Der Tanz im Film Godards verbleibt innerhalb symbolischer Ordnungen, die über den männlichen Blick auf weibliche Körper und hier die Beine markiert sind und zwischen Distanzierung und Annäherung changieren sowie überdies die ökonomische Systemlogik des Werbefilmemachens ansprechen. Auf der inhaltlich politischen Ebene spielt die Werbetanzszene insbesondere in Verknüpfung mit Montands vorausgehender Rede implizit auf kulturpolitische Geschehnisse und die Ordnungssituation im französischen Kino seinerzeit an: Geschichtlicher Hintergrund ist die Langlois-Affäre von 1968 – das heißt die Entlassung des Leiters der Cinémathèque française, Henri Langlois, da die Institution verstaatlicht werden sollte – und das damit einhergehende abflauende politische Engagement der Vertreter/innen der Nouvelle Vague (Giesenfeld 2003: 58). Darauf verweist der kritische Selbstkommentar Montands in seiner Rede, in der er, neben einer Kamera stehend und sich als Filmemacher identifizierend, die Ereignisse von 1968 Revue passieren lässt und über seine ambivalente Rolle und Haltung im Feld des linken, künstlerischen Aktivismus spricht, den er nun, offenbar auch aus finanziellen Gründen, mehr oder weniger hinter sich gelassen habe.7 Er unterbricht seinen Monolog relativ abrupt mit der Entschuldigung, sich nun wieder seiner Arbeit zuwenden zu müssen, worauf in einem scharfen Schnitt die Einstellung zum Werbefilmdreh folgt. Der Tanz wird in dieser szenischen Anordnung – gerahmt von Montands Rede vorab und der nachfolgenden Arbeitssituation im Sendestudio Jane Fondas – nun wiederum auf formaler Ebene zum Gegenmodell politischen Engagements. Als künstlerisches Medium des Werbefilms bringt der Tanz zudem die kapitalistische Logik als Rahmen-Handlung von TOUT VA BIEN (wieder) zur Sprache: In seiner Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos erläutert Godard die Prinzipien, Entscheidungen etwa für ein Filmvorhaben zu treffen, wobei er ästhetische Praktiken mit (politischen) Lebenswirklichkeiten und hierarchischen Modi der Produktionsbedingungen des Filmemachens explizit über den Begriff des Rahmens verbindet:
Dann bekäme man auch eine Vorstellung davon, was ein ‚cadre‘ ist und wozu er dienen kann. Und dann fiele einem ein, was man im Französischen einen ‚cadre de vie‘ nennt, die Lebensumstände, die Führungskräfte nennt man im allgemeinen ‚Kader‘ und es gibt die ‚encadrés‘: die, über die man verfügt. (Godard 1983: 29)
Auf der bildlich kompositorischen Strukturebene des Films sind Rahmen wiederum als ästhetisches Stilmittel äußerst präsent: Sie erscheinen geometrisch über fensterverglasten Büros innerhalb der bestreikten Firma, als grafische Linien an Wänden, vor denen ein Mitarbeiter die Situation reflektiert, oder als filmtheatrales Stilmittel der vorne offenen vierten Wand, die über zwei Stockwerke hinweg den Einblick in sechs verschiedene Büros und insofern sechs parallele Schauplätze erlaubt. Jene Parallelität wiederum vermittelt auf ästhetischer Erfahrungsebene die anhaltenden und sich stauenden Zeit-Räume des Streikens, die sich außerhalb der sonst üblichen voranschreitenden Arbeitsrhythmen des Produktiven chronotopisch verdichten. Stefan Hesper versteht entsprechend den Einsatz des Rahmens bei Godard im Sinne eines „Zeit-Ort[es]“, als verräumlichte Zeit, in der sich das Vorher und Nachher in ein Innen versus Außen wandele und der Rahmen als ein Drittes zwischen Zeit und Raum – in einer psychoanalytischen Perspektive –, als „eine Art Nabel des Bildes […] das Imaginäre des Bildes mit seinem realen Außen“ verbinde. Godard wiederum irritiere mit seinen filmischen Verfahren der „gerahmte[n] Kamera“ ebenjene filmästhetischen Zäsuren im Sinne eines „imaginäre[n] Koma[s] des Bildschirms“. (Hesper 1997: 145–147) Im Falle von TOUT VA BIEN wird eine solche Funktion des Rahmens, so meine ich, wiederum explizit ausgestellt und in der Ubiquität rahmender Schnitte wie Bildkompositionen überhöht und zugleich unterlaufen. Nicht auf ein fernes, fiktives Außen wird verwiesen, vielmehr bricht in den teils komödienhaften Szenen, die sich vor jenen Rahmen abspielen, sowie in der ökonomischen Profanierung des Filmemachens im polternden Werbetanz als Aus-Rahmung von Arbeit das Alltägliche nachgerade ein. Trias-Afroditi Kolokitha betont insofern, dass der Rahmen bei Godard das Außen hinein hole: „Obgleich die Kadrierung das Bildfeld […] begrenzt, ist im nichtsichtbaren Raum das Sichtbare tendenziell auf dieselbe Weise anwesend wie das Nichtsichtbare im Sichtbaren.“ (Kolokitha 2005: 204) Der Rahmen, so Kolokitha, durchkreuze in Godards Filmen das Bild und somit das Sichtbare und verschiebt damit, so könnte man weiterführen, nicht nur die ästhetischen Konventionen des Films, sondern auch seine Produktionsbedingungen und, bezogen auf TOUT VA BIEN, das Außen seiner gesellschaftspolitischen Kontexte. Denn übertragen auf das Narrativ des Films kann der Werbefilmtanz wiederum selbst als Rahmenhandlung gefasst werden, die in die Streikerzählung und den kritischen Diskurs der Protagonist/innen des Films das Außen des kapitalistischen Kommerzes einträgt. Godard stiftet somit Verwirrung, da unklar bleibt, was in TOUT VA BIEN nun den Rahmen und was die ‚Handlung‘ konstituiert, denn letztlich lässt er offen, ob die Werbeindustrie und ihre filmenden Protagonist/innen der Post-68er oder der Mai 1968 und seine übergeordneten soziopolitischen Nachwehen den Plot maßgeblich konturieren.
Momente des Tanzens, die vordergründig die ‚Handlung‘ beziehungsweise das Davor und Danach narrativ wie bildkompositorisch unterbrechen, werden, so meine Hypothese, zum strukturierenden Momentum in den ausgewählten Godard-Filmen. Als choreografisches, rhythmisierendes Medium in UNE FEMME EST UNE FEMME fungiert der Tanz im Sinne eines kompositorischen Prinzips, das den Film in wiederholenden, binnenfilmischen Bezugnahmen anordnet. Überdies wird Tanz in der ausschnitthaften Musicalszene zum Movens für Anspielungen auf Genres im Modus des Musikfilms oder der romantischen Komödie. In TOUT VA BIEN wiederum markiert Tanz den Zwischenraum, der die Ebenen von Rahmen und ‚Handlung‘ verrückt: Der Tanz im Werbefilm wird gleichsam zum Dreh-Moment, das um die Auseinandersetzungen in den Systemen von Arbeit, Kapitalismus(-kritik) und politischem Engagement kreist. Tanz in den (ausgewählten) Filmen Godards wäre insofern nicht (nur) als Ausnahme zu verstehen, mit der konventionelle Handlungsstränge unterbrochen und de-komponiert werden, sondern kann als ein Doppel von Strukturierungen im Modus choreografischer Iterationen und intervenierenden, rahmenden Interruptionen gefasst werden.
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