LES QUATRE CENTS COUPS und LA DRÔLESSE im Dialog
"Meine These zum Kinematographen lautet: im Dispositiv des Kinos – d.h. in seiner klassischen Anordnung –, ist ein Lehrer bereits enthalten. Anders gesagt, die Anordnung des Kinos selbst ist die Verkörperung eines Erziehers – Lehrkörpers–, der seinen Stoff via Leinwand vermittelt."1
Auf den ersten Blick sind die beiden Filme LES QUATRE CENTS COUPS (François Truffaut, F 1959) und der 20 Jahre später entstanden LA DRÔLESSE (JACQUES DOILLON, 1979) sehr unterschiedlich: Der eine erzählt vom Aufbegehren eines Jungen gegen erdrückende (staatliche) Autoritäten. Die Suche nach Freiheit und Selbstentfaltung bricht sich in einer drängenden Fortbewegung Bahn, die immer weitere Kreise zieht und schließlich am Meer, der Grenze des Landes wie der Gesellschaft endet. Der andere zeigt die Entführung eines Mädchens durch einen jungen Mann. Das Gefängnis, eine Dachkammer, wird zum Freiraum für die Begegnung zweier Außenseiter, die hier – jenseits der Erwachsenenwelt und der Gesellschaft – Konstellationen einer möglichen Beziehung erproben. Auch formal sind beide Filme gegensätzlich: Der eine ist in kontrastreichem Schwarzweiß, der andere in gedeckten Farbtönen gehalten. Der eine erschließt in Cinemascope (Stadt-)Landschaften, der andere inszeniert im engeren europäischen Breitwandformat ein Kammerspiel. Und dennoch gibt es eine auffällige Verwandtschaft beider Filme. Diese zeigt sich in filmästhetischen Kindheitsfiguren, die von einem Film zum anderen gewandert sind und über die beide Filme miteinander kommunizieren, sich aus heutiger Sicht gegenseitig beleuchten.
Diese Korrespondenzen verdichten sich in Klassenzimmerszenen, die gleich zu Anfang der Filme das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern, Autorität und Individuum, Macht und Weitergabe verhandeln. Wie Winfried Pauleit mit der griffigen Formel vom Kinematographen als Zeigestock auf den Punkt gebracht hat, kennzeichnet das Kino ein ambivalentes Verhältnis zur Schule. Indem es etwas zeigt und zur Anschauung bringt, kann es Vermittlungsfunktionen erfüllen, übt aber auch Macht aus. "Dieser immanente Lehrer des Kinos ist ein Konkurrent des Lehrers in der Schule"2. Eine derartige Konkurrenz wird gerade in Sequenzen verhandelt, in denen die Mise en scène unterschiedliche Positionen zum innerfilmischen Unterricht einführen kann. Zugleich fungiert der innerfilmische Lehrer auch als "Doppelgänger" der Regie.3 Er reguliert die Bewegungen, Blicke und Sprechweisen der Schüler*innen und ist in diesem Sinne für die Mise en scène des Klassenzimmers verantwortlich. In der Figur des Lehrers verkörpert sich somit auch der Anteil der filmischen Apparatur an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, oder – anders gesagt – an der Erziehung des Publikums. Dieses ambivalente Verhältnis zwischen Film und Unterricht wird – wie ich im Folgenden zeigen werde – in den beiden Filmen LA DRÔLESSE und LES QUATRE CENTS COUPS verhandelt. Die beiden jungen Regisseure, die in ihren ersten Filmen mit Kindern als Darsteller*innen arbeiten, befragen damit ihre eigene Position.
"Sehr deutlich trifft der immanente Lehrer des Kinos immer dann hervor, wenn innerhalb eines Films ein Lehrer auftritt. Dann wird aus der Konkurrenz eine Mehrstimmigkeit, die sowohl den Lehrer mit seiner Vermittlungsarbeit, als auch den Kinematographen mit seiner anderen Form der Vermittlung zum Zuge kommen lässt."4
Beide Filme beginnen im Klassenzimmer, wo sich ein Kind dem Unterricht verweigert. Sie setzen ein mit einem Blick, der abschweift. In LES QUATRE CENTS sehen wir über die Schulter eines Jungen, der erst in ein Schulheft schreibt, dann ein Bild hervorholt. Der Schwenk folgt dem Bild, das von Bank zu Bank weitergereicht wird, ein Schüler beginnt es anzumalen, bis die Stimme des Lehrers aus dem Off zur Ordnung ruft.
Von Anfang an wird damit eine Differenz etabliert zwischen der Schrift und dem Bild, zwischen der Stimme des Lehrers und den stummen Gesten der Schüler, zwischen dem Gegenstand des Unterrichts und dem, worauf sich die Aufmerksamkeit der Jungen richtet. Auch LA DRÔLESSE setzt mit dem vom Unterricht abschweifenden Blick ein. Wir sehen durch das Loch einer Scheibe auf einen Friedhof, auf dem eine Frau ein Grab pflegt. Erst im Anschluss wird dies als Blick eines Mädchens in einer Schulbank erkennbar. Das Mädchen beginnt mit einem Lineal zu spielen, das einen Lichtstrahl auf die Tafel reflektiert und dadurch die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zieht. Sein Blick veranlasst sie, sich ihrem Schulheft zuzuwenden.
Die Mise en scène ist hier noch radikaler.5 Denn wir teilen den Blick des unaufmerksamen Kindes, schon bevor wir überhaupt wissen, dass wir uns in einem Klassenzimmer befinden. Der Blick geht nach Draußen, statt unter die Schulbank. Die transgressive Geste erfolgt hier nicht in aller Heimlichkeit, sondern auf der Tafel, für alle sichtbar. Der abschweifende Blick und die spielerische Geste der Schülerin werden hier nicht von der Stimme, sondern dem zurechtweisenden Blick des Lehrers beantwortet.
Die Kamera zeigt uns also zunächst das, was die Aufmerksamkeit der Schüler*innen weckt, schlägt sich auf ihre Seite. Sie folgt ihren Blicken und Gesten, die fremde Elemente in den Unterricht einführen. In LES QUATRE CENTS COUPS handelt es sich um ein Pin-Up, das unter den Schulbänken zirkuliert. Ein Bild der Populärkultur wird der von der Schule legitimierten Schriftkultur entgegengesetzt, die sich im Schulheft, später auch in dem Gedicht manifestiert, das der Lehrer an die Tafel schreibt. Der Protagonist Antoine Doinel tritt in dem Moment hervor, als er dieses Bild anmalt, die voyeuristisch dargebotene leicht bekleidete Frau mit einem Schnäuzer versieht. Winfried Pauleit hat diese (filmische) Geste als eine Parteinahme für ästhetische Bildung gedeutet. Die "bildkünstlerische Aktivität" des Schülers erinnere an die Strategien der Aneignung (und so möchte ich hinzufügen: Verfremdung) in der modernen Kunst.6 Sie reiht sich in andere "Gesten der Selbstermächtigung" ein, mit denen Antoine im weiteren Verlauf des Films versucht, sich als Individuum gegenüber den gesellschaftlichen Autoritäten zu behaupten – darunter ein phrasenhaftes Gedicht, dass er während der Pause an die Wand des Klassenzimmers schreibt.7 Laut Winfried Pauleit zeigt sich darin auch die Geste der Regie, die Suche des jungen François Truffaut nach Autorschaft, die dort beginnt, wo der sprachbasierte, autoritäre Unterricht scheitert.
In LA DRÔLESSE ist diese ästhetische Geste weniger offensichtlich, denn es wird kein anderes Medium in den Unterricht eingeführt. Stattdessen hantiert die Protagonistin Mado mit einem Lineal, das sie als Zeigestock gebraucht. Damit eignet sie sich gewissermaßen die Zeigegeste des Lehrers an und reproduziert diese. Sie verweist auf die Aufgabe, die er an die Tafel geschrieben hat und die sie dazu auffordert, ein Gedicht für ihre Mutter zu schreiben. Indem sie das Lineal als Zeigestock zweckentfremdet, verweigert sie sich zugleich der Zumutung dieser Aufgabe, die sie dazu auffordert, kreativ zu werden, indem sie ein Klischee re-produziert: die Mutterliebe. Später wird sie auf die Aufforderung, ihr Gedicht vorzulesen antworten: "Ich liebe meine Mutter nicht". Die symbolische Aneignung des Zeigestocks, die eine kurzzeitige Umkehr des Lehrer-Schüler-Verhältnisses andeutet, ist damit zugleich die Geste einer Arbeitsverweigerung, sie stellt die Autorität infrage. Bei Antoine äußert sich diese Arbeitsverweigerung im Verlauf von LES QUATRE CENTS COUPS im Schule Schwänzen. Als er von einem Lehrer dafür zur Rechenschaft gezogen wird, antwortet er "Meine Mutter ist tot". LA DRÔLESSE scheint daran anzuknüpfen und in Mados unverblümter Äußerung den Subtext von Antoines Aussage vor Augen zu führen: als würde hier die Geschichte eines Kindes, dem die Zuneigung der Mutter fehlt, weitergeschrieben.
Aber das Lineal fungiert nicht nur als Zeigestock, es ist auch ein Spielzeug. Mado zweckentfremdet es, um das Tafelbild zu transformieren: Sie malt gewissermaßen mit Licht. Das Licht umspielt die Schrift, lässt statt der Aussage das Schriftbild hervortreten. Dieses Lichtspiel materialisiert sich erst in der filmischen Aufnahme als ästhetische Form. In diesem Sinne wird hier ebenfalls ein fremdes Element in den Unterricht eingeführt, das der Kinematographie, die Bewegungen 'schreibt'. Damit verweist das Lineal als Spielzeug konsequenter als das klischeehafte Bild auf den Film als ein Medium, das die flüchtigen Bewegungen des Lichts, ebenso wie der menschlichen Empfindungen einzufangen und widerzugeben vermag.8
Der Filmautor Doillon definiert sich – um den Gedankengang von Winfried Pauleit aufzugreifen – von Anfang an im Bezug zu seinem filmischen Vorbild: die Geste des Spielens lässt sich, ebenso wie der abschweifende Blick und die Schrift an der Tafel als eine Geste der filiation, der Wahlverwandtschaft, verstehen.9 Wenn auch der Unterricht in beiden Filmen scheitert, findet doch ein Übertragungsprozess anderer Art statt, der zwischen den Filmen. Beide – LES QUATRE CENTS COUPS und LA DRÔLESSE – beziehen sich dabei auf ein gemeinsames Vorbild, das die medienreflexive Dimension ihrer filmischen Gesten explizit macht: ZÉRO DE CONDUITE (Jean Vigo, F 1933). Dort sind es nicht die Schüler, sondern der Künstler als Lehrer, der ein fremdes Element in den Unterricht einbringt: eine Zeichnung, die sich unter seinen Augen in Bewegung versetzt.
Dieser ikonische Moment hat sich gewissermaßen in diese – wie in zahlreiche andere Unterrichtsszenen des französischen Kinos – eingeschrieben. Was in ZÉRO DE CONDUITE noch in der Handlung vollzogen wird, können die nachfolgenden Filme indirekt aufrufen. Sie zeigen es gewissermaßen mit, sodass die bildgestaltende oder spielerische Geste eines Kindes – in den Augen der Zuschauer*innen, die das Vorbild kennen – zu einer medienreflexiven Geste wird.
"Er [der Zeigestock] wird als Instrument innerhalb einer Anordnung dort eingesetzt, wo die Wortsprache endet und man sich auf Gesten aufs wortlose, visuelle Zeigen verlegt. Dazu benötigt man ein Drittes, eine Tafel, ein Bild, einen Gegenstand. Falls dieses Dritte nicht vorhanden ist, kann es auch zu taktilen Einflussnahmen des Drohens oder Prügelns kommen. Auch dies ist eine antiquierte Form, die den Stock als Medium einsetzt. Der Ausspruch 'Dir werd' ich es zeigen' zeugt noch heute von dieser Anwendung."10
Mit der Analogie das Kinematographen als Zeigestock impliziert Winfried Pauleit jedoch nicht nur die Geste des Zeigens, die zum "Zuschauen verpflichtet" – wie es Serge Daney formuliert hat.11 Sie deutet auch auf die den Apparaten innewohnende Machtausübung hin. Der Zeigestock ähnelt auch dem Rohrstock, mit dem (männliche) Lehrer im autoritären Schulsystem der Vergangenheit das in ihren Augen abweichende Verhalten sanktionierten. Somit geht es in den genannten Filmen nicht nur darum, wie sich der Blick der Schüler*innen zu dem verhält, was der Lehrer vorzeigt, wie die Kamera das, was sie sehen sollen, und das, was sie sehen wollen, artikuliert. Es stellt sich auch die Frage, wie der (abschweifende) Blick der Schüler*innen sich zum (kontrollierenden) Blick des Lehrers verhält. Inwiefern impliziert die filmische Anordnung also nicht nur ein Hinschauen, als vermittelnde oder potentiell subversive Geste, sondern auch das Beobachten als Kontrollfunktion? In der filmischen Mise en scène des Unterrichts in LA DRÔLESSE und LES QUATRE CENTS COUPS werden auch diese Machtkonstellationen verhandelt.
Nach der beschriebenen Aufnahme des von Hand zu Hand gereichten Bildes etabliert LES QUATRE CENTS COUPS die Grundzüge eines autoritären Schulunterrichts. Auf die Stimme des Lehrers, die aus dem Off in die Aufnahme der Schüler dringt und Antoine nach vorne ruft, reagiert die Kamera wie ertappt, indem sie hastig zum Lehrer schwenkt, der hinter dem Pult vor der Tafel thront. Sein Zeigefinger weist Antoine, den er als Unruhestifter ausgemacht hat, in die Ecke, ins Off des eigenen Blickfeldes. Mit dieser Geste der Zurechtweisung, sondert der Lehrer (auf Ebene der filmischen Handlung) den unbotmäßigen Schüler aus, und hebt (in Hinblick auf die Zuschauer*innen) den Protagonisten hervor. Später wird er an der Tafel ein Gedicht notieren, das er gleichzeitig vorliest, während die Schüler abschreiben müssen. Die Synchronität von Ton, Bild, Schrift markiert hier das durch den Unterricht legitimierte Zentrum der Aufmerksamkeit, auf das sich die Blicke der Schüler nur unter Zwang richten. Dieser Zwang wird nicht nur über die Stimme, sondern vor allem über den Blick des Lehrers ausgeübt. Eine Totale, die die schreibenden Schüler aus der Blickrichtung des Lehrerpults zeigt, ruft die panoptische Funktion der Raumordnung auf.12 Winfried Pauleit hat darauf hingewiesen, dass es sich dabei nicht um eine subjektive Lehrerperspektive, sondern um eine strukturelle Perspektive handelt. Sie veranschaulicht die Kontrollinstanz, die der räumlichen Organisation des Schauens innewohnt. Denn die Totale erscheint erst in dem Moment, indem der Lehrer seine Position am Pult verlassen hat, um die Bankreihen kontrollierend abzuschreiten. 13
Das Prinzip des Schuss-Gegenschusses, als Blickwechsel zwischen Lehrer und Schüler, folgt wiederum der Logik des Befehls. Auf die Anund Zurechtweisung des Lehrers, folgt die Reaktion der Schüler. Die Art und Weise, wie das Sprechen, der Blick und die Bewegungen der Schüler durch die Figur des Lehrers kontrolliert werden, führt die hierarchische autoritäre Dimension dieser Vermittlungsbeziehung vor. Doch wie schon zu Anfang programmatisch markiert, vermittelt uns die Mise en scène auch noch etwas anderes – und zwar gerade in den langen, von der Logik des Unterrichts abschweifenden Aufnahmen, die bei den Schülern verweilen und auf das hinweisen, was vom Unterricht abweicht. Sie zeigen nicht nur die Tafel, an die der Lehrer schreibt, sondern auch das Bild, das zwischen den Bankreihen zirkuliert. Sie verfolgen die widerwillige Langsamkeit der Bewegungen von Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), mit der er den Befehlen des Lehrers Folge leistet. Sie bringen das hervor, was buchstäblich hinter dem Rücken des (zur Tafel gewandten) Lehrers geschieht, dort, wo sein Blick nicht hinreicht: Ein Junge befleckt in einer an den Slapstick erinnernden Performance sein Heft mit Tintenklecksen14; die anderen unterlegen mit anzüglichen Gesten dem vom Lehrer vorgetragenen Gedicht eine eigene Deutung und versetzen die statische Klassenordnung kurzzeitig in Bewegung, bis der Blick des Lehrers sie zur Ruhe ruft.
Und selbst die panoptische Totale des Klassenraums löst die Kamera in eine Seitwärtsbewegung auf, die den Lehrer selbst zu kontrollieren scheint. Die Kameraführung distanziert sich damit vom autoritären Unterricht, der durch die Stimme, den Blick und die Zeigegeste des Lehrers definiert wird. Sie ermöglicht – in den Worten Winfried Pauleits – eine "Differenzerfahrung", in der die autoritäre Ordnung der Schule ebenso spürbar wird, wie die heimliche Rebellion der Schüler als Individuen. 15
Im Vergleich dazu werden in LA DRÔLESSE vordergründig keine autoritären Gesten des Unterrichts inszeniert. Der Lehrer sitzt nicht frontal vor der Tafel, sondern seitlich neben ihr. Die bereits angeschriebene Aufgabe gibt nicht etwa ein Gedicht zum Abschreiben vor, sondern fordert dazu auf, selbst eins zum Muttertag zu schreiben. Die Schüler*innen werden nicht mit dem Zeigefinger hin und hergeschickt, der Lehrer erhebt nie die Stimme. Und die Kameraführung verwehrt uns den panoptischen Blick auf das Klassenzimmer. Insgesamt scheinen wir einem Unterricht beizuwohnen, der bereits von Reformbemühungen der antiautoritären Bewegung geprägt ist und die Kinder als kreative Subjekte anspricht. Dennoch ist auch diese Szene geprägt von der schulischen Ordnung, die in den Habitus, in das Verhalten der Kinder, eingedrungen ist. Im Unterschied zu LES QUATRE CENTS COUPS, in dem die Schüler immer wieder den Unterricht – mit ihren Gesten, Blicken, Stimmen – stören, ist die Klasse in LA DRÔLESSE mucksmäuschenstill. Alle sitzen ruhig an ihren Plätzen und sprechen nur auf Aufforderung. Unruhe entsteht nur einmal, als sich die anderen über Mados 'Revolte' lustig machen, und wird durch ein "Schsch" des Lehrers sofort unterbunden. Die Macht, die vom Lehrer ausgeht, äußert sich vor allem in seinem Blick. Als er, durch das Lichtspiel auf der Tafel aufmerksam geworden, zu Mado hinschaut, legt diese sofort das Lineal weg und wendet sich dem Schulheft zu. Wie in LES QUATRE CENTS COUPS, wirkt der Anschluss an den Blick des Lehrers hier wie die Ausführung eines Befehls, dem die Schülerin (wie die Kamera) zu folgen hat. Gerade weil der Lehrer dabei die Stimme nicht erhebt und auch keine zurechtweisende Geste macht, tritt der vorauseilende Gehorsam des Mädchens, das die Rolle der folgsamen Schülerin spielt ohne die Aufgabe tatsächlich zu erfüllen, hervor. So wie die Figuren hier die Ordnung der Schule verinnerlicht zu haben scheinen, so ist auch den Zuschauer*innen die Mise en scène des Unterrichts aus anderen Filmen (und unserer eigenen Schulerfahrung) vermutlich derart geläufig, dass sie diese der Szene aus LA DRÔLESSE gewissermaßen wie eine Folie unterlegen, sie 'mitsehen'. Wenn LES QUATRE CENTS COUPS noch beides zugleich in seiner Differenz vergegenwärtigt: die Ordnung des Unterrichts und die Individualität des widerspenstigen Schülers, quasi also die Einschreibung des Unterrichts in die Körper vorführt – wird dies in LA DRÔLESSE bereits vorausgesetzt. Dementsprechend konzentriert sich die Mise en scène hier nicht auf das Spannungsverhältnis zwischen dem autoritären Unterricht (Schuss-Gegenschuss) und der Eigenbewegung der Schüler (abschweifende lange Einstellungen), sondern auf eine Schülerin, die durch die Montage in ein Verhältnis zur Umgebung gesetzt wird.
Die Machtverhältnisse und Beziehungen werden in LA DRÔLESSE in dem subtilen Spiel der Blickstrukturen greifbar; darin, welche Aufnahme welche nach sich zieht oder ihr vorausgeht, wie sich der Blick des Kindes und des Lehrers, wie sich das, was gesagt wird, und das, was zu sehen ist, aufeinander beziehen. Schon zu Anfang der Szene zeichnet sich eine Verschiebung ab. Während die ersten Einstellungen das aufrufen, was die Aufmerksamkeit des Mädchens nach sich zieht, oder dem von ihr initiierten Lichtspiel folgen, kehrt sich mit dem Zurückschauen des Lehrers die Blickstruktur buchstäblich um, wird zu einer Aufforderung, der Mado Folge leistet.
Die Kameraführung initiiert nun nicht mehr das Begehren des Kindes, sondern folgt der (stummen) Zurechtweisung des Lehrers. Eine ähnliche Verschiebung zeigt sich im Verhältnis von Bild und Ton. Dieses ist zunächst asynchron. Während sich auf der Tonebene das Geschehen des Unterrichts abbildet – der Lehrer ruft Kinder auf, die ihre Gedichte vorlesen – konzentriert sich die Bildebene weiterhin auf Mado, die offensichtlich nicht zuhört. Eine schräge Totale des Klassenraums zeigt das vorlesende Mädchen nur dezentriert am Rand, während Mado zentriert im Hintergrund erscheint. Auf eine Nahaufnahme der Leserin 'antwortet' eine Nahaufnahme der offensichtlich desinteressierten Schülerin. Indem die Kamera bei Mado verweilt, drückt sie ihren Widerwillen am Unterricht teilzunehmen aus. Danach verlagert sich jedoch erneut die Zugkraft auf den Lehrer: und zwar indem Ton und Bild, Stimme und Blick synchronisiert werden. Wir sehen die Schülerin, die das Gedicht vorgelesen hat, als die Stimme des Lehrers sie dafür lobt. Wir sehen Mado, als er sie auffordert ihr Gedicht vorzulesen und sie sich verweigert. Und wir sehen ein anderes Mädchen, das anstelle Mados drankommt.
Zwar verzichtet Doillon hier auf den Schuss-Gegenschuss, der Schnitt legt aber nahe, dass wir nun den Blick des Lehrers teilen. In der Synchronität von Bild und Ton tritt die unterschwellige Macht dessen, der entscheidet, wer etwas zu sagen hat, hervor. In den Aufnahmen der Schülerinnen differenziert sich die Widerspenstige von den Gehorsamen. Selbst wenn also – im Vergleich zu LES QUATRE CENTS COUPS – der Lehrer die Hauptfigur nicht direkt sanktioniert, sie weder anschreit, noch in die Ecke stellt oder mit Strafaufgaben bedenkt, so zeigt sich gerade in der beschriebenen Verschiebung der Blickstruktur, dass dieser subtilen Machtausübung eine eigene Grausamkeit innewohnt. Denn was irritiert, ist hier gerade, dass der Lehrer auf die verstörende Aussage des Mädchens nicht reagiert, dass er, anstatt zu antworten, seine Aufmerksamkeit von ihr abzieht, um sich umgehend einer folgsamen Schülerin zuzuwenden, um den Plan des Unterrichts – ein Loblied auf die Mutter zu singen – umzusetzen. Der Ausschluss, der in LES QUATRE CENTS COUPS auf Handlungsebene erfolgt, indem der Schüler buchstäblich aus dem Blickwinkel des Lehrers verbannt wird, erfolgt hier durch einen Schnitt, der die Blickverschiebung nahelegt. Die Kameraführung selbst übernimmt den Kontrollblick des Lehrers, oder – anders gesagt – fungiert als sanktionierender Zeigestock.
In beiden Fällen handelt es sich um Kinder, die – anstelle des Wegschauens oder autoritären Eingreifens – einer wohlwollenden Aufmerksamkeit bedürften, die beide auf je eigene Weise an der Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit und Ausgrenzung ihres sozialen Umfelds leiden. Diese Aufmerksamkeit schenken ihnen nicht die Erwachsenen im Film, sondern – das sagt uns die Programmatik des Einstiegs – die Kameraführung, die im weiteren Verlauf ihr Handeln und ihre Sichtweisen kadriert und sich auf ihre transgressiven Gesten einlässt.
Film ist "Anschauungsunterricht in filmischem Denken".16 Dieses tritt auch im Nachdenken über das Medium Film hervor, das sich im weiteren Verlauf der beiden Filme entfaltet und explizit mit Bezug zu filmischen Dispositiven verhandelt wird. Die unterschiedlichen Akzente, die sich in der Mise en scène des Klassenzimmers abzeichnen, treten dabei deutlicher zutage. Beide Filme wenden sich nun dem zu, was außerhalb des Blickfelds der Erwachsenen liegt. Die Kameraführung in LES QUATRE CENTS COUPS verweigert sich damit dem Kontrollblick (oder dem immanenten Lehrer), während die Kameraführung in LA DRÔLESSE diesen selbst in die Intimsphäre des Mädchens einführt. Dementsprechend wird das filmische Dispositiv in LES QUATRE CENTS COUPS durch das Kino und LA DRÔLESSE durch die Überwachungskamera repräsentiert.
Der in der Eingangsszene inszenierte Konflikt zwischen schulischer Autorität und den individuellen Neigungen der Schüler setzt sich in der Dramaturgie von LES QUATRE CENTS COUPS fort, die – im Einklang mit zahlreichen autobiographischen Äußerungen Cinephiler aus der Generation von Truffaut – Schule und Kino als Gegensätze etabliert.17 Antoine schwänzt die Schule, um ins Kino zu gehen oder sich auf dem Jahrmarkt, im Puppentheater, beim Spiel mit seinem Freund die Zeit zu vertreiben. Indem die Kamera diese Aktivitäten zeigt, schaut sie dorthin, wohin das Auge des Lehrers nicht reicht. Sie verleiht den transgressiven Gesten des Kindes Bedeutung.
Diese richten sich – wie in der Eingangsszene – gegen die Schriftkultur und deren Funktion als kulturelle Leitmedien, als Volks-Erzieher, wenn die beiden Jungen einen MichelinReiseführer zerreißen, um ihn in Form von Papierkügelchen durch Rohre zu spucken. Sie richten sich aber auch gegen die Populärkultur, wenn sie im Kino durch das Aufblasen von riesigen Kaugummiblasen ihrem Missfallen gegen einen Film (im Off) Ausdruck verleihen. Das ikonisch gewordene Stehlen eines Filmstandbilds von DIE ZEIT MIT MONIKA (SOMMAREN MED MONIKA, Schweden 1952), aus dem Aushang eines Kinos ist dagegen eine Geste der Aneignung. Hier wird ein anderes Weiblichkeitsbild ins Spiel gebracht als das Pin-UP, das Antoine zu Anfang verfremdet: Monika verkörpert eine Frau, deren Erotik sich darin äußert, selbst zu begehren, anstatt sich nur dem begehrenden Blick der anderen anzubieten. Auch hier enthält die transgressive Geste des Jungen einen Fingerzeig auf die Autorschaft Truffauts, der einen filmischen Wahlverwandten ins Spiel bringt und damit auch das Moderne Kino, mit seiner anderen Haltung zu Darsteller*innen. Der Gegensatz liegt nicht nur zwischen Schrift und Bild, sondern auch zwischen den klischeehaften Bildern und denen, die etwas anderes zeigen. Es geht um einen Blick, der das Angeschaute nicht kontrolliert, sondern von ihm affiziert wird.
Dieser Blick wird in zwei komplementären Szenen verhandelt, die das Verhältnis von Darsteller und Zuschauer ins Spiel bringen: wenn in langen Einstellungen ein vom Puppentheater buchstäblich bewegtes Kinderpublikum gefilmt wird oder Antoine sich einem Rotor – einem Fahrgeschäft auf einem Jahrmarkt – überlässt, während sein Freund René ihm dabei zuschaut. Beide Szenen beobachten die unkontrollierbaren, unwillkürlichen Bewegungen von Darsteller*innen, die einem Dispositiv der Unterhaltung (statt des Lernens) ausgesetzt sind. Die Kamera interessiert sich für das, was von der Norm, vom Verhalten des 'braven' Schülers, der sich an die Regeln hält, von der Vorstellung eines autonomen Subjekts, abweicht. Die chaotischen Bewegungen der Kinder, die regelrecht von "Rotkäppchen und der Wolf" erfasst sind, artikulieren die Zuschauererfahrung als eine verkörperte im phänomenologischen Sinn.
Der Rotor, der die Schwerkraft außer Kraft setzt, ermöglicht Antoine dazu, kopfüber zu 'schweben', während sein Gesicht und die mühevollen Gesten von der Angstlust zeugen, die dieser körperliche Kontrollverlust mit sich bringt.
Vielfach wurde diskutiert, dass der bewegte Rotor mit den winzigen Figuren in rechteckigen Kästen an einen Filmstreifen oder eine Wundertrommel erinnert und damit auf die Herkunft des Films aus der Unterhaltungskultur des Jahrmarkts verweist. Dabei zeigt sich auch hier eine Abweichung vom Kontrollblick: Zunächst sind die Menschen im Rotor aus der sicheren Distanz des innerfilmischen Publikums, wie Insekten unter dem Mikroskop zu sehen. Dann wechselt die Kamera in die Perspektive Antoines. Im Vorbeiflitzenden verschwimmt die Aufnahme, der lustvolle Kontrollverlust überträgt sich kurzzeitig auf die Filmzuschauer*innen, deren Blick den Halt im Bild verliert. Betrachtet man den Rotor als Repräsentaten des Kinos, so werden hier zwei Zuschauerhaltungen gegenübergestellt: ein distanzierter, wissenschaftlicher oder voyeuristischer Blick oder ein lustvolles Schauen, das körperlich involviert ist. Dass Truffaut sich in einem Cameoauftritt unter die Menschen im Rotor mischt, zeigt die Parteinahme für eine Kinoerfahrung, die sich der Macht des Kontrollblicks entzieht. Er tritt für eine Regiehaltung ein, die sich auf die Seite seiner Darsteller schlägt, indem sie sich mit ihnen dem Risiko des Kontrollverlusts aussetzt. Wie nun verhält es sich mit LA DRÔLESSE – der keine expliziten Verweise auf das Kino enthält? In LA DRÔLESSE richtet sich das Begehren der Jugendlichen auf das Fernsehen, mit dem der junge Mann François das Mädchen Mado zu sich nach Hause lockt. Wichtiger als der Fernseher, dem sie sich nur in einer Szene widmen, ist jedoch eine Videokamera, die François aus Altteilen montiert und in der Dachkammer, in der er Mado gefangen hält, aufbaut, um sie einzuschüchtern. Hier dringt die Filmapparatur, die Macht des Blicks, also buchstäblich in die Intimsphäre der Kinder ein und strukturiert ihre Beziehung zueinander. Die Videokamera fungiert als Stellvertreterin des männlichen Protagonisten. Wenn er nicht da sei, so droht er Mado, zeichne die Kamera alles auf, was sie tue. 18 Während er die Überwachungskamera montiert, zeigt eine Nahaufnahme sie mittig zwischen seinen Händen als handele es sich um sein überdimensioniertes Auge, das sich im Gegenschuss auf Mado richtet.
Die Videokamera artikuliert damit die voyeuristische Blickordnung zwischen Junge und Mädchen, die in dem Pin-Up von LES QUATRE CENTS COUPS enthalten ist. Vor allem aber scheint sich in ihr der Kontrollblick des Lehrers, der zum gehorsamen Verhalten zwingt, fortzusetzen und zu materialisieren.
Winfried Pauleit bringt die Videoüberwachung mit dem panoptischen Blick in Verbindung. Demnach funktioniert "Videoüberwachung [...] im Grunde analog zum Gefängnismodell von Bentham aus dem 18. Jahrhundert. Bentham glaubte an die Verinnerlichung des Kontrollblicks und verstand sich dabei als Erzieher."19 Dementsprechend gewinnt die Videokamera in LA DRÔLESSE ihre Macht nicht durch die Technik – denn es handelt sich nur um eine Attrappe –, sondern durch die Bedeutung, die die Jugendlichen ihr zuschreiben. Nur weil sich François Autorität anmaßt und Mado diese anfangs anerkennt – kommt die Entführung überhaupt zustande. Die Geste dieser Anmaßung ist das An- und Ausschalten einer roten Lampe an der Spielzeugkamera, die – wie François behauptet – die Aufnahme in Gang setzt. Nur indem sich Mado diesem Gerät gegenüber verhält, als würde sie überwacht, und ihre Bewegungen an dessen vermeintlicher Blickachse ausrichtet, wird es zum Überwachungsinstrument. Das Gerät nimmt gewissermaßen die Funktion eines Dritten in der Beziehung der Jugendlichen ein. Über sie verhandeln sie ihre Beziehung zueinander und reflektieren, wie diese Beziehung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchdrungen ist. Oder, anders gesagt, erst die Imitation der medial konstituierten symbolischen Ordnung, die spezifische Verhaltens- und Beziehungsmuster einfordert, erlaubt ihnen überhaupt in Kontakt zueinander zu treten. In der Mise en scène dieser Dreiecksbeziehung zeichnet sich die Entwicklung in der Beziehung der beiden ab. Schon in der ersten Szene setzt sich Mado in den toten Winkel der Kamera – um sich der vermeintlichen Überwachung zu entziehen. Als sie Selbstbewusstsein gewinnt und beginnt, aktiv verschiedene Rollen im Geschlechterverhältnis – Tochter, Geliebte, Mutter – durchzuspielen, positioniert sie sich auch aufseiten der Kamera, um sie am Ende – als sie begonnen hat, selbst Spielregeln für gemeinsame Fantasiespiele zu erfinden – ganz zu demontieren. Diese Demontage drückt aus, dass die beiden der Spielzeugkamera nicht mehr bedürfen, um ihre Beziehung zueinander auszuhandeln. Als hätten sie diese von der Last des Blicks anderer, von den sozialen Zuschreibungen befreit.
Mit der Videoattrappe reflektiert LA DRÔLESSE die Macht medialer Ordnungen, aber auch den Anteil der Regie an diesen. Er wirft die Frage auf, inwiefern die Filmkamera eine Apparatur der Kontrolle und die Regie eine Machtinstanz ist, die den Darsteller*innen ein bestimmtes Verhalten aufzwingt und damit gewissermaßen an die Stelle des Lehrkörpers tritt. Zugleich legt die Videokamera als Spielzeug auch eine andere Lesart nahe: als wäre der Regisseur selbst ein Spieler, der sich mittels der Kamera als dritter Instanz auf ein Spiel mit den Darsteller*innen einlässt. Das Spiel ist laut Giorgio Agamben ein Gegendispositiv: es kann die subjektivierende Macht der Dispositive durchbrechen, indem es deren Rituale reproduziert, aber ihrer ursprünglichen Sinnzuschreibung beraubt, indem es sie profaniert, in alltägliches Handeln überführt.20 In diesem Sinne brechen Doillon und seine Darsteller*innen die Macht medial vorgegebener Beziehungskonstellationen, indem sie diese im filmischen Spiel reproduzieren und variieren, um zu neuen Umgangsformen vorzustoßen. In der Mise en scène drückt sich diese spielerische Haltung in den Variationen der möglichen visuellen Anordnungen von Körpern und Dingen innerhalb des begrenzten Raums der Dachkammer aus.21
Der diametral unterschiedliche Bezug zur filmischen Apparatur und Medialität verweist auf den unterschiedlichen medialen und historischen Kontext der diskutierten Filme. LES QUATRE CENTS COUPS zeugt von der Sehnsucht des Modernen Kinos, an die naive Schaulust des frühen Kinos anzuknüpfen22. Er birgt das utopische Versprechen, das zu zeigen, was sich konventionellen Bilderwelten entzieht, was gewissermaßen außerhalb des Blickfelds der Macht, im toten Winkel des autoritären Lehrers liegt. Dies geschieht, indem das Unvorhersehbare, Unkontrollierbare körperlicher Regungen und realer Ereignisse eingefangen wird. LA DRÔLESSE verweist dagegen auf eine Zeit, in der die Videoüberwachungen schon in den öffentlichen Raum eingedrungen sind. Der Film zeugt von dem Bewusstsein, dass sich (die Entwürfe) menschliche(r) Beziehungen nicht jenseits, sondern innerhalb der medialen Konfigurationen des Sozialen stiften. Damit deutet sich hier auch eine abweichende Regie-Haltung an: während Truffaut sich als Zuschauer zu erkennen gibt, der seine Cinephilie mit anderen teilen möchte; deutet die Spielzeugkamera auf Doillon als einen Mitspieler hin, der gemeinsam mit Darsteller und Darstellerin die Möglichkeiten einer Beziehung erprobt, Variationen sozial und medial vorgegebener Muster durchspielt und mit dem Apparat die Zeichen intimer Empfindungen aufzeichnet, die dabei zutage treten.
Diese unterschiedlichen Regiehaltungen äußern sich auch in den Standbildern, mit denen beide Filme enden.
Das Standbild des Gesichts von Jean-Pierre Léaud am Ende von LES QUATRE CENTS COUPS hat Winfried Pauleit als eine Aneignung des zuvor zitierten Porträts aus MONIKA gedeutet, als ein Bild, das dem Filmpublikum mitgegeben wird, um den Film in der eigenen Vorstellung fortzusetzen: "Man könnte auch sagen, er übergibt den Stab an die Zuschauer und fordert sie auf, sich dieses Bild anzueignen und den Film weiter zu gestalten."23 Zugleich handelt es sich hierbei um eine radikale Geste des Abbrechens, der Unterbrechung einer Handlung, deren Fortgang offenbleibt. Wie sein Protagonist in der Schlussszene aus der Jugendstrafanstalt ausbricht und auf das Meer zuläuft, sich von den gesellschaftlichen Zwängen freimacht, ohne ein Ziel zu haben – so bricht Truffaut mit den filmischen Konventionen, die verlangen, eine Geschichte zu Ende zu bringen. Das Standbild ist flüchtig, es zeigt eine Bewegung, die wie zufällig angehalten wurde, bringt einen fragenden Ausdruck hervor, der sich an das Publikum richtet. Erst im Verlauf der Filmgeschichte wird dieses wie zufällig angehaltene Bild, das etwas Verborgenes zu enthüllen scheint, den ikonischen Charakter erhalten, den Winfried Pauleit ihm zuschreibt. Es wird zu einer ästhetischen Figur in zahlreichen Kindheitsfilmen, die mit dieser Geste das Subjekt des Kindes als Gegenüber befragen und seine ungewisse Zukunft, den Zustand des Werdens, artikulieren. 24 Und es wird, wie Serge Daney später schreibt, zu einem filmischen Klischee, zu einer "Postkarte", zum Erinnerungsbild.25
LA DRÔLESSE zeugt bereits von dieser Verschiebung. Hier wird das Standbild – Mado auf den Armen von François – der Handlung nicht entrissen, sondern gewissermaßen von den Kindern selbst hergestellt. Sie inszenieren sich für den Blick anderer, bevor das Bild anhält. Diesmal ist es die Polizei, die gewissermaßen als letzte Instanz den Kontrollblick des Lehrers und der Videokamera fortsetzt. Sie verlangte ein Re-Enactment der Entführung, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Das Re-Enactment soll wiederholt werden, da es in den Augen der Polizei gescheitert ist, wie der Inspektor empört ausruft: "Madeleine, das ist nicht das, was du mir erzählt hast! Und Sie, François, Sie haben sie so freundlich mitgenommen? Ihr verarscht mich wohl? Los, nochmal". Die Wiederholung aber endet mit der Pose des Liebenspaares als 'letztem Bild'.
Der Polizist tritt hier in die Rolle des Regisseurs, der das Spiel anleitet. Sein Blick wird von uns als Zuschauer*innen, die das Geschehen zu beurteilen haben, geteilt. Damit scheint sich nachträglich noch die Funktion des Videospielzeugs als Überwachungskamera zu erfüllen. Das eingefrorene Bild, in dem sich das Re-Enactment verdichtet, ordnet sich in die Logik der Videoüberwachung ein. Es verweist auf die Geste des Zurückspulens und Anhaltens, mit der in der undifferenzierten Aufzeichnung das eine, entscheidende Bild als Beweismittel herausgegriffen wird. Diese Geste entspricht derjenigen der Regie am Schneidetisch, die das Bewegtbild mit einem bestimmten Bild stillstellt.
Wie Winfried Pauleit darlegt, hat die Videoaufzeichnung die Funktion das normale vom abweichenden Verhalten abzusondern, und ein Verbrechen aufzuzeichnen, das erst im Nachhinein als Ereignis rekonstruiert werden kann.26 Doch die Spielzeugvideokamera der Jugendlichen taugt nicht zur Aufzeichnung. Das, was zwischen ihnen auf der Dachkammer passiert, ist nachträglich nicht rekonstruierbar. Es wurde im Spiel hergestellt und kann nur im Spiel wiederholt werden. Diese Wiederholung des Erlebten stellt sich in den Augen der Polizei als eine aussichtslose Suche nach der 'objektiven' Wahrheit dar. Denn sie entspricht nicht den Erwartungen, lässt sich nicht in die Logik einer kriminellen Handlung mit Tätern und Opfern eingliedern. Sie wird die beiden nicht in die Freiheit führen, sondern in Trennung und Gefangenschaft, in die Leblosigkeit – wie Mados letzte Worte andeuten: "Man könnte sagen, ich wäre tot". Noch in diesen letzten Worten greift sie auf ein Klischee, den Liebestod zurück, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und sich dem deutenden Blick der Polizei zu widersetzen.
Auch das Freeze Frame am Ende von LA DRÔLESSE fordert die Zuschauer*innen auf, über die Zukunft der Protagonisten und über die Bilder nachzudenken, die wir uns von ihnen machen. Und zugleich verweist auch dieses Standbild auf die Regie, die sich auf die Suche nach einer emotionalen Wahrheit macht, indem sie eine (unmögliche) Beziehungskonstellation wiederholt, variiert, durchspielt. Denn das, was der Polizei als unausweichliches Scheitern auf der Suche nach Wahrheit erscheint, ist das Prinzip der Regie als Mitspieler: Die Freiheitsgrade liegen hier gerade darin, dass die Re-Enactments sich nicht in Deckung bringen lassen, dass sich keine Eindeutigkeit herstellen lässt, sondern vielmehr in der Wiederholung des Gleichen, eine Variation, eine Differenz auftut, in der sich eine Begegnung ereignen kann. Der Freiraum liegt hier nicht im ikonoklastischen Akt, der das Klischeebild transformiert, nicht im Moment, der dem Fortgang der Handlung entrissen wird, und auch nicht im zufälligen Bild, das sich der Kontrolle widersetzt, sondern im Umspielen dessen, was festgeschrieben ist, in unseren Beziehungen zueinander.