Die See ist tückisch. Dicht unter der glatten Oberfläche können starke Strömungen herrschen, die uns mitreißen, uns den Atem rauben und uns nach unten ziehen. Wir stürzen, taumeln, sinken. Doch der Sog ist so stark, dass wir einsehen, dass es keinen Sinn macht dagegen anzukämpfen. Langsam beruhigen wir uns. Wir öffnen die Augen und erblicken eine neue Welt. Die vielfachen Schichtungen der Fluten brechen die Farben, sie verdunkeln nicht, sondern verstärken das Licht der großen Bogenlampe, die das Wasser zum Funkeln bringt. Statt in Bildern zu ertrinken erleben wir einen Rausch des Audiovisuellen, klingende Bewegungsbilder, die uns umschwirren, zwischen denen wir hindurchschwimmen und von denen wir behutsam angestoßen werden. Dann erinnern wir uns. Da war doch jemand in dem kleinen Boot, mit dem wir zusammen in See gestochen sind. Hat er uns einen Schubser gegeben? Hat er uns ins Wasser gestoßen? – Als Sonderausgabe zum 60. Geburtstag widmet sich die No 22: Strömungen den wissenschaftlichen Gewässern, theoretischen Tiefen und didaktischen Stromschnellen, die die Autor:innen gemeinsam mit Winfried Pauleit bereist haben. Ganz in der Tradition von Nach dem Film nutzen die Beiträge die volle Bandbreite zwischen wissenschaftlichen Artikeln, Essays und kleinen Formen.
Den Anfang macht Roland Albrecht. In seinem Text „Von einem der Filme anschauen wollte, aber keine Filme anschauen konnte“ reflektiert er humorvoll das ambivalente Verhältnis von Werk und Rezeption, von Kino und Publikum. Seine präzisen Beobachtungen überschreiten fast unmerklich die Grenzen des Anekdotischen und zeichnen ein spezifisches Verhältnis zum Film, nach dem das Kino nicht nur als Unterhaltung, sondern auch als Herausforderung begriffen wird. Einen ebenfalls biografischen Ansatz verfolgt Sebastian Schädler. Stilistisch angelehnt an die Prosa eines Drehbuchs beschreibt er in „Die Kamerafahrt“ einen Verstehensprozess, der nicht weniger als die körperliche, emotionale und kognitive Kraft des Filmischen beinhaltet und sich erst in der Didaktik der Filmpraxis erschließt.
Birgit Kohler, Bernhard Groß und Bettina Henzler konzentrieren sich wiederum stärker auf die theoretische Reflexion von didaktischen Strategien. Mit ihren Texten verweisen sie auf Winfried Pauleits „Theoriehörhefte zum Herunterladen“, die er unter dem Titel „Das ABC des Kinos“ bereits 2009 als kostenlose mp3-Dateien zur Verfügung stellte. Form und Format der Beiträge von Kohler, Groß und Henzler unterscheiden sich deutlich und spiegeln ebenjenen innovativen Zugang zur Wissenschaft wider, der auch „Das ABC des Kinos“ prägt. Dies wird besonders deutlich in Birgit Kohlers „Ein Abece für Winfried P.“, einer alphabetischen Stichwortsammlung, mit der sie ein assoziativ-biografisches Panorama erzeugt. Bernhard Groß wiederum entwirft in seinem Essay „ABC.....F – wie Film wie Freundschaft“ eine Ontologie des Films als Hervorbringung einer Poetik der Freundschaft. Zentraler Anknüpfungspunkt ist eine (Neu-)Definition des Cinephilie-Begriffes, die er in einer exemplarischen Analyse von Bernardo Bertoluccis Spielfilm THE DREAMERS (I/F/GB 2003) weiter vertieft. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Bettina Henzler in ihrem Artikel „(K)ein Zeigestock: Filmische Gesten des Vermittelns und des Spielens“. Die beiden Filme LES QUATRE CENTS COUPS (F 1959) und der 20 Jahre später entstandene LA DRÔLESSE (F 1979) dienen als Beispiele für eine Untersuchung des ambivalenten Verhältnisses von Film und Unterricht. Die mitunter selbstreflexive Herangehensweise der beiden Regisseure François Truffaut und Jacques Doillon dient als Ausgangspunkt für Überlegungen zu Film, Vermittlung und Rezeption.
Ein besonderer Schwerpunkt in Winfried Pauleits Forschung liegt in der Verschränkung von konzeptuellen Überlegungen zu Archiven und Museen mit theoriegeleiteten Ansätzen der Filmanalyse. Grund genug für Dennis Göttel, diesen Pfad in seinem Artikel „Videocassetten im universitären Repositorium und in der Reklame“ weiter zu erkunden. Am Beispiel des Repositoriums des Instituts für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Köln beschäftigt er sich mit Fernsehmitschnitten, die er sowohl in medienhistorischer, als auch pragmatischer Perspektive einordnet. Die anschließende Analyse eines Werbespots für BASF Videocassetten (ca. 1989) folgt den Spuren einer mittlerweile verdrängten Technologie und macht die engen Verflechtungen von Materialität, Ästhetik und (Medien-)Geschichte sichtbar. Im Schnittpunkt von historischen, technischen und politischen Dimensionen treten jedoch auch Forschungslücken zutage. Das von Winfried Pauleit initiierte Projekt „Audio History des Films“ sollte helfen, das bis dahin wenig beachtete Verhältnis zwischen Filmsound und Geschichte neu zu überdenken. Mattias Frey und Rasmus Greiner berichten in ihrem Text „Tonspuren“ von den in der gemeinsamen Projektarbeit entworfenen Ansätzen. Im Fokus steht hierbei Winfried Pauleits Konzept der sonic icons, dessen Potenzial für die Filmgeschichtsschreibung am Beispiel von NS-Unterhaltungsfilmen aufgezeigt und weiterentwickelt wird.
Zum Abschluss widmen sich zwei Beiträge den meist unsichtbaren Ursprüngen und Fortsetzungen der Arbeit mit und über Film. In „Ein anderes Leben, ein anderes Lied“ reflektiert Alexander Horwath über sein eigens für das Jubiläum erstelltes (und am 14. Oktober 2023 im CITY 46 gezeigtes) Filmprogramm, um letztlich doch dem Kino das Wort zu überlassen. Kathrin Peters thematisiert schließlich, was „Nach Nach dem Film“ kommt. In einer ausschnitthaften Retrospektive blickt sie zurück auf die Gründung der gleichnamigen Onlinezeitschrift, die in die Pionierzeit des deutschsprachigen Internets fällt. Auch hierzu gab Winfried Pauleit einen wichtigen Impuls, aus dem sich ein Vierteljahrhundert – und mehr als zwanzig Ausgaben – später eine mächtige Strömung entwickelt hat.
Rasmus Greiner, Eva Knopf und Christine Rüffert