Vor gut zwei Jahren wurde das Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln von einem Alumnus kontaktiert: für einen Obolus könne eine größere Zahl an VHS-Cassetten aus dem Nachlass eines Amateursammlers übernommen werden. Bespielt sind diese Cassetten weit überwiegend mit Mitschnitten von im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlten Kinofilmen. Der ursprüngliche, dann verworfene Plan des Alumnus war, den ihm überlassenen Bestand an VHSCassetten im Rahmen einer künstlerischen Aktion zu verbrennen; ob ein solches Happening mit entflammten Magnetbändern womöglich gegen Brandschutz- und Gesundheitsauflagen verstoßen würde, sei dahingestellt. Ein Ankauf schien gleichwohl fragwürdig und zwar auch unabhängig von der Frage, welche Filmtitel jene Sammlung umfasst. Denn sowohl das Trägermedium Magnetband als auch die Praxis des Fernsehmitschnitts von ursprünglich im Kino distribuierten Filmen erweisen sich als anachronistisch angesichts der (selbst schon historisch gewordenen) Ablösung durch DVD und Bluray sowie, gegenwärtiger, durch Streamingplattformen. Mit letzteren ist die Hochphase einer materialen Inbesitznahme des Films (wie mit Schmalfilm-, Videoformaten oder digitalen Trägermedien) längst wieder an ihr Ende gekommen. Das betrifft den privaten Mediengebrauch und macht daher jene Amateursammlung von Cassetten antiquiert. Es gilt freilich auch für genuin universitäre Sammlungen audiovisueller Medien.
In wissenschaftshistorischer Perspektive ist just Video und dessen Erschwinglichkeit im Laufe der 1970er- und 80er-Jahre maßgebliches medientechnisches Element in der Verwissenschaftlichung der Filmforschung respektive in der Verankerung filmwissenschaftlicher Curricula. Dies gilt insbesondere für die deutschsprachige Universitätslandschaft, wie Winfried Pauleit in seinem Text »Filmwissenschaft und Videoüberwachung« aus dem Jahr 2004 herausstellt. Dessen Augenmerk liegt indes nicht so sehr auf der
»Magnetbandaufzeichnung […], die den Film in die Universitäten und später […] die heimischen Wohnzimmer liefert, sondern ihre Verbindung mit dem technischen Lesegerät Videorecorder und mit dessen Befehlsstruktur: Play, Stop, Pause, Rewind, Fast Forward und Eject.« (Pauleit 2004)
Der Film werde auf diese Weise »zugänglich wie ein Buch, welches an jeder beliebigen Stelle aufgeschlagen werden kann. Im Video wird der Film handhabbar.«. (Ebd.) Wie schon in Siegfried Zielinskis einschlägiger Publikation aus ´den 1980er-Jahren (vgl. Zielinski 1986) liegt also auch in Pauleits filmwissenschaftshistorischer Perspektive der Fokus auf dem Videorecorder — nicht auf der Videocassette. Mit dem Recorder werden die Sichtenden zu aktiven Benutzer:innen, das Trägermedium selbst ist nicht zentral.
Deswegen betrachtet Pauleit den sich zum Zeitraum der Veröffentlichung seines Texts vollziehenden Wechsel zur DVD nicht als Zäsur, sondern als technische Optimierung eines bestehenden Prinzips: »Die DVD-Technik […] verbessert nicht nur die Bild- und Tonqualität, sondern insbesondere auch die Zugriffsmöglichkeit ohne lästiges Spulen der Kassette.« (Pauleit 2004) Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die Repositorien an Videocassetten, die an medienwissenschaftlichen universitären Instituten jahrzehntelang angewachsen waren, nach und nach digitalisiert (auf DVDs respektive als Files) — oder aber mitunter wegen attestierter mangelnder audiovisueller Qualität gänzlich entsorgt wurden. Die infrage stehende Qualität macht sich nicht allein am Trägermedium des Magnetbands fest, mehr noch an den Charaktistika des Mitschnitts televisueller Ausstrahlungen. Dem Fernsehen als Distributionsmedium kommt bei Pauleit keine Rolle zu, weil seine Überlegungen die schöpferische Produktivität der Handhabung des Videorecorders im Kontext der Filmanalyse betonen.
Doch sind eben die Fernsehausstrahlung und deren Mitschnitt weit überwiegend die Bedingungen für die Entstehung audiovisueller Sammlungen — nicht nur im Privaten, sondern auch an der Universität. Am Kölner medienkulturwissenschaftlichen Institut werden seit langer Zeit so gut wie gar keine Fernsehmitschnitte mehr gemacht. Für Forschungen zu aktuelleren Artefakten wirkt sich dies auf die Fernsehwissenschaft stärker aus als auf die Filmwissenschaft. Auch die über Jahrzehnte gewachsenen Repositorien scheinen auf den ersten Blick vor allem für die fernsehhistorische Forschung von Belang zu sein, möchte man nicht ausschließlich auf die Auswahl an digitalisierten Fernsehaufzeichnungen auf Videoplattformen im Netz angewiesen sein. Sichtungen insbesondere in Archiven deutscher Fernsehanstalten wiederum stehen immer noch vor den Herausforderungen oftmals restriktiver und meist kostspieliger Archivpraxis. 1 Für die filmhistorische Forschung wiederum gilt, dass (sieht man von der Arbeit in Filmarchiven ab) längst in weit umfangreicherem Maße als bei der Fernsehwissenschaft auf Medien der Redistribution von Kinofilmen zurückgegriffen werden kann, die sogenannten ›höheren‹ filmphilologischen Standards entsprechen als Fernsehmitschnitte. Dies betrifft neben den bereits genannten Aspekten der besseren Bild- und Tonqualität auf digitalen Trägern auch die Auswahlmöglichkeiten von Sprachfassungen und Untertiteln sowie Bonusmaterial wie Production-Stills oder Making-of-Filme.
Doch lässt sich nicht nur von einem Zugewinn sprechen, sondern — aus dem Blickwinkel des Mitschnitts — auch von einem Fehlen: dem von Fernsehlogos, Sendehinweistafeln, Einblendungen, Programmansager:innen oder Werbeblöcken. Aus filmhistorisch puristischer Perspektive ist ein solches Fehlen gerade kein Verlust. Aus film- und medienarchäologischer Perspektive hingegen verhält es sich umgekehrt: materialisiert sich doch in jenen alten universitären Repositorien (genauso wie in privaten Videosammlungen) eine komplex verzweigte Filmkultur, hier spezifisch diejenige einer Konvergenz von Kino, Fernsehen und Video.
Muss das Repositorium der Kölner Medienkulturwissenschaft, das institutsintern noch immer den antiquiert anmutenden Namen »Videothek« trägt, als Sediment der Institutsgeschichte berücksichtigt werden, das Forschungs- und Lehrschwerpunkte von hier früher tätigen Wissenschaftler:innen wie etwa Renate Möhrmann, Irmela Schneider, Joseph Garncarz oder Lorenz Engell widerspiegelt, so ist es ebenfalls Sediment eben einer Geschichte der Medienkulturwissenschaft. Drückte der frühere Name, Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft (TheFiFe), die auch an anderen deutschsprachigen Universitäten übliche Reihung verschiedener Einzeldisziplinen aus (bzw. die Erweiterung des einstigen Instituts für Theaterwissenschaft), ist ein audiovisuelles Repositorium wie dasjenige in Köln ein medienkulturelles avant la lettre: Nicht nämlich einfach Verkörperung aneinandergereihter Einzeldisziplinen, sondern Materialisierung verstrickter film-, fernseh-, videokultureller (und nicht zuletzt auch theaterkultureller) Artefakte. Für die alte Kölner TheFiFe gilt, dass in institutseigenen Kellerräumen auch Überreste analogen Films erhalten geblieben sind; an filmwissenschaftlichen Professuren in Frankfurt am Main oder Paderborn war der analoge Film bis vor Kurzem noch zentrales Artefakt in institutseigenen Archiven, stellte so mitunter eine dezidierte Abgrenzung gegenüber dem Fernsehen dar und wollte die nicht mehr hegemoniale Abspielstätte des Kinos für Studierende in leibhafter Erfahrung halten. Die Praxis des Mitschnitts hingegen zeigt, dass die Herausbildung des distinkten wissenschaftlichen Gegenstands Film nicht zuletzt dessen Heraustrennen aus einem spezifischen medialen und materiellen Zusammenhang geschuldet war: aus dem des Fernsehens und aus dem der Videocassette.
Die universitäre Praxis, Fernsehmitschnitte von Kinofilmen auf Videocassetten anzufertigen, lediglich als schon abgeschlossene Episode in der Geschichte des Fachs Filmwissenschaft abzutun, hieße noch einmal zu wiederholen, was den filmhistorischen Teil universitärer Repositorien von Beginn an begleitete: den televisuellen Mitschnitt ausschließlich als Notbehelf zu begreifen. Dies stimmt zwar insofern, als kaum andere Medien gegeben waren, um solche Sammlungen anzulegen. Doch sind die Repositorien mittlerweile und unversehens etwas anderes geworden: sie haben historische Konvergenzen von Film- und Fernsehkultur archiviert. Eine zukünftige wissenschaftshistorische und institutionskritische Bearbeitung audiovisueller Repositorien hätte die Aufgabe, die alte Asymmetrie von film- und fernsehwissenschaftlicher Forschung nicht zu perpetuieren, vielmehr solche abgeschnittene Universitätsgeschichte durchzuarbeiten. Die Praxis des Mitschnitts von Filmen wäre als simultaner Aus- wie Einschluss der Fernseh- und Videogeschichte begreifbar; bzw. anders und in Anlehnung an die Psychoanalyse gesagt: als Verdrängung von Fernsehen und Video und deren immer schon einsetzende Wiederkehr. Das Wort Mitschnitt — das medienhistorisch auf das Einritzen in eine Materie bei analogen Tonaufzeichnungen zurückgeht — meint mit dem Schneiden im Übrigen gerade kein Abtrennen, sondern ein Einschneiden (oder psychoanalytisch gesagt: eine Bahnung).
Nun aber ließe sich nicht zu Unrecht einwenden, dass die Gestalt des Mitschnitts auch bei einer vollständigen Digitalisierung eines Repositoriums audiovisueller Medien erhalten geblieben ist, ja nunmehr viel leichthändiger in seiner Fülle zu untersuchen ist. Dies allerdings hieße, die konkrete Materialität der Videokassette sowie die Dinge, die die Cassetten umgeben, außer acht zu lassen. Mit der Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen wäre allerdings einzuwenden, dass es keinen Sinn ergibt, »Universitätssammlungen um ihrer selbst willen aufzubewahren und sie nur als historische, unabhängig von der Gegenwart existierende Relikte« zu behandeln, sobald »die alten Bestände nicht mehr an die stetige Weiterentwicklung des Faches gebunden bleiben […].« (te Heesen 2010: 80) Mehr noch müsste solcher Vorbehalt gegenüber der Übernahme der Videocassettensammlung eines Privatmanns durch ein medienkulturwissenschaftliches Institut gelten. Bereits die pragmatische Frage, wo ein umfangreiches Konvolut gelagert werden könnte, erweist sich als Herausforderung. Ähnliches trieb offenbar schon den verstorbenen Eigentümer um, in dessen Nachlass sich Zeichnungen befinden, die eruieren, wie viel Stauraum noch vorhanden und wie es um die Tragfähigkeit der heimischen Regale bestellt ist.
Zum Materialkonvolut der Videosammlung gehören unter anderem auch alphabetisch sortierte Listen der aufgezeichneten Filme und Ringordner mit aus Fernsehprogrammzeitschriften ausgeschnittenen Syllabi von Filmen und dazugehörigen Abbildungen.
Die individuelle Anerkennung des hier sorgfältig und zeitaufwendig betriebenen Hobbys steht in Kontrast zu seiner bloßen Beispielhaftigkeit im Kontext westlich-spätfordistischer Sammelkultur bespielter Videocassetten in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrtausends. Auch die teils beklebten Ringordner tragen keine persönliche Handschrift: zu sehen sind hier eher wahllos daherkommende Werbeaufkleber oder Teile ausgeschnittener Cassettenhüllen; sie erweisen Herstellern von VHS-Cassetten Reverenz.
Das am meisten ins Auge Springende ist ein Werbesticker mit dem Schriftzug »Fantastic Colours« und einer Schar anthromorphisierter, quietschbunter Mäuse (mit Fliege oder Krawatte um den Hals), um die Käsestücke herumfliegen. Das rechte Bildeck weist das Ensemble als Werbekampagne der BASF aus.
»Fantastic Colours« lautete der Werbeslogan für VHS-Cassetten des in Ludwigshafen ansässigen Chemiekonzerns BASF in den späten 1980er-Jahren. Als den Ringordner schmückenden Werbesticker machte der Videosammler damit etwas prominent, was just zu den größten Ärgernissen wiederum für viele Fernsehmitschnitte von Filmen und Serien zählen darf: nämlich in deren Ausstrahlung zwischengeschaltete Werbeblöcke. Auf besonders penibel organisierten Videosammlungen — wie universitären Repositorien — sind deshalb Werbeunterbrechungen oft nach Aufzeichnung gelöscht worden.
Eine Recherche nach jahrzehntealten Fernsehwerbungen wird daher — nicht zuletzt auch, weil sie dort betitelt oder verschlagwortet sind — in anderen audiovisuellen Archiven fündig: auf InternetVideoplattformen, die ein Glücksfall der digitalen Moderne vor allem deswegen sind, weil dort vermeintlich erlässliche Schnipsel aus der Geschichte visueller Kultur zu Fundstücken werden. Jener aufgeklebte BASF-Werbesticker muss daher nicht unbedingt in die Videosammlung, deren Ordnungssystematik er ziert, zurückführen; er kann auch zu dieser bei Youtube hochgeladenen Reklame hinführen:
Der 21-sekündige Werbespot sucht den Kampagnen-Slogan, der auf die Farbqualität der Magnetbandaufzeichnung abzielt, dadurch darzustellen, dass grau oder weiß gehaltene Objekte mit einem Mal in die Farben des Regenbogens getaucht werden, sobald sie in physischen Kontakt mit der VHS-Cassette kommen; zum Beispiel bei drei Mäusen, die, wenngleich graphisch verschieden, schon auf dem Werbesticker auftauchten. 2 Sieht man vom Motiv des schrillen Farbwechsels im Werbespot ab, erweist sich die Signifikanz der einzelnen Szenen und ihre Reihung als arg arbiträr. Ließe sich zwar noch sagen, dass es um eine möglichst große Breite an Motiven gehen soll, scheinen die Szenen ausschließlich durch die flottierende Videocassette miteinander verbunden, ohne irgendeine narrative oder ästhetische Stringenz aufzuweisen. Denn was sollten eine Weltraumansicht auf die Erde, ein Elefant in der Steppe, Feuerwehrmänner mit Sprungtuch, ein lokbetriebener Zug und drei Mäuse miteinander gemein haben? Was soll dieses abstruse Sammelsurium aus Live-Action, Animation und Puppentheater zusammenhalten?
Sich in die Tradition der textuellen Filmanalyse zu stellen, birgt das Versprechen, den Bildern und Tönen des Werbespots etwas abringen zu können, was dem hermeneutischen Verfahren versperrt bliebe. Dezidierter noch als im oben zitierten Text verweist Winfried Pauleit in seinem programmatischen Aufsatz »Die Filmanalyse und ihr Gegenstand« auf den Zusammenhang zwischen Filmsemiologie und Videorecorder:
»[F]ür [Raymond] Bellour wird es erst durch den Videorecorder möglich, den Film zu besitzen und ihn auf dieser Basis wie einen Text zu analysieren. Für ihn besteht die Quintessenz des Videorecorders […] in der Möglichkeit, auf den Bildern anzuhalten.« (Pauleit 2009: 42)
Der Videorecorder (und ihm nachfolgende Techniken audiovisueller Medien) ist dabei kein bloßes Instrument. So betont Pauleit, »dass die Videoaufzeichnung […] neben der Operationalisierung auch die Konstruktion des Gegenstands Film umfasst und dabei eine Reihe von Dispositiven einschließt, die an dieser Konstruktion mitwirken.« (Ebd.: 40) Pauleits post-semiologische Methode geht dabei über die Herstellung eines Standbilds (am Fernsehmonitor respektive am Computerbildschirm) hinaus, insofern die gesamte »programmatische Befehlsstruktur (Play, FF, Rew., Stop, Eject) […] den Zuschauer vor dem Monitor in eine Meta-Position« (Pauleit 2004) bringe, wie es schon im Text »Filmwissenschaft und Videoüberwachung« in einer sprachlichen Form heißt, in der nicht mehr alle Wörter ausgeschrieben, sondern von den Kürzeln auf den Schaltknöpfen am Videorecorder übernommen werden.
Auf die Lektüre des Werbespots zu BASF-VHS-Cassetten übertragen, drängt es sich demnach auf, zu irgendeiner Szene hinzuspringen, vor- und zurückzuspringen, anzuhalten, eine bereits gesehene Szene erneut zu sichten usw. usf. Der Charakter des Pastiche, durch den sich der Spot selbst auszeichnet, legt ein solches Verfahren im Besonderen nahe. Eine solche Lektüre kann an eine der drei von Pauleit in »Die Filmanalyse und ihr Gegenstand« skizzierten Analysemethoden anschließen, nämlich die Zeitsprung-Analyse, mit der »die Konstruktion des Filmischen […] im Kontext einer Kulturgeschichte der Texte, Bilder und Klänge« (Pauleit 2009: 48) 3 betrachtet werden soll. Gegen die Gefahr einer allzu freien Assoziation indes lässt Pauleit eine leise Warnung folgen:
»Es liegt auf der Hand, dass es sich hierbei [die Zeitsprung-Analyse; D.G.] um eine unauflösbare Verbindung von Gegenstandskonstruktion und Analyse handelt, deren Nachvollziehbarkeit sich im Einzelfall bewähren muss.« (Ebd.: 49)
Die Frage nach Plausibilität, ja Legitimation einer Lektüre lässt sich nicht im Vorhinein beantworten. Vor dem Zeitsprung impliziert dies den Sprung ins »offene Diskursfeld« — ein übergeordneter Terminus, mit dem Pauleit seine methodologischen Überlegungen im Untertitel seines Texts bezeichnet. Man könnte schließlich auch von einer Springinsfeld-Analyse sprechen: die Initiation der Lektüre ist ein Akt, eine Geste, oder eben ein Sprung, der sich seines Grunds nicht ganz sicher ist.
Im Fall des BASF-Werbespots landet der Sprung zunächst bei den Feuerwehrmännern, die schon mit einem Sprungtuch bereitstehen. Ein Sprungtuch wird zum Beispiel bei Hausbränden eingesetzt, wenn vom Feuer eingeschlossene Bewohner:innen nicht mehr auf andere Weise zu retten sind. Was aber hier, im Spot, brennt, wird nicht sichtbar. Steht dort womöglich die Filmanalyse selbst in Flammen, um mit Raymond Bellours zunächst enigmatisch anmutendem Titel seiner in den 1980er Jahren geschriebenen Revision der textuellen Filmanalyse zu sprechen? (vgl. Bellour 1999) Tatsächlich erweist sich das Wort von der »Analyse in Flammen« als Reverenz an die Videoarbeit TIME SMOKING A PICTURE aus dem Jahr 1980 4 des (vormaligen) Filmtheoretikers Thierry Kuntzel. (vgl. ebd.: 22) Bellour bezeichnet nicht nur Kuntzels Wechsel von der (früheren) Filmlektüre hin zur Videopraxis als »einen qualitativen Sprung«, (Ebd.: 21) weil die Bilder hier anders als im Kino nicht ohne Weiteres vorbeiziehen. 5
Im Werbespot fällt die Videocassette ins Sprungtuch; sie muss aber gar nicht gerettet werden (etwa vor einer Kunstaktion, bei der sie in Brand gesetzt hätte werden können), für die Cassette ist das Sprungtuch vielmehr ein Trampolin: sie springt in die Szenerie hinein, wo sie zuvor vom Elefantenrüssel weggeschleudert wurde. Vom Sprungtuch aus wird die Cassette ins Führerhaus der Lokomotive eines Zugs katapultiert, um von dort — man weiß nicht genau, wie — durch ein Fenster geworfen nun auf den Vorderfüßen respektive Händen dreier Mäuse zu landen. Selbsttätig fliegt die Cassette aus ihrer Hülle in den Schlitz eines Videorecorders. Auf dem Fernsehbildschirm nun ist wieder der Elefant, mit Videocassette in seinem Rüssel, zu sehen. »It’s magic!«, kann dazu nur der Kommentar lauten, der quietschvergnügt aus den Mäusemündern schallt. Reine Magie scheint nicht nur die Fähigkeit der Cassette, weite Strecken zurücklegen zu können, es bleibt auch rätselhaft, wie sie Bilder speichern konnte, die schließlich auf dem Fernsehschirm zu sehen sind, ja, wie diese Bilder des Elefanten überhaupt generiert wurden, wo keine Videokamera zum Einsatz kam. Mit den finalen Bildern im Fernseher zeigt sich eine Mise en abyme, eine radikale Immanenz der Videobilder, die nur noch auf sich selbst zeigen. Sie tun dies hier in vermeintlich zirkulärer Weise, wo der Elefant zu Beginn des Spots zu sehen war. »Vermeintlich« deswegen, weil der Szene mit dem Elefanten noch etwas vorausgeht: die Videocassette fliegt aus den Weiten des Alls auf die Erde zu. Die Cassette kommt also irgendwo her, aber dieser Ort ist unbestimmt, es scheint ein phantastischer Ort zu sein.
Will aber dieser ganze Hokuspokus etwas kaschieren? Anders gefragt: Gibt es einen elephant in the room? Die Herkunft der Videocassette ist extradiegetisch tatsächlich einfach benennbar; aber auch intradiegetisch wird sie gar nicht verschwiegen, im Gegenteil heißt es gleich zu Beginn des Spots: »Die Videocassetten von BASF.« Kein Geheimnis wird also daraus gemacht, was für die Gattung der Reklame noch absurder wäre als es die Handlung dieses Spots ist. Hinter dem Akronym BASF (für: Badische Anilin- & Sodafabrik) verbirgt sich ebenfalls kaum ein Geheimnis. Die Magnetbandtechnik, die dann auch in Videocassetten zur Anwendung kam, geht auf eine Kooperation der AEG und der I.G. Farben zwischen Mitte der 1930er-Jahre und den frühen 1940erJahren zurück, die auf die Optimierung von Tonaufzeichnungen abzielte (zunächst mit dem Material Celluloseacetat, später Polyvinylchlorid). Im 1925 gegründeten Konzern I.G. Farben, entstanden aus der Fusion mehrerer deutscher Chemiefirmen, ging die BASF in besonders prominenter Weise insofern auf, als ihr das Kapital aller anderen Firmen übertragen wurde. 6 Wurde die I.G. Farben nach Kriegsende zerschlagen, ist der Konzern untrennbar mit dem nationalsozialistischen Regime und schließlich mit der Schoa verknüpft: so unterhielt die I.G. Farben eine Fabrik in unmittelbarer Nähe des KZ Monowitz, ein Teil des Vernichtungslagers Auschwitz, in dem Zwangsarbeiter:innen eingesetzt wurden; Zyklon B für die Vernichtung überwiegend jüdischer Insassen in Auschwitz und Majdanek wurde von einer Tochtergesellschaft der I.G. Farben produziert; Menschenversuche wurden von medizinischen Angestellten des Konzerns in Lagern durchgeführt. 7 Zur Technik- und Wirtschaftsgeschichte des Magnetbands gehört also irreduzibel der Umstand, dass die I.G. Farben in besonders krassem Umfang dem deutschen Faschismus und dessen Vernichtungsmaschinerie zuarbeitete.
In der Analyse des Werbespots zu VHS-Cassetten aus den späten 1980er-Jahren wird die Frage nach dem Ursprung der Cassette deswegen virulent, weil der Spot ihre Herkunft zur Science-Fiction fiktionalisiert. Die Cassette scheint nicht produziert worden zu sein, aber gleichfalls auch nicht immer schon da, sondern extraterrestrischen Ursprungs. Bei dieser Geste der Phantastik bleibt es aber nicht: phantastisch sollen ja schließlich vor allem die »fantastic colours« als hervorstechendstes Merkmal und Kaufargument der BASF-Videocassette sein. Eben hier spricht sich — ins Weltgewandte, nämlich ins Englische übertragen — unversehens die Wahrheit aus, wo »Farben« zu »colours« verschoben worden sind. Dies ist die Fehlleistung des Spots: dasjenige, was im Werbejingle froh- und gleichzeitig hintersinnig geträllert wird. Die Herkunft des Magnetbands ist nicht einfach verdrängt in dem Sinne, dass sie nicht da ist; sie ist als etwas Verdrängtes anwesend.
Wo die Farben nicht länger nur phantastisch, sondern als Wortbestandteil der I.G. Farben aufleuchten, werden auch die übrigen Elemente des Spots anders lesbar. Hierfür bedarf es eines abermaligen Zeitsprungs, hin zu den drei Mäusen. Es sind offensichtlich keine three blind mice aus dem gleichnamigen englischen Kinderreim, ansonsten würden sie sich wohl kaum so sehr über das Fernsehbild freuen. Kehrt dort der Elefant wieder, fällt die Differenz der Tiere besonders ins Auge: hier der Elefant in der Steppe, dort die aufrecht gehenden, kostümierten Mäuse mit Piepsstimmen. Jenseits pragmatischer Entscheidungen, was die konkrete Erscheinung der Mäuse betrifft — sie sollen ja eine Videocassettenhülle fangen und tragen, sie sollen fernsehen und sprechen (wie aber wollte man hier überhaupt pragmatische Entscheidungen angesichts der Eklektik der Motive veranschlagen?) —, jenseits solcher pragmatischen Entscheidungen also, sticht hervor, dass die in einem Wohnzimmer hausenden Mäuse eklatant anthropomorphisiert sind. Den Mäusen kommt nicht nur deswegen eine prominente Rolle zu, weil sie am Ende des Werbespots auftauchen, sie sind auch schon auf dem Werbesticker mit dem Slogan »Fantastic Colours« platziert, von dem die Analyse ihren Ausgang nahm. Im Kontext der von Pauleit skizzierten Zeitsprung-Analyse haben Assoziationen zu einer »Kulturgeschichte der Texte, Bilder und Klänge«, wie oben zitiert, eine hervorgehobene Stellung. Zieht man den Veröffentlichungszeitraum des BASF-Werbespots in Betracht — einer der Youtube-Uploads des Spots gibt das Jahr 1989 an —, dann koinzidiert er mit der deutschsprachigen Erstveröffentlichung von Art Spiegelmans Comic Maus, genauer mit dem ersten Band Mein Vater kotzt Geschichte aus, der 1989 bei Rowohlt erschien (Spiegelman 1989) (amerikanischer Originaltitel: My Father Bleeds History, 1986). 8 Die Darstellung von Juden und Jüdinnen als anthropomorphisierte Mäuse — respektive die Zoomorphisierung jüdischer Menschen — und diejenige nicht-jüdischer Deutscher als Katzen sowie weiterer nationalspezifischer tierischer Figuren, dieser Darstellungsmodus ist das ästhetisch hervorstechendste Moment von Spiegelmans biografischer Erzählung über seinen Vater, einem Überlebenden der Schoa. Anders gesagt: es finden sich bildhistorisch kaum bekanntere Mäuse als die in Maus (sieht man von Mickey Mouse ab, die wiederum eine der Referenzen Spiegelmans ist). In der Rezeptionsgeschichte von Maus ist die Interpretation der Zoomorphisierung — die beispielsweise an die lange Tradition der Fabel ebenso anknüpft wie an die nicht selten rassistischen Traditionen von Tier-Cartoons — einer der zentralen Topoi. 9 Die Mäuse von BASF wissen natürlich nichts von denen Spiegelmans, ja ihre vorstädtische Spießbürgerlichkeit hat nichts mit dem historiographischen Einsatz von Maus zu schaffen. Sie teilen aber das Moment der Anthropomorphisierung respektive Zoomorphisierung: die hier wie dort offensichtliche Maskerade und Kostümierung. Die Assoziation mit Maus kann deshalb aufkommen, weil die Lektüre des Werbespots zuvor die dort verdrängte Erfindungsgeschichte der Magnetbandtechnik und mit ihr den I.G. Farben-Konzern im Zeichen des deutschen Faschismus und der Schoa aufgedeckt hat. In solcher Korrespondenz konterkariert schließlich die heimelige Anwesenheit der Mäuse im Werbespot auf obszöne Weise ihre industriell organisierte Vernichtung im Nationalsozialismus, wie sie von Spiegelman gezeichnet wurde.
Durch den Bezug zu den I.G. Farben geben auch die anderen Szenen des Werbespots ihre Geheimnisse preis: der zuerst pittoresk anmutende Anachronismus (oder: Zeitsprung) des dampflokbetriebenen Zugs wird zu einem Element des kollektiven Bildgedächtnisses zur Judenvernichtung, zu dem der Abtransport unzähliger Menschen in Waggons untrennbar dazugehört. Und der nicht sichtbare Brand, der die Anwesenheit der Feuerwehrmänner rätselhaft wirken ließ, wird Ausdruck der Verdrängung des Holocausts, der etymologisch auf ›vollständige Verbrennung‹ zurückzuführen ist. Und sogar die Szene mit dem Elefanten zeigt eine spezifisch jüdische Geschichte an: die aus dem Weltraum anfliegende Videocassette landet in Nordafrika, und ein dort existierender Elefant stellt für die 1980er-Jahre wiederum einen schieren Anachronismus und somit selbst einen Zeitsprung dar, nämlich in biblische Zeiten (in denen das nördliche Afrika mutmaßlich zum Habitat von Elefanten zählte). Und der hochaufragende Berg im Hintergrund ist der Berg Sinai, der mit dem Exodus der Israeliten aus Ägypten zusammenhängt, insofern er auf Moses und damit eine theologische Ursprungserzählung des Judentums verweist (auch wenn im Werbespot keiner der Büsche ein brennender Dornbusch ist).
Aber vielleicht wird die Lektüre hier zu phantastisch. Gegen den Drang zur Synthetisierung fügen sich die einzelnen Szenen des Werbespots, die im Zeichen der Verdrängung der I.G. Farben stehen, nicht endlich einer logischen Abfolge und schlüssigen Narration. Der Sinn der Bilder bleibt versprengt. Eine semiologische Lektüre, die dem Werbespot ideologiekritisch begegnet — die Semiologie also zu ihrem Ursprung, der Ideologiekritik, zurückführt —, könnte und dürfte auch keinen vollen Sinn reinaugurieren, andernfalls würde sie den dort mutilierten Sinn verbrämen. Das zentrale Moment der Verdrängung (die Verdrängung des Zivilisationsbruchs) hat dem Gegenstand inhärent zu bleiben, um kein bloßer Witz zu werden. Das Verdrängte kann nur mitgeschnitten werden; umgangssprachlich kann »etwas mitschneiden« auch »etwas mitbekommen«, »etwas erfassen« meinen.
Postskriptum
Über das in Frankfurt am Main stehende I.G.-Farben-Haus, ehemaliger Konzernsitz in den 1930erund 40er-Jahren, sinniert Rembert Hüser, heute Professor für Medienwissenschaft in ebenjenem Gebäude: »What is special about this building is that we are never through with it. We are never finished with the I. G. Farben building. Even if we vacate it. It will come back to haunt us.« (Hüser 2014: 144) Seinen Text schließt er mit der Information, dass die ortsansässige Universität — im Allgemeinen sei die Institution der Universität »a haunted castle where past and present desires inevitably cohabit« (Ebd.: 160) — das Gebäude im Jahr 2001 bezog: »Today, on the sixth and seventh floors, students study moving images and their meaning and continue to contemplate the state of the discipline.« (Ebd.: 161) Filmwissenschaft an der Goethe-Universität in der ersten Jahren des Jahrtausends zu studieren hieß, in Seminaren Heide Schlüpmanns Filme ausschließlich auf Zelluloid zu schauen. 10 Im Seminarraum im obersten Stockwerk des (ehemaligen) I.G.- Farben-Hauses waren Erklärtafeln aufgehängt, die Filmstreifen der unterschiedlichen analogen Formate als Exponate enthielten; neben ihnen war ein ausgerolltes Videomagnetband angeheftet, um zu demonstrieren, dass dieser schwarze Streifen (anders als die Kader des analogen Films) dem bloßen Auge nichts zeigte. Einen Kontrapunkt zur Exklusivität des Analogen stellte eine von Sabine Nessel in den Jahren 2002 und 2003 veranstaltete Vortragsreihe mit dem Titel Perspektiven der Filmwissenschaft dar; 11 in deren Rahmen hielt Winfried Pauleit eine Lecture-Performance, die in der Dokumentation jener Reihe bei Nach dem Film im September 2004 unter dem Titel »Filmwissenschaft und Videoüberwachung« publiziert wurde.
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