Auma Obamas Albtraum von Deutschland nach der Wiedervereinigung
Auma Obama, Barack Obamas Halbschwester, studierte von 1990 bis 1997 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Sie war 1980 mit einem Stipendium des DAAD nach Deutschland gekommen und dabei, ihre Promotion in Interkultureller Germanistik an der Universität Bayreuth abzuschließen, als sie entschied, sich gleichzeitig an der Filmakademie für Regie einzuschreiben. Hier entstand als Abschlussarbeit ihr zwanzigminütiger Kurzfilm ALL THAT GLITTERS (D 1992), der insofern ein recht sonderbarer Film ist, als er die Grenzen des Genrekinos überschreitet. Im Laufe der Filmhandlung lernt die Protagonistin Wendo, eine kenianische Frau, die mit einem weißen deutschen Mann verheiratet ist und in Bayreuth lebt, einen attraktiven, jungen Weißen kennen, mit dem sie und ihre Tochter Achieng sich gelegentlich treffen. Dieser entführt Achieng und fesselt sie in seiner Wohnung, wo er bereits weitere schwarze Kinder als Geiseln hält. Die Entführung der Tochter wird nie diegetisch aufgelöst; und zum Ende des Films wacht Wendo mitten in der Nacht auf. Während die Leinwand schwarz wird und der Abspann läuft, hören wir Achieng laut nach ihrer Mutter rufen, die sie anschließend zu beruhigen versucht. Die Schlusssequenz lässt die Frage offen, ob das Ganze nicht bloß ein böser Traum war.
In dem Dokumentarfilm THE EDUCATION OF AUMA OBAMA (D 2011) der Regisseurin Branwen Okpako verleiht Obama ihrem Anliegen Ausdruck, ihre ganz eigene Filmsprache zu finden, um Geschichten über ihre Erfahrungen als schwarze Frau in Deutschland zu erzählen. Dennoch stützt sie sich in ALL THAT GLITTERS recht häufig auf die deutsche Filmgeschichte, vor allem indem sie sich auf zwei ikonische Filme bezieht: Wolfgang Staudtes DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946) und Fritz Langs M (D 1931). Trotz dieser Zitate kanonischer deutscher Filmkultur, bricht Obamas ALL THAT GLITTERS mit bestimmten Darstellungskonventionen. Zuallererst durch die Vermischung mehrerer Genres, von Melodrama, Thriller und Fantasy, und zweitens durch die Verweigerung der in einem Melodrama oder Thriller erwarteten Auflösungen.
Man könnte versucht sein, Obamas Vermischung der Genres als Widerspiegelung ihrer Unerfahrenheit als Filmemacherin zu lesen. Ich dagegen argumentiere, dass Obama als schwarze, unabhängige Filmemacherin mit beschränkten Mitteln gezielt die Regeln des Genres bricht und an diverse deutsche Intertexte anknüpft, um ihre These zur Verletzbarkeit und zur Fungibilität1 des schwarzen Lebens im neoliberalen Deutschland nach der Wiedervereinigung zu verdeutlichen. Indem sie bei den Zuschauer*innen in den ersten Minuten die Erwartung eines Melodramas weckt, um dann unerwartet das Genre zu Thriller und dann Fantasy zu wechseln, führt Obama vor, dass die typischen Lösungen des konventionellen Kinos für das schwarze, weibliche Filmsubjekt nicht funktionieren. Das Problem der Fungibilität von schwarzem Leben kann vielmehr nur durch Fantasie gelöst werden.
Indem sie ihr Augenmerk sowohl auf Wendos als auch auf Achiengs Verletzlichkeit richtet, bewegt sich Obama im Erwartungshorizont afropessimistischer Filmwissenschaftler*innen wie Kara Keeling und Frank Wilderson. Ihr Film bietet eine Gelegenheit, die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen herauszuarbeiten: Während Wilderson darauf besteht, dass schwarze Filme „gratuitous violence“ (Wilderson 2010) in Kauf nehmen müssen, um revolutionär zu sein, kritisiert Keeling einen „black nationalism [that] valorizes death] presenting ‘dying for the people’ as a more noble form of resistance than surviving the enslavement and violence“ (Keeling 2007: 138). Anstatt auf Gewalt zu bestehen, fordert Keeling ein schwarzes Kino, das die Kategorie des Menschlichen sprengt. Obamas Film lässt sich eher auf dieser Seite des Arguments verorten: Anstatt Gewalt als Lösung anzubieten, wofür Wilderson plädiert, tritt Obamas ALL THAT GLITTERS für die Macht der Fantasie ein.
Aufgrund des besonderen deutschen Kontexts halte ich dies für ein besser umsetzbares und fruchtbareres Ziel für den Schwarzen Deutschen Film. In diesem Aufsatz werde ich daher einen afropessimistischen Ansatz für die Lektüre von ALL THAT GLITTERS nutzen: Indem ich abwäge, was Obamas Film zum afropessimistischen Denken beitragen kann, will ich ausloten, inwiefern er einen bedeutsameren Platz im Archiv der Filme mit schwarzer Regie beanspruchen kann.
Ich argumentiere, dass Obama eine Dialektik von Umweg und Rückkehr inszeniert, die es ihr ermöglicht, an schwarze Traditionen des Filmemachens anzuknüpfen, ohne dabei die wichtigen lokalen Anliegen ihres Films zu tilgen. Anstatt zu versuchen, ein schwarzes, weibliches Einwanderersubjekt in Genres einzupassen, die womöglich nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Menschlichkeit schwarzer Einwandererfrauen in Deutschland nicht immer anerkannt wird, stellt sie die Zuschauerin zunächst auf die Genre-Codes des Melodramas ein, schwenkt dann unerwartet um auf das Genre Thriller, um schließlich im Modus der Fantastik zu zeigen, dass konventionelle Formen des Abschlusses für das schwarze weibliche Filmsubjekt in Deutschland nicht realisierbar sind.
Das Setting von Obamas Film spiegelt die typischen Charakteristika des Melodramas wider: Wendo und ihr Ehemann Klaus sind Teil der gesetzten Mittelschicht. Wendo bleibt zu Hause bei ihrem Kind, Achieng, und sie leben in einem Einfamilienhaus mit zwei Autos. Als persönliches, emotionales Trauma im Herzen des Films erscheint Wendos Entfremdung von ihrem Ehemann, der häufig kalt, distanziert und autoritär auftritt. Von daher enthält ALL THAT GLITTERS einige melodramatische Tropen: die unglückliche Ehe, die Rolle der unterdrückten Ehefrau in der Beziehung, den Ausschluss von Frauen und Kindern aus der Öffentlichkeit und die Suche der Frau nach einem idealen Liebhaber. Obama integriert zudem mit dem Melodrama assoziierte stilistische Mittel: die Modulierung der Stimmung durch non-diegetische, sanfte Klaviermusik, die Wendos Interesse an Wokat, dem mysteriösen Fremden, unterstreicht, während sich Klaus’ Kälte in dem Fehlen von Musik widerspiegelt; verstreute Elemente exzessiver Farben (das titelgebende glänzende Gold auf Wendos Kissen und im Aquarium); und Wendos klaustrophobische Rahmung hinter Fenstern und Gegenständen im Haus.
Die misslungene Trennung zwischen Privatem und Öffentlichen zeigt sich zu Beginn des Films, als Wendo eine politische Demonstration im Fernsehen sieht, in der schwarze Körper als verletzlich und als Gegenstand willkürlicher Gewalt dargestellt werden. Ein goldenes Kissen umklammernd, wechselt Wendo die Sender, bevor sie bei einer Nachrichtenreportage innehält:
Demonstrierten heute 2.000 Menschen gegen Rassismus und Fremdenhass. Seit dem deutsch-deutschen Vereinigungsprozess haben sich die Überfälle auf Ausländer gehäuft. Die Morde an dem Angolaner Amadeu António in Eberswalde, an dem Mosambikaner Jorge Gomondai in Dresden, an den Pakistanern Mahmud Azhar in West-Berlin, an türkischen Frauen und Kindern in Mölln und Solingen sind nur die Spitze des immer größer werdenden Eisberges.
Während die Nachrichtensendung läuft, schneidet die Kamera vom Fernseher zu einer Aufnahme von Wendo von hinten, links vom Rahmen positioniert, mit dem Fernseher in ihrer Blickachse. Diese Einstellung lässt uns ihre Perspektive einnehmen und wir werden dazu aufgefordert uns vorzustellen, wie es sich anfühlen könnte, als schwarze Frau mit rassistischer Gewalt konfrontiert zu sein. Wendo ist in ihrem eigenen zu Hause nicht vor dieser Gewalt geschützt, da Bilder der Gewalt auf den Straßen direkt in ihr Wohnzimmer übertragen werden. Jemand in der Menge hält ein Schild hoch, das einzige für die Zuschauer*in lesbare, auf dem „Mörder sind unter uns!“ steht und das für etwa eine Minute auf dem Bildschirm bleibt. Der Spruch nimmt klaren Bezug auf den ersten im besetzen Deutschland gedrehten Nachkriegsfilm, Staudtes DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946). Während sich Staudtes Titel auf Nazi-Offiziere bezieht und nicht auf den Durchschnittsdeutschen, resignifiziert Obamas Zitat den Satz, indem sie ihn auf von Deutschen in den 1990ern verübte rassistische Gewaltakte bezieht; ein Hinweis darauf, dass im Deutschland nach der Wiedervereinigung nicht nur das Erbe des Faschismus noch allgegenwärtig ist, sondern dass rechtsextremistische Täter*innen durchschnittliche Bürger*innen sind. Zugleich war „Mörder sind unter uns“ auch einmal der ursprüngliche Arbeitstitel von Fritz Langs Krimi über Kindesentführung, M (D 1931) (Kaes 2016: 33). Darauf werde ich zurückkommen, wenn ich Achiengs Entführung diskutiere.
Nach dem Nachrichtenbericht führt die Eröffnungssequenz Wendos Ehemann, Klaus Kaiser, durch einen Schnitt auf sein Arbeitszimmer ein. Sein Nachname könnte als weiterer Kommentar zu seiner autoritären Rolle im Haushalt gelten. In der ersten frontalen Aufnahme von ihm sind auf dem Schreibtisch, zwei kleine, aus dunklem Holz gefertigte Elefanten sichtbar; einer größer als der andere, wie Mutter/Vater und Kind. Die kitschigen Souvenirs erinnern an durch Afrikatourismus erworbene Artefakte und repräsentieren nicht nur Klaus’ Interesse an Afrika, sondern auch seine Behandlung afrikanischer Kulturen und afrikanischer Menschen als erwerb- und sammelbare Objekte, deutlich betont durch die im ganzen Haus ausgestellte afrikanische Kunst. Klaus erscheint als stereotyper, bürgerlicher, weißer deutscher Mann, der hart arbeitet, autoritär ist und seine Freizeit mit Biertrinken und Fußballgucken verbringt. Wendos Begegnung mit Klaus, während dieser in seinem Büro sitzt, scheint das erste Indiz dafür, dass etwas in ihrer Ehe nicht stimmt. Als Wendo das Zimmer betritt, geht sie von hinten auf ihn zu, beugt sich über ihn und umarmt ihn von hinten. Er zeigt keine emotionale oder körperliche Reaktion. Sie sagt auf Englisch: „Why don’t you stop working now. It’s very late. You’re working too much.“ Seine knappe Erwiderung, „gleich“, gesprochen ohne auch nur in ihre Richtung zu schauen, offenbart die Machtdynamiken in ihrer Beziehung. Im gesamten Film spricht Klaus immer Deutsch mit Wendo, während sie auf Englisch antwortet. Selbst wenn er versucht ihr beim Deutschlernen zu helfen, betont der Film seine Möglichkeit in der eigenen Muttersprache zu sprechen und damit seinen Status als kulturell Teilhabender im Verhältnis zu seiner eingewanderten Ehefrau.
In seinem Büro beugt sich Wendo vor und fragt, „You want to spend time with me?“, während sie seinen Arm mit ihrer rechten Hand streichelt. Er erwidert, „Stopp, ich bin gleich fertig.“ Und mit seiner linken Hand entfernt er ihre Hand von seiner Schulter, wiederum ohne sie anzusehen. Diese Geste unterstreicht den paternalistischen Charakter ihrer Beziehung, der im Folgenden all ihre Begegnungen bestimmt. In jeder gemeinsamen Szene hat Klaus das Sagen; da Wendo keine Arbeit hat, ist sie von ihm auch finanziell abhängig. Obamas Framing von Wendo im Haus vermittelt ihre (Klaus)trophobie. In einer Szene ist sie in Hinteransicht in der Küche stehend gefilmt, während sie zusieht, wie ihr Mann zur Arbeit aufbricht. Wendos klaustrophobische Perspektive wird betont durch die Art, wie hier Vorhänge, Fensterrahmen und eine Mise en Scène mit dicht gedrängten Büschen und Zäunen, ihren Blick versperren.
Die Szene am Anfang zwischen Wendo und Klaus steht in deutlichem Kontrast zu einer sexuellen Begegnung. In der ersten Szene verbalisierte Wendo ihr Verlangen nach Intimität mit ihrem Ehemann, der sowohl Wort- als auch Körpersprache nutzt, um klare Grenzen zu ziehen. Im Gegensatz dazu liegt Wendo in der einzigen Sexszene des Films eine Zeitschrift lesend im Bett, Klaus den Rücken zugewandt und zeigt ihm so im wörtlichen Sinne die kalte Schulter. Klaus betritt mit nacktem Oberkörper und in Pyjamahose das Schlafzimmer und schaltet den Walkürenritt aus Richard Wagners Oper Die Walküre ein, dem zweiten der vier Teile des Ring der Nibelungen. Wendo schaut kurz zu Klaus, liest dann aber weiter. Als er ins Bett steigt, versucht sie sein Gesicht zu streicheln, augenscheinlich in eine romantische Begegnung einwilligend. Doch er reagiert, in dem er ihre Hand greift und von seinem Körper entfernt, genau wie er es vorher getan hat. Obwohl er Intimität initiiert, erlaubt er ihr nicht, zu führen. Sie muss die passive Empfängerin seiner Handlungen sein. Entsprechend zieht er Wendos Decke weg und enthüllt so ihren in ein Nachthemd gekleideten Körper und nackte Oberschenkel. Dann nimmt die Kamera eine neutrale Perspektive hinter Klaus ein und schwenkt hinunter um zu zeigen, wie er seine Schlafanzughose mit einer Hand auszieht, während er Wendo mit der anderen niederdrückt. Obwohl die Szene als einvernehmlicher Sex zwischen Ehefrau und Ehemann betrachtet werden könnte, machen seine Kontrolle und ihr Schweigen die Situation uneindeutig. Als Klaus Wendo penetriert, schneidet die Kamera in ein Close-up ihres Gesichts, das leer und desinteressiert wirkt. Ein Kameraschwenk folgt ihrem Blick zu einem schwarzen Fisch in einem Aquarium mit goldener Verzierung, das zweite Mal, dass die Farbe Gold erscheint. Wie auch der Filmtitel impliziert dieses Motiv, dass es Wendos Privatleben trotz augenscheinlich bürgerlichen Glanzes an wahrem Funkeln fehlt.
Während Klaus Wendos Einladung zur Intimität ausschlägt, kann sie umgekehrt nicht dasselbe tun. Sie ist in einer dienenden Rolle fixiert, sei es für Sex oder um ihm Bier nachzuschenken, während er in einer späteren Szene Fußball guckt. Als sie ihm das Bier serviert, sehen wir lediglich Close-ups von Wendos Händen – ihre Arbeit betonend –, bevor sie aus seiner Blickachse verschwindet und vor ihm verborgen hinter einer Pflanze in ihrem Wohnzimmer steht. Obamas Mise en Scène vermittelt, dass Klaus, obwohl er von ihrer Arbeit abhängig ist, Wendos Subjektivität oder Menschlichkeit nicht anerkennt.
Das Setting des Films in Bayreuth, wo Obama an ihrer Promotion gearbeitet hatte, ist auch Heimat der jährlichen Richard-Wagner-Festspiele. In ihrer Analyse von Wagners rassistischen Ansichten und kolonialen Ansprüchen auf Afrika weist Susan Arndt darauf hin, dass der Walkürenritt häufig als Soundtrack für koloniale Filme benutzt wurde, was die Szene um weitere Bedeutungsebenen ergänzt (Arndt 2017: 59). Es ist verlockend, die Sexszene in erster Linie durch die Linse des häuslichen Lebens zu lesen, als eine Reflexion der Stille, des Missbrauchs und des Zwangs zwischen Mann und Frau, und Wendos und Klaus’ übertrieben bürgerliches Haus lädt mit Sicherheit zu solch einer Lesart ein. Unter der Oberfläche ehelicher Probleme jedoch verkompliziert Wendos Position als schwarze Einwandererfrau ihre Beziehung zu ihrem Ehemann. Wendo ist nicht nur den patriarchalen deutschen Eheregeln unterworfen. Vielmehr ist sie als Nicht-Bürgerin, als schwarze Frau und als eine Person, die nicht arbeitet, noch verletzbarer, da sie weder über die finanziellen Mittel, noch über den rechtlichen Schutz verfügt, um Klaus zu verlassen und ihre Tochter zu behalten. Klaus kann seine Macht und seine privilegierte Position daher nicht nur in der Ehe ausleben, die Sexszene suggeriert auch, dass er Wendo bestraft. Vor dem Hintergrund ihrer aufkeimenden Gefühle für Wokat, einer zweiten Unterdrückerfigur, und dem angedeuteten Ehebruch, zwingt er sie zur Unterwerfung.
Bedenkt man den fatalen Zustand ihrer Ehe, ist es nicht überraschend, dass Wendo nach einem Ausweg sucht. Als sie und Achieng einem mysteriösen blonden Mann namens Wokat in der Stadt begegnen, scheint er eine Alternative zur täglichen Monotonie und Klaustrophobie des Ehelebens zu bieten. Wokat kommt aus dem Nichts in ihr Leben, als er Achieng aus der Fahrbahn eines nahenden Autos reißt, während sie auf der Straße Ball spielt. Wir erfahren später, dass Wokat keine sichere Alternative zu Klaus darstellt, sondern vielmehr als Achiengs Entführer eine ganz eigene Bedrohung darstellt.
Die erste Begegnung von Wokat und Achieng ruft Tropen und Kameratechniken auf, die mit Langs Thriller M assoziiert sind. Dieser beginnt mit der Entführung der jungen Elsie Beckmann. Der Kindermörder Hans Beckert nähert sich ihr, als sie von der Schule nach Hause kommt. Um Spannung aufzubauen, lässt Lang die Identität des Entführers im Dunkeln und rückt stattdessen das Kind in den Fokus. Anton Kaes liest Elsies Ball als eine Metonymie für ihre Lebendigkeit; so lange der Ball springt, wissen wir, dass Elsie am Leben ist. (vgl. Kaes 2016) Nachdem sie umgebracht wurde, kommt der Ball auf einer grasbewachsenen Lichtung zum Liegen. Obwohl wir ihre Ermordung nicht mitansehen, wissen wir, dass sie tot ist. In ALL THAT GLITTERS setzt Obama den Ball mit ähnlicher Wirkung ein. Während Achieng einen rot-gelben Ball springen lässt, zoomt die Kamera in einem Close-up auf den vor ein Auto rollenden Ball, und deutet so an, dass Achieng in Gefahr ist. Den Ball im Fokus lässt der niedrige Kamerawinkel lediglich Achiengs Beine erkennen, während sie ihm hinterherrennt, und anschließend Wokats Beine, als er ihr nachläuft; davon abgesehen sind die Figuren unserem Blick entzogen. Diese indirekte Bildführung lässt Wokat geheimnisvoll erscheinen, einerseits in seiner Rolle als Fremder, andererseits, weil wir zunächst sein Gesicht nicht sehen können und so nahelegt wird, dass er etwas zu verbergen hat.
Wokat ergreift die Gelegenheit sich in Achiengs und Wendos Leben einzuschleichen. Als Wendo ihre Tochter zum Spielplatz bringt, lädt Wokat sich selbst mit ein, und wie schon bei ihrem Ehemann gibt Wendo seinem Drängen nach. Eine Montage verschiedener Orte zeigt uns, wie Wokat und Wendo sich langsam näherkommen, bis er ein vertrauter Freund geworden ist. Wendo ertappt sich selbst dabei, wie sie an ihn denkt, wenn sie mit ihrem Mann zusammen ist, und ihre Zuneigung zu ihrem Mann schwindet. An dieser Stelle nutzt der Film wiederholt Konventionen des Melodramas, indem er auf die frustrierte Sexualität einer Ehefrau und die Möglichkeit einer „female sexuality outside familial roles“ (Pollock 1977: 111) anspielt. Wir werden dazu verleitet zu glauben, dass sich Wendo in Wokat verliebt, der jünger, freundlicher, ausgelassener und liebevoller als Klaus ist. Der melodramatische Tenor des Films wird durch die sanfte, non-diegetische Klaviermusik verstärkt, die die gemeinsamen Szenen von Wokat und Wendo begleitet. Im Gegensatz dazu fehlt in den Szenen mit Wendo und Klaus non-diegetische Musik, was Kälte und einen Mangel an Gefühlen suggeriert. Der Ton wird verwendet um zu zeigen, dass Wendo, selbst wenn sie bei Klaus ist, an Wokat denkt. Eine Klangbrücke verbindet zum Beispiel eine Szene, in der Wendo mit Klaus im Bett liegt mit einer Szene, in der Wokat und Achieng Pferdchen spielen, sodass wir Wokats Stimme noch vor dem visuellen Schnitt weg von Wendos Bett hören. Selbst die Alliteration ihrer Namen, Wendo und Wokat, suggeriert, dass sie zusammen gehören.
Doch ein solch konventionelles Happy End ist für eine schwarze Figur nicht realisierbar, ganz zu schweigen für eine schwarze, weibliche Immigrantin. Der junge Mann erweist sich schließlich nicht als Wendos Retter. Während einer ihrer Ausflüge in den Park stoßen Wendo, Achieng und Wokat auf eine mit einem Maschendrahtzaun abgesperrte Baustelle. Wokat bittet Wendo hinter den Zaun zu gehen und so zu tun, als sei sie ein Löwe. Zunächst scheint dies ein lustiges Spiel zu sein. Nach einigen Minuten fragt Wokat, „Achieng, sollen wir zu den Affen gehen?“ Er könnte sich immer noch verstellen und den lediglich im Modus des Rollenspiels einen Zoobesuch mimen. Wie wir jedoch erfahren, entführt er Achieng tatsächlich und versteckt sie mit anderen schwarzen Kindern, die er gefangen hält. Somit lässt sich seine Erwähnung der „Affen“ als rassistische Beleidigung, in Bezug auf die entführten schwarzen Kinder lesen. Als die beiden Wendo hinter dem Zaun zurücklassen, ändert sich plötzlich der Ton des Films. Wendo beginnt nach ihnen zu rufen, kann sich aber nicht sofort befreien und muss schließlich über den Zaun hinüberklettern. Als sie verzweifelt nach Achieng sucht, realisieren wir, dass dieses „Spiel“ eine List war.
Wie sein Aufruf der Affen hat Wokats List rassistische Untertöne und erinnert offenkundig an das deutsche Phänomen der Völkerschauen, in denen Menschen aus Afrika und Asien öffentlich zur Schau gestellt wurden. Wie in einem Käfig erscheint Wendo in einer Einstellung, die explizit die im Elmina Castle in Ghana gelegene „Door of No Return“ zitiert, von der aus Sklaven über den Atlantik geschickt wurden, ein zentraler Bezugspunkt für schwarze Diaspora Künstler*innen. Die Geschichte des Rassismus wird erneut aufgerufen, als ein vorübergehender weißer älterer Mann vorbeiläuft und auf Wendos Bitte um Hilfe sarkastisch scherzend antwortet, „Es ist zu gefährlich“ und „Ich habe Angst.“ Nicht nur verweigert er Wendo seine Hilfe, er macht auch Tiergeräusche, als wolle er andeuten, dass dies die angemessene Form der Kommunikation mit ihr sei.
In diesem Teil des Narrativs taucht Langs Thriller M wieder als Intertext auf: Der ursprüngliche Arbeitstitel, „Mörder sind unter uns“, hallt nicht nur von dem von einem Demonstranten hochgehaltenen Schild wider, das in der Nachrichtensendung in der Eröffnungsszene kurz zu sehen war, wir verstehen nun außerdem, dass es sich auch auf die gegenwärtige Präsenz von Faschisten und Kindermördern bezieht. Als Wendo nach Achieng zu suchen beginnt, versucht sie Klaus anzurufen. Da sie nicht genug Kleingeld für die Telefonzelle hat, läuft sie in einen Supermarkt, dessen Eingangstür die Schlagzeile einer Boulevardzeitung zeigt: „Wieder Kind vermißt. 100 Polizisten suchen Anne (3)“ Diese Schlagzeile bestätigt den Zuschauer*innen, dass Achieng wirklich entführt wurde, aber sie erinnert auch an die von Lang in M genutzten Strategien, das die Berliner Gesellschaft durchdringende Gefühl der Gefahr heraufzubeschwören, eine Situation, in der sich niemand sicher fühlen konnte. Der Umstand, dass 100 Polizisten nach Anne suchen, einer unmarkierten weißen Deutschen, steht in Kontrast zu den vermissten schwarzen Kindern, die in Wokats Wohnung gefangen sind und nicht zum Gegenstand einer weitläufigen Suche werden. Während in M die Verwundbarkeit von Frauen und Kindern im Mittelpunkt des Mitgefühls der Zuschauer*innen stehen, führt Obamas Film die Intersektionalität von race ein, um die einzigartig verwundbare Existenz schwarzer Frauen und Kinder hervorzuheben.
Während das Melodrama es Obama ermöglichte, den Konflikt zwischen Ehemann und -frau und deren klaustrophobisches häusliches Leben vorzustellen, rückt ihr Genre-Wechsel zum Thriller Wendos und Achiengs Gewaltanfälligkeit in den Vordergrund: Wendos Kontrollverlust und die Unmöglichkeit, mit konventionellen Mitteln Gerechtigkeit zu finden, mit der sie sich konfrontiert sieht. Jerry Palmer argumentiert, dass der Thriller sich auf zwei essenzielle Komponenten zurückführen lässt: ein Held und eine Verschwörung, die der Held überwindet (Palmer 1978: 11). Während ALL THAT GLITTERS eine Verschwörung einführt – die mutmaßliche Entführung schwarzer Kinder durch Rechtsextremisten –, gibt es keinen Helden, der die Verschwörung vereiteln könnte; stattdessen nutzt Obama Fantasie, um Achiengs Entführung aufzulösen. Sie entfernt sich vom Realismus und enthält somit jegliche Aufklärung des Verschwörungsplots vor. Während konventionelle Thriller mit der Wiederherstellung der moralischen Ordnung enden, verhindert Obamas offenes Ende einen solchen Abschluss (Rubin 1999: 11).
Obgleich Wendo nie herausfindet, was Achieng zugestoßen ist, gewährt der Film einen fragmentierten Blick auf ihr Schicksal. Nach einer halbnahen Einstellung auf Wendo, die in der Telefonzelle mit Klaus spricht, sehen wir ein Close-up der Rückscheibe von Wokats Auto. In der rechten unteren Ecke seines Rückfensters befinden sich zwei Aufkleber der Jungen Nationaldemokraten, der Jugendorganisation der NPD. Auf einem Aufkleber steht „Mein Freund ist Deutscher“ und auf dem zweiten „Gib Hass keine Chance. Stoppt Ausländer!“ Diese Aufkleber klären jegliche Zweifel bezüglich Wokats Absichten. Das Auto fährt weg und Wokat bringt Achieng in seine Wohnung, wo eine Gruppe von vier anderen schwarzen Kindern gefesselt und mit Lappen geknebelt sind.
Die Wokats Blick aufgreifende Kamera, schwenkt über die Gesichter der Kinder und schneidet dann zu Wokat, der den Raum ohne ein Wort verlässt. In der letzten Szene des Films setzt sich Wendo in ihrem Bett auf, als würde sie aus einem Albtraum erwachen. Ihr fest schlafender Mann neben ihr rührt sich nicht. Der Film schneidet zurück auf eine schwarze Leinwand und der Abspann beginnt zu dem Klang einer Kinderstimme. Vermutlich ist es Achiengs wimmernde Stimme, auf die Wendo erwidert: „It’s OK, mommy is here. Just go back to sleep.“ Obamas Ende wirft mehrere Fragen auf: War die Entführung ein Traum? Oder hat sie tatsächlich stattgefunden, und es ist Wendo irgendwie gelungen, Achieng zu retten? Oder träumt Wendo lediglich, dass Achieng in Sicherheit ist, oder aber träumt sie, dass alles nur ein böser Traum war?
Indem sie mit einem äußerst mehrdeutigen Fantasiebild schließt, demonstriert Obama, dass es möglich ist, einen afropessimistischen politischen Film zu machen – einen Film, der ehrlich von der gewalttätigen gelebten Realität schwarzer Menschen erzählt –, ohne Gewalt als Lösung vorzuschlagen. Stattdessen weist Obama zuallererst darauf hin, dass man eine schwarze Figur nicht in ein klassisches Filmnarrativ, d.h. in ein Melodrama oder einen Thriller, einfügen und ein konventionelles Happy End erwarten kann. Wenn die einzige Möglichkeit Achiengs Entführung aufzulösen, in einer Rahmung als Albtraum besteht, scheint Obama nahezulegen, dass schwarze Menschen Fantasie benötigen, um uns dabei zu helfen, einen Ausweg aus unserem wachenden Albtraum zu imaginieren; um uns zu helfen, uns eine Alternative zur gegenwärtigen Welt vorzustellen. Auf welche Weise könnte es für schwarze Menschen befreiend sein, sich vorzustellen, wie ihr Leben ohne Kolonialismus und Sklaverei hätte aussehen können, oder wie ihr Leben in einer alternativen Welt ohne white supremacy und Feindseligkeit gegenüber schwarzen Menschen sein könnte? Auch ohne für einen gewalttägigen Widerstand einzutreten, stellen Obamas Zentrierung anti-schwarzer Gewalt und schwarzer Verwundbarkeit sowie ihre formale Vermischung der Genres noch immer eine Unterbrechung und Beunruhigung für die Zuschauer*innen und die Kinotradition dar. Obamas Kombination von gewalttätigem Konflikt und fantastischer Lösung ermöglicht eine Reflektion darüber, wie sowohl Afropessimismus als auch Afrofuturismus dazu beitragen können, einen Raum zu erschließen, in dem schwarzes Leben sich selbst bestimmen kann. Unabhängig davon, wie man das Ende des Films interpretiert, seine Mehrdeutigkeit und Fantasie richten das Augenmerk auf ein Potenzial: das Potenzial, dass sich die Dinge ändern können, und das Potenzial, dass eine andere Welt möglich ist.
Aus dem Amerikanischen von Leonie Wilms und Sophie Holzberger
This excerpt is from Priscilla Layne's, "All that Glitters isn't Gold: Auma Obama's Nightmare of Postunification Germany," in: Camera Obscura, Volume 33, 3 (2018), 75-103. Copyright, Camera Obscura. All rights reserved. Republished by permission of the copyrightholder, and the present publisher, Duke University Press. www.dukeupress.edu
Arndt, Susan (2017) Richard Wagner: The Myth of Bayreuth, in: Fabian, Lehmann/Siegert, Nadine/Vierke, Ulf (Hg.) Art of Wagnis: Christoph Schlingensief’s Crossing of Wagner and Africa. Wien: Verlag für moderne Kunst, S. 55–61.
Kaes, Anton (2016) M. London: BFI.
Keeling, Kara (2007) The Witch’s Flight: The Cinematic, the Black Femme, and the Image of Common Sense. Durham, NC: Duke University Press.
Palmer, Jerry (1978) Thrillers: Genesis and Structure of a Popular Genre. London: Edward Arnold.
Pollock, Griselda (1977) Report on the Weekend School, in: Screen 18, no. 2, S. 105–113.
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Wagner, Richard (1997) Die Walküre. London: Phaidon.
Wilderson, Frank B (2010) Red, White, and Black: Cinema and the Structure of U.S. Antagonisms. Durham, NC: Duke University Press.