Eine Annäherung in sieben Schritten und mit besonderem Fokus auf Hélène Louvart
Im März 2018 wurden in Los Angeles die Academy Awards zum 90. Mal verliehen, ein rundes Jubiläum. Gleichzeitig passierte etwas noch nie Dagewesenes. Zum ersten Mal in der Geschichte der Oscars war eine Frau in der Kategorie „Beste Kamera“ nominiert: Rachel Morrison, für ihre Kameraarbeit an dem Spielfilm MUDBOUND (USA 2017). Gewonnen hat Morrison die Auszeichnung nicht. Auf die Frage, warum es 90 Jahre gedauert habe, bis eine Kamerafrau für die renommierte Auszeichnung wenigstens in die engere Auswahl genommen wurde, verweist Morrison auf Statistiken: Da lediglich 2% der US-Produktionen von Kamerafrauen gefilmt würden, sei es kein Wunder, dass Frauen bei den Oscar-Nominierungen in der Kategorie „Beste Kamera“ bisher nicht zum Zuge gekommen seien.
Das mag sich ein wenig wie eine Entschuldigung für die Geschlechterblindheit der Academy anhören, kann aber auch einfach als Hinweis auf die Tatsache gelesen werden, dass Frauen historisch und bis heute in kaum einem anderen Bereich der Filmproduktion derart unterrepräsentiert sind wie im Bereich Kamera. Dem Bündnis Pro Quote Film zufolge sind in Deutschland weniger als 10% der beschäftigten Kameraleute Frauen, und nur die Hälfte der an Filmschulen ausgebildeten Kamerafrauen arbeitet in ihrem Beruf (vgl. Pro Quote Film 2018: o.S.). In der American Society of Cinematographers sind unter 372 Mitgliedern lediglich 14 Frauen, also 3,8 %, und im deutschen Berufsverband Kinematografie gibt es bei 464 Mitgliedern 40 Frauen, also 8,6 % (vgl. N.N. 2015: o.S.).
Auch in Büchern, die sich mit Kameraarbeit und Bildgestaltung beschäftigen, spielen Kamerafrauen so gut wie keine Rolle. Meist handelt es sich um weniger technik-, denn personenzentrierte Darstellungen, in denen bedeutende Kameramänner und ihr Œuvre vorgestellt werden, oft in Form von Interviews oder Gesprächsprotokollen (vgl. Schäfer/Salvato 1984, Malkiewicz 1986, Ettedgui 2000, Bergery 2002, Fauer 2008, Beach 2015, Fleischer/Trimpert 2015): Kameramänner erzählen darin von der Zusammenarbeit mit berühmten Regisseuren, von raffinierten Lösungen technischer Probleme, von körperlichem Höchsteinsatz und der Inspiration durch große Maler.
Letztere kommt in den Texten immer wieder zur Sprache: wie man etwa das Licht bei Caravaggio und Vermeer studiert habe oder die Kompositionen von El Greco (Ettedgui 2000: 12, 136, 156). Der Rekurs auf die Malerei erlaubt es zu unterstreichen: „dass Kameraleute weit mehr als bloß Techniker sind“, nämlich Künstler. Die Geschichte der Malerei dient als Bezugsfeld, um sie in eine jahrhundertalte, altehrwürdige Tradition von Exzellenz, Meisterschaft und Genius einzuspannen; Rembrandt, Caravaggio oder Piero della Francesca werden zu Vergleichsgrößen für Kameramänner von heute, die im gleichen Atemzug zum „contemporary embodiment of a centuries-old tradition“ erhoben werden (Bergery 2002: x).
Die Bezeichnung „Meister“ fällt demnach oft in diesen Büchern: „[W]as die Kameraarbeit für viele zur Berufung macht, ist die Manipulation von Licht und Schatten, von Farbe und Helligkeit, von Raum und Bewegung, um eine emotional aufgeladene Bühne für die Filmhandlung zu erschaffen. Von einem Meister umgesetzt, werden die technischen Abläufe dieser Disziplin zu einer Kunstform erhoben.“ (Ettedgui 2000: 7) Besonders „masters of light“ ist eine häufig gebrauchte Wendung (vgl. Schaefer/Salvato 1984, Bergery 2002), und auch von „giants“ wird gerne gesprochen (vgl. Bergery 2002). Die Arbeit des Kameramanns erfährt dabei eine Verklärung, ja Mystifizierung: „Die Schauspieler mögen Fleisch und Blut eines Films sein – die Kamera ist die Inspiration,“ schreibt ein Autor, der weiterhin behauptet, die Kamera habe eine „fast schon alchemistische Rolle bei der Filmproduktion“: „Auf den Schultern des Kameramannes lastet die Verantwortung“ für die quasi-magische Transformation von „Hoffnungen, Träume[n] [...] in fotografische ‚Realität‘.“ (Ettedgui 2000: 7)
Die Mystifizierung der Kameraarbeit und die fortwährenden Vergleiche mit den ganz Großen der europäischen Kunstgeschichte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele dieser Bücher über die Arbeit von Kameraleuten aus einer Art Minderwertigkeitskomplex heraus geschrieben scheinen, dass sie etwas kompensieren wollen. Tatsächlich arbeiten sich nicht wenige mit leidenschaftlichem Einsatz an der Auteur-Theorie ab (vgl. Beach 2015) und geben sich größte Mühe, den Anteil der Kamera am Kunstwerk Film gegenüber den Leistungen der Regie aufzuwerten und den Kameramann als dem Regisseur gleichberechtigten Partner zu etablieren. Der Kameramann wird – analog zum Begriff des Auteurs – zum „Kameraautor“ (Brandlmeier 2008) erklärt, und das Verhältnis zwischen Regisseur und Kameramann als „productive meeting of minds“ beschrieben, als „symbiotic artistic partnership that could bring out the best in both individuals.“ (Beach 2015: 8) So heißt es etwa in der Studie eines US-amerikanischen Filmwissenschaftlers, die fünfzehn herausragende Kollaborationen zwischen Regisseuren und „ihren“ Kameramännern analysiert: D.W. Griffith und Billy Bitzer, Orson Welles und Gregg Toland, Alfred Hitchcock und Robert Burks. Frauen sind nicht darunter.
Stattdessen: Filmproduktion als bromance. Beschworen wird nicht nur die besondere Chemie zwischen Regisseur und Kameramann, sondern auch der „spirit of camaraderie and support“ (Bergery 2002: 23) unter Kameraleuten, ihre ganz spezielle „collegial comradeship“ (ebd.: viii; vgl. auch Malkiewicz 1986 und Ettedgui 2000): „the roots of love and influence among cinematographers grow deep and this book is, more than anything else, a celebration of that spirit.“ (Bergery 2002) Ja, es geht um Liebe: „There’s something about cinematographers, and the passion we bring to our work, that gives us the sense of being blood brothers. We have a love and admiration for each other, and a desire to help each other out.“ (ebd.: 23) Die Zunft der Kameramänner erscheint als verschworene Gemeinschaft, die auf brüderlicher Leidenschaft und Liebe beruht – ein Männerbund.
Wieder und wieder liest man dieselben Namen: Néstor Almendros, Michael Ballhaus, Jack Cardiff, Raoul Coutard, Roger Deakins, László Kovács, Robby Müller, Sven Nykvist, Haskell Wexler, Gordon Willis, Vilmos Zsigmond, usw. usf. bilden eine kleine Gruppe großer Kameramänner, denen Wiedererkennungswert und Künstlerstatus zugesprochen werden. Wo die Leistungen der Kamera gegenüber denen der Regie aufgewertet werden soll, werden also vor allem auch Mechanismen und Strategien der Kanonisierung wirksam. Dieser Kanon ist westlich, weiß und männlich.
Angesichts dieses exklusiv männlichen Kanons, angesichts von 90 Kamera-Oscars, die allesamt an Männer gegangen sind, stellt sich die Frage: Wo sind die großen Kamerafrauen, die Kamera-Künstlerinnen und Meisterinnen des Lichts? Anders formuliert: „Why Have There Been No Great Women Cinematographers?“ Aufgerufen und variiert ist damit einer der Gründungstexte feministischer Kunstgeschichte, der Aufsatz „Why Have There Been No Great Women Artists?“ von der US-amerikanischen Kunsthistorikerin Linda Nochlin, der 1971 zuerst in der Zeitschrift ARTNews erschienen ist (Nochlin 2015).
Nochlin weiß, dass die titelgebende Frage als Affront daherkommt und die Implikationen, die in ihr mitschwingen, problematische sind:
„The question tolls reproachfully in the background of most discussions of the so-called woman problem. But like so many other so-called questions involved in the feminist ‚controversy,‘ it falsifies the nature of the issue at the same time that it insidiously supplies its own answer: ‚There are no great women artists because women are incapable of greatness.‘“ (ebd.: 43)
Der strategische und rhetorische Kunstgriff ihres Textes besteht darin, dass Nochlin die Frage in der Folge dennoch ernst und als intellektuelle Herausforderung annimmt – trotz oder gerade wegen ihrer misogynen Implikationen. Die Abwesenheit von Frauen im Pantheon der großen Maler wird so Anlass zum grundlegenden Nachdenken darüber, wie feministische Forschung einem solchen Geschlechterungleichgewicht methodisch und politisch begegnen kann; Nochlin formuliert Überlegungen, die auch knapp 50 Jahre später noch relevant sind und dazu beitragen können, die Geschlechterungleichheit im Bereich Kamera zu analysieren. Wenn Kameramänner ihr Metier immer wieder in die Nähe von dem der großen Maler gerückt haben, dann soll die Analogie hier erlaubt sein, um über den prekären Status von Kamerafrauen nachzudenken – auch wenn zwischen den Produktionsbedingungen in Malerei und Film natürlich große Unterschiede bestehen.
„The feminist’s first reaction,“ schreibt Nochlin, „is to swallow the bait, hook, line and sinker, and to attempt to answer the question as it is put: i.e. to dig up examples of worthy or insufficiently appreciated women artists throughout history; to rehabilitate rather modest, if interesting and productive careers“ (ebd.). Von solchen Versuchen, der Abwesenheit von Frauen unter den Großen durch die Konstruktion eines Gegenkanons zu begegnen, hält Nochlin jedoch nicht viel:
„Such attempts [...] are certainly worth the effort, both in adding to our knowledge of women’s achievement and of art history generally. But they do nothing to question the assumptions lying behind the question ‚Why have there been no great women artists?’ On the contrary, by attempting to answer it, they tacitly reinforce its negative implications.“ (ebd.: 44).
Für Nochlin lässt sich der irritierenden Frage nur angemessen beikommen, wenn man das Geschlechterungleichgewicht erstens nicht beschönigt: „[N]o amount of manipulating the historical or critical evidence will alter the situation; nor will accusations of male-chauvinist distortion of history. The fact, dear sisters, is that there are no women equivalents for Michelangelo or Rembrandt, Délacroix or Cézanne, Picasso or Matisse“ (ebd.: 46). Noch wichtiger aber ist, zweitens, die Mechanismen zu hinterfragen, nach den Qualität in der Kunst bemessen und konstruiert wird: „Underlying the question about women as artists, then, we find the myth of the Great Artist – subject of a hundred monographs, unique, godlike – bearing within its person since birth a mysterious essence [...], called Genius or Talent [...].“ (ebd.: 48)
Problematisch ist dieser Mythos, weil er verschleiert, dass ganz andere Dinge als Talent und Genie eine Rolle spielen, wenn es darum geht, ein*e große*r Künstler*in zu werden: „The making of art involves a self-consistent language of form, more or less dependent upon, or free from, given temporally-defined conventions, schemata or systems of notation, which have to be learned or worked out, either through teaching, apprenticeship or a long period of individual experimentation.“ (ebd.: 45) An dieser Stelle, also bei den institutionellen Bedingungen für das Erzeugen oder Ausbleiben von Kunst und nicht bei den individuellen (vgl. ebd.: 67) meint Nochlin, muss eine Beantwortung der Frage ansetzen: „The fault, dear brothers, lies not in our stars, our hormones, our menstrual cycles or our empty internal spaces, but in our institutions and our education – education understood to include everything that happens to us from the moment we enter this world of meaningful symbols, signs and signals.“ (ebd.: 46)
Was also sind die institutionellen Bedingungen, unter denen Kamerafrauen ihren Beruf, ihr Handwerk, ihre Kunst ausgeübt haben, und wo liegen Gründe, die ihr Vorarbeiten an die Spitze des Metiers in der Vergangenheit verhindert haben und auch weiterhin erschweren? Ein Buch, das ausnahmslos Interviews mit Kamerafrauen versammelt, gibt Auskunft darüber. Es enthält 23 Gespräche, welche die US-amerikanische Filmprofessorin Alexis Krasilovsky, die selbst einige Jahre lang als Filmemacherin und Kamerafrau gearbeitet hat, zwischen 1988 und 1996 geführt hat.1
Es ist eine in weiten Teilen deprimierende Lektüre von Geschichten, die sich ähneln. Sie erzählen, bis auf wenige Ausnahmen, von versandeten, abgebrochenen, gescheiterten Karrieren, von Berufswegen, die schon zu Anfang auf fast unüberbrückbare Schwierigkeiten und Widerstände stoßen. In der Ausbildung zum Beispiel: Estelle F. Kirsh etwa ergattert 1978 einen der wenigen und begehrten Kameraausbildungsplätze in Los Angeles, bei 1500 Bewerbern, muss aber nach nur zwei Wochen festzustellen: „I did not belong, could not belong.“ (Krasilovsky 1997: 20) Die Kameraassistentin Leslie Hill erzählt über ihre Ausbildung: „I was out there alone, pioneering. It was very, very draining. [...] [T]he guys in the training program got to use 90 percent of their energy learning the job, whereas I had to use 90 percent of my energy dealing with the men’s attitudes.“ (ebd.: 44)
Nach der Ausbildung, auf dem Arbeitsmarkt geht es weiter: „The prejudice was that a woman simply couldn’t do the job,“ berichtet Hill über ihre Erfahrungen als Kameraassistentin in den späten 1970ern und fährt fort: „There was rampant sexism, and many times I heard comments that would now be regarded as ‚harassment.‘“ (ebd.: 44, kursiv im Original) Von der vielbeschworenen tiefen Verbundenheit und Kameradschaft unter Kameraleuten scheinen Frauen ausgeschlossen: „Too often there was an unwillingness to share knowledge, a reluctance to divulge the great secrets, as it were, of cinematography“ (ebd.: 19).
Gefühle der Isolation, Verbitterung und Wut kommen zur Sprache, auch Selbstkritik und Scham darüber, sich zu wenig gegen sexistische Abwertung und Ausgrenzung gewehrt zu haben: „I’m afraid I should have been more confrontative [...]. But, it wasn’t really in my personality,“ sagt Hill (ebd.: 48). Andere Kamerafrauen geben Taktiken und Überlebensstrategien an die Hand. So erklärt die Experimentalfilmerin und Kamerafrau Amy Halpern: „I have developed a certain sense of machisma in order to do this job.“ (ebd.: 155) Und die Kamerafrau Susan Walsh schärft angehenden Kolleginnen ein, in der Branche und am Set gezielt nach Verbündeten zu suchen: „find people who will confirm you, and find ways to confirm yourself. As much as possible, seek out opportunities with people who want you with them.“ (ebd.: 88)
Die Erfahrungen und Anekdoten, die in diesem Buch versammelt sind, lassen sich nicht umstandslos verallgemeinern, weil sie persönlich und subjektiv sind. In der Summe vermitteln sie aber trotzdem ein Bild dessen, was sich ansonsten nur schwer beziffern lässt: welche Folgen Ausgrenzung, Diskriminierung und Sexismus haben, wie sie Karrieren be- und verhindern, zu Depression, Krankheit und Armut führen können. Die hier geschilderten Berufswege kulminieren jedenfalls nicht in einer Oscar-Auszeichnung, sondern enden etwa beim Nebenverdienst als Grußkartengestalterin oder der Umschulung zur Masseurin (ebd.: 15, 114). Fazit der Kamerafrau Cathy Zheutlin, die stellvertretend für viele andere steht: „Definitely, I wanted a camera career. But I wasn’t able to find one.“ (ebd.: 119)
In Deutschland haben es mittlerweile einige Frauen geschafft, sich eine Karriere als Kamerafrau aufzubauen: „Ich freue mich, dass heute ca. zehn Kamerafrauen in Deutschland von ihrem Beruf leben können,“ erklärt Sophie Maintigneux in einem 2014 veröffentlichten Interview und fügt hinzu: „Gleichzeitig bin ich traurig darüber, dass sich die Gleichberechtigung so langsam und zäh durchsetzt. [...] Einerseits weiß ich, dass ich ein Vorbild für viele junge Kamerafrauen bin, auf der anderen Seite muss ich Studentinnen immer noch unglaublich ermutigen.“ (Maintigneux 2014: 344) Maintigneux, die neben ihrer Arbeit als Kamerafrau Dozentin an verschiedenen Filmhochschulen ist und eine Zeitlang als Leiterin der Berliner dffb im Gespräch war, berichtet, dass die Zahl der Kamerabewerberinnen heute in Deutschland bei ca. 15% liegt. Obwohl zahlenmäßig noch ein Ungleichgewicht herrscht, seien die Bedingungen für angehende Kamerafrauen in der Ausbildung und an Filmhochschulen mittlerweile recht gut.
Die wirklichen Probleme fangen nach der Ausbildung an, wie auch Kamerafrau und Regisseurin Elfi Mikesch meint: „In den Filmhochschulen rücken die Kamerafrauen nach. Soweit ich es selbst beobachten konnte, wird auf ein Gleichgewicht in der Aufnahme geachtet. Wenn die Studentinnen die Hochschule verlassen, schiebt sich allerdings sehr oft der Riegel vor. [...] Die Ausbildung grenzt nicht unbedingt aus, das geschieht danach, wenn es um die Besetzung der Stellen geht, und Vorurteile gibt es zu Genüge.“ (Mikesch 2014: 142) Sie spricht weiter von der schwierigen Notwendigkeit, Mentor*innen zu finden, ein Punkt, den auch die österreichische Kamerafrau Christine A. Maier hervorhebt:
„[A]ls junge Frau ist es noch leicht, einen männlichen Mentor zu finden, der dir Wege eröffnet. Doch mit 40, spätestens 50 funktioniert das Mentorensystem für dich als Frau nicht mehr. Männer sind in diesem Alter bereits seit langer Zeit in gut funktionierende Netzwerke eingebunden, die ihre Karrieren befördern. Die Frauen hingegen stehen meistens ohne Netzwerke da und verschwinden deswegen oft genug einfach von der Bildfläche.“ (Maier 2014: 349)
Um das zu verhindern, müssten Frauen eigene Netzwerke bilden, was nicht einfach sei: „Frauen in Entscheidungspositionen haben manchmal nicht genug Selbstbewusstsein, um andere Frauen zu fördern, weil sie Angst davor haben, dann als ‚Feministin‘ abgestempelt zu werden. Frauen müssen die Angst davor verlieren, Netzwerke zu spannen.“ (ebd.: 348)2
Als weiteren Faktor bringt Maintigneux den Konflikt zwischen Beruf und Familie ins Spiel, wobei sie als Französin mit besonderer Schärfe auf deutsche Verhältnisse blickt: „Ich bin immer noch erschrocken, wenn Studentinnen sagen: ‚Ich kann nicht mein Drehbuch schreiben, weil ich auf mein Kind aufpassen muss.‘ Diese verdammt große Angst, eine schlechte Mutter/Frau zu sein, diese bittere Tatsache lässt das kreative Potenzial der Frauen versiegen in einem Lebensabschnitt, der so wichtig ist für ihre berufliche Entfaltung.“ (Maintigneux 2014: 344) In den Aussagen von Maintigneux, Mikesch und Maier wird deutlich, dass die prekäre Lage von Kamerafrauen vor dem Hintergrund der Benachteiligung von Frauen in fast allen Bereichen der Filmproduktion zu sehen ist: „Ich finde in Verlagskatalogen oder bei Festivalprogrammen, auch in den Filmförderungen und bei den Sendern zu wenig Gleichgewicht und frage mich, wer darüber entscheidet. Die Schranken zeigen sich immer noch,“ meint Mikesch und folgert: „Wir brauchen einen kämpferischen Feminismus, der unserer heutigen Zeit entspricht.“ (Mikesch 2014: 142) Und für Meier ist klar: „Wir brauchen eine Quote!“ (Maier 2014: 349) Maier engagiert sich deshalb mittlerweile bei Pro Quote Film und begründet das so: „Ich wehre mich gegen eine starre Einteilung in ‚männlichen Blick‘ und ‚weiblichen Blick‘, aber so lange die Sozialisationen noch so unterschiedlich sind, erzählen Frauen zwangsläufig andere Geschichten als Männer. Unterschiedliche gesellschaftliche Positionen erzeugen unterschiedliche Perspektiven.“ (Maier 2014: 349)
Die viel diskutierte Frage nach einem weiblichem Blick lässt Maier also nur als Effekt gesellschaftlicher Prägung gelten, während sie das Postulat einer genuin und essenziell weiblichen Ästhetik ablehnt. In dieser Sache scheint es vielen der heute tätigen Kamerafrauen ähnlich wie Maier zu gehen; mit der Idee eines weiblichen Blicks können sie wenig anfangen. So argumentiert Natasha Braier, die unter anderem mit Nicolas Winding Refn an THE NEON DEMON (F/USA/UK 2016) gearbeitet hat, dass die Perspektive jeder Kameraperson, ob Mann oder Frau, einzigartig sei:
„I’m not so sure I believe in a ‚female gaze.‘ I believe in the individual gaze. Each person is a unique collection of life experiences. Yes, you could say my gaze has something feminine, for sure, but it also has something from being a South American that emigrated to Europe when I was 18; the influence of having been raised by two Freudian shrinks; of having lived in four different countries and immersed myself in different cultures. My gaze has the experience of living in the jungle with shamans, and it contains traces of every single one of my broken hearts.“ (zit. nach Almonzini 2018: 6)
Maiers und Braiers Infragestellung der Existenz eines weiblichen Blicks und einer genuin weiblichen Ästhetik lesen sich als Echo jener gleichheitsfeministischen Haltung, die Linda Nochlin bereits in den 1970ern Jahren formuliert und vertreten hat: In „Why Have There Been No Great Women Artists?“ verneint sie die „existence of a distinctive and recognizable feminine style, different both in its formal and its expressive qualities“ und betont, dass es keine „subtle essence of femininity“ gibt, die in den Arbeiten von Künstlerinnen zum Ausdruck käme, keinen „quintessentially feminine style.“ (Nochlin 2015: 44ff.) Nochlins ablehnende Haltung ist eindeutig, ebenso klar ist aber auch, dass die Frage nach dem weiblichen Blick in Diskussionen um die Arbeiten von Künstlerinnen, Filmemacherinnen und Kamerafrauen dennoch nicht aufhört herumzuspuken – selbst wenn (oder gerade dort, wo) der Bezug auf einen weiblichen Blick im Modus der Verneinung und Ablehnung stattfindet.
Vor dem Hintergrund dieser paradoxalen Konstellation ist die Position interessant, die die Kamerafrau Kirsten Johnson zum weiblichen Blick formuliert hat; Johnson, die unter anderem mit den Dokumentarfilmemacher*innen Laura Poitras und Michael Moore zusammengearbeitet hat, evoziert den „female gaze“ auf eine Weise, die das Konzept einerseits dekonstruiert, andererseits an Gender als für ihre Kameraarbeit relevantem Kriterium festhält:
„When I look through a camera and record moving images, I have new powers. I am acutely aware that I am in my own very particular body when I film – because of what a physical job it is, because of the way people look at me, because a woman with a camera is still uncommon, because a woman who has the agency a camera brings is still a sight to behold, because I get close to people and sometimes touch them, because I feel when I film, because I am aware of the ways my shortcomings can misrepresent others...The list goes on and remains grounded in the physical act of being present when I film. Sometimes I am gazing, sometimes I am moving, sometimes I am swooning with discovery, always I am searching. This is my ever-evolving female gaze.“ (zit. nach Almonzini 2018: 24)
Johnson nutzt die Frage nach dem weiblichen Blick hier als Gelegenheit, das Konzept des Blicks, samt seiner Implikationen von Immaterialität, Abstraktion und Körperlosigkeit, generell in Frage zu stellen: Hinter der Kamera, so Johnson, steckt kein körperloser Blick, sondern ein filmender Körper, der sich bewegt und spürt und lebt – und als Körper immer auch und zwangsläufig geschlechtlich wahrgenommen wird.
In „Why Have There Been No Great Women Artists?“ hatte Nochlin sich 1971 gegen den Gegenkanon ausgesprochen. Später hat sie diese ablehnende Haltung teilweise revidiert und die Recherche und Neubewertung vernachlässigter Künstlerinnen als valide feministische Strategie anerkannt (vgl. Reilly 2015: 19); darum ging es etwa der Ausstellung Women Artists: 1550–1950, die 1976/77, von Nochlin mitkuratiert, durch große Museen der USA tourte. Weil der Kanon, das Ranking, die Liste weiterhin (und vielleicht heute mehr denn je) Aufmerksamkeitsökonomien beherrschen und Sichtbarkeitseffekte generieren, auf die Kamerafrauen (noch) nicht verzichten können, soll auch an dieser Stelle eine Art Kanon formuliert werden, zumindest eine kleine Auswahl großer Kamerafrauen. Sie besteht aus zwei US-Amerikanerinnen und sieben Französinnen und ist damit radikal subjektiv, sagt aber auch etwas über die Eigenheiten und Bedingungen nationaler Filmkulturen mit ihren spezifischen Geschlechterverhältnissen aus.3
Maryse Alberti hat Todd Haynes’ VELVET GOLDMINE (UK/USA 1998) gefilmt.
Caroline Champetier hat HOLY MOTORS (F 2012) von Leos Carax gefilmt.
Josée Deshaies hat Bertrand Bonellos APOLLONIDE (F 2011) gefilmt.
Agnès Godard hat fast alle Filme von Claire Denis gefilmt: BEAU TRAVAIL (F 1999), L’INTRUS (F 2005) und 35 RHUM (F/D 2008).
Ellen Kuras hat Michel Gondrys ETERNAL SUNSHINE ON A SPOTLESS MIND (USA 2004) gefilmt.
Hélène Louvart hat LES PLAGES D’AGNÈS (F 2008) von Agnès Varda gefilmt.
Babette Mangolte hat Chantal Akermans JEANNE DIELMAN (B/F 1976) gefilmt.
Claire Mathon hat L’INCONNU DU LAC (F 2013) von Alain Guiraudie gefilmt.
Rachel Morrison hat Ryan Cooglers FRUITVALE STATION (USA 2013) und BLACK PANTHERS (USA 2018) gefilmt.
Schauen wir uns eine von ihnen genauer an, eine Kamerafrau, die in den vergangenen Jahren ein breites Œuvre geschaffen und in ihrer Kameraarbeit eine ganz eigene und interessante Handschrift entwickelt hat, wofür sie u.a. mit dem Marburger Kamerapreis 2018 ausgezeichnet wurde: Hélène Louvart. Louvart wurde 1964 in Frankreich geboren und hat von 1983 bis 1985 Kamera an der Filmhochschule ENS Louis-Lumière bei Paris studiert. Seither hat sie als Kamerafrau an über 100 Film- und Fernsehprojekten mitgewirkt, in Frankreich, aber auch im restlichen Europa und in den USA. Im Laufe ihrer Karriere hat sie mit illustren Regisseur*innen zusammengearbeitet, darunter Jacques Doillon, Virginie Despentes oder Larry Clark. Bei dem spielerischen, autobiografischen Essayfilm LES PLAGES D’AGNÈS (F 2008) von Agnès Varda hat Louvart die Kamera geführt, und in Deutschland dürfte vor allem der Dokumentarfilm PINA (D 2011) in der Regie von Wim Wenders bekannt sein, bei dem 3D-Technologie, Louvarts bewegte Kamera und die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer vor der Kamera ein intrikates Zusammenspiel ergeben.
Wie Louvart zur Frage eines weiblichen Blicks steht, dazu sind keine Aussagen von ihr bekannt – und auch hier soll es nicht darum gehen, ihre Arbeit als paradigmatisch und exemplarisch für eine weibliche Kameraästhetik darzustellen als vielmehr darum, einige Charakteristika und Besonderheiten ihres Kameraschaffens herauszuarbeiten und sie als eine der profiliertesten heute aktiven Bildgestalter*innen vorzustellen. In den letzten Jahren hat Louvart vor allem mit einer jüngeren Generation von Regisseurinnen gearbeitet, die alle zwischen 30 und 40 Jahre alt sind: mit der französischen Filmemacherin Héléna Klotz (L’AGE ATOMIQUE, F 2012) und der deutschen Pia Marais (IM ALTER VON ELLEN, D 2010) etwa, mit Eliza Hittman (BEACH RATS, USA 2017) und mit Mia Hansen-Løve (MAYA, F 2018). Die produktivste und mittlerweile schon mehrere Filme umfassende Zusammenarbeit aber verbindet Louvart mit der jungen italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher. Seit deren Debüt CORPO CELESTE (I 2011) hat Louvart alle Rohrwacher-Filme gefilmt, sie alle wurden in Cannes uraufgeführt. LE MERAVIGLIE (I 2014) wurde dort 2014 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Rohrwachers und Louvarts jüngstes gemeinsames Projekt, LAZZARO FELICE (I 2018), galt 2018 vielen Filmkritiker*innen als Favorit des Wettbewerbs und hat den Preis für das beste Drehbuch gewonnen.
Alle drei Filme kreisen um jugendliche Protagonisten und erzählen Geschichten von Befreiung, die leise und unaufdringlich daherkommen – es geht um die Emanzipation von paternalen, wirtschaftlichen oder religiösen Autoritäten und Abhängigkeiten, ein Ringen um Solidarität und Selbstbestimmung. Rohrwachers Filme sind naturalistisch, mit Anklängen an den italienischen Neorealismus, und zeigen gleichzeitig ein Begehren nach Transzendenz. Sie interessieren sich für Formen unverstellter, nicht-institutionalisierter Religiosität und glauben ans Heilige, Wahre und Gute. Das macht sie offen und durchlässig für Wunder aller Art: LAZZARO FELICE, ein Film voller Bibelmotive, kann mit einer handfesten Auferstehung und dem wundersamen Nicht-Altern seines großäugigen Protagonisten aufwarten, aber auch LE MERAVIGLIE – mit dem deutschen Filmtitel LAND DER WUNDER – ist voll segensreich-überraschender Realitätsbrüche. Wunder der Zeit und der Musik sind das, des Lichts und der Schatten, Wunder mit Tieren, Stars und Sternchen. Wobei die Wunder in Rohrwachers Filmen, das ist das Schöne an ihnen und kann selbst hartgesottene Rationalistinnen um den Finger wickeln, oft ganz profan und sinnlich daherkommen, hergestellt nicht mit Special Effects, sondern einfachsten filmischen Mitteln.
Diese Affinität zum Wunder bei ansonsten realistischer Repräsentation und Erzählhaltung hat Rohrwachers Filmen das Etikett „Magischer Realismus“ eingebracht, was eine durchaus treffende Charakterisierung ist. Zu wenig berücksichtigt wird oft, dass dieser Magische Realismus, die diffizile Gratwanderung zwischen dokumentarisch anmutender Abbildung einerseits und Momenten wunderbarer Verzauberung andererseits, nicht nur Effekt von Rohrwachers Drehbüchern, sondern vor allem auch von Louvarts sensibler Kameraführung ist. „She can quarry magic from the quotidian,“ hat ein Filmkritiker Louvarts Fähigkeit beschrieben, Alltägliches so zu filmen, dass dabei ein Mehrwert, ein Überschuss entsteht (Andrews 2017: o.S.) – tatsächlich bildet das Alltägliche, Gewöhnliche, Banale stets den Ausgangspunkt für Louvarts und Rohrwachers Kinowunder. Louvart selbst berichtet, dass sie gerne auch Spielfilme wie Dokumentarfilme dreht (vgl. Louvart zit. nach Willis 2017: o.S.), und ihren Einstellungen ist oft eine vermeintliche „Kunstlosigkeit“ zu eigen, die an Dokumentarfilme erinnert: Nicht „schön“ und nicht stilisiert sind sie, nicht auf ästhetische Überwältigung aus, sondern mittendrin im Geschehen, lebendig, organisch, wie atmend. Die konzeptionelle Arbeit und Gestaltungsleistung, die in die Bilder eingeflossen sind, drängen sich nie in den Vordergrund.
Was Farbe angeht, zum Beispiel: LE MERAVIGLIE hat ein sorgfältig durchdachtes und konsequent umgesetztes Farbkonzept, das aber so unaufdringlich daherkommt, dass es erst nach mehrmaligem und genauem Sehen auffällt. Blau und Gelb sind die Farben dieses Filmes, der in der Toskana spielt, doch nicht als strahlende Primärfarben, sondern abgetönt, angeschmutzt und vielfach variiert: das Blau von Himmel und Meer, das Goldgelb von Erde und Honig stehen neben zitronengelben T-Shirts und türkisblauen Hosen. Ein Komplementärkontrast, der sich als Verweis auf den zentralen Konflikt zwischen Gelsomina und ihrem Vater symbolisch lesen lässt (was wohl auch Rohrwachers Absicht war, vgl. Lucca 2014: o.S.), dem in Louvarts bildgestalterischer Umsetzung jedoch alle symbolische Schwere und übermäßige Allegorisierung – zu denen Rohrwachers Drehbücher gelegentlich durchaus tendieren – abgehen.
Zum Eindruck des Kunstlosen trägt auch bei, dass Louvarts Kamera weniger das Wohlgeformte als vielmehr das Ungeformte und Formlose interessieren. Immer wieder setzt sie Dinge ins Bild, die keinen festen Körper, keine stabile Gestalt haben: wie der Honig, der sich in LE MERAVIGLIE nach einem Missgeschick unerbittlich und zähfließend auf nacktem Kachelboden ausbreitet, oder wie der ausgebüchste Bienenschwarm, der wuselig die Leinwand bevölkert, neben Wolken aus Sand, Staub, Rauch, flüchtig und ephemer. Auch in LAZZARO FELICE gibt es ein wundersames Heugestöber, das sich wie ein Schleier über die Szenerie legt und ein feines Flirren im Bild installiert.
Besonders gut zur Geltung kommt das Flirrend-Formlose dank eines Filmmaterials, das seinerseits für Kunstlosigkeit steht, für Low-Budget-Produktionen und Amateurarbeiten: Alle drei Rohrwacher-Louvart-Kollaborationen sind auf analogem 16mm-Schmalfilm gedreht. Louvart lässt die „Nachteile“ des Materials – seine geringere Auflösung, das gröbere Korn – als ästhetische Gestaltungsmittel wirksam werden, die zu der naturalistischen, organischen und warmen Anmutung der Filme beitragen. Das 16mm-Format steht dabei auch in bewusster Spannung zur Gegenwart digitaler Filmproduktion, seine weiche Unschärfe ist das Gegenteil von High-Definition.4
Doch Louvarts Rückgriff auf das analoge Schmalfilmformat ist mehr als nostalgische Geste: Dem Anachronismus des Materials korrespondieren komplex gebaute Zeitdramaturgien. Stets spielen Rohrwachers Drehbücher in seltsam unterbestimmten Zeiträumen, in denen Vergangenheit und Gegenwart nicht eindeutig voneinander abzugrenzen sind, und zeigen Gemeinschaften, die aus der Zeit gefallen scheinen. Das gilt für Gelsominas Familie in LE MERAVIGLIE, deren agrarische Subsistenzwirtschaft den Anarchismus und Antimaterialismus von 70er-Jahre-Kommunen aufruft, und erst recht für die isoliert lebende Dorfgemeinschaft in LAZZARO FELICE: Sie hat nicht mitbekommen, dass Feudalismus und Lehnsherrschaft in Italien längst abgeschafft sind und schuftet weiterhin wie Leibeigene. Lazzaro selbst ist insofern eine aus der Zeit gefallene Figur, als er einfach nicht altert – eines der Wunder des Films. Beide Filme kreieren überdies, mittels diskontinuierlicher Plansequenzen in LE MERAVIGLIE und falscher Anschlüsse in LAZZARO FELICE, Zeitbilder, in denen lineare und chronologische Zeit sich auflöst in der Ununterscheidbarkeit von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Realem und Imaginärem (vgl. Deleuze 1997: 112), und in denen die Koexistenz unterschiedlicher Vergangenheitsschichten und die Gleichzeitigkeit verschiedener Gegenwarten anschaulich wird (vgl. Deleuze 1997: 133ff). Dasselbe vollbringt das 16mm-Format auf der Ebene des Filmmaterials.
Nicht zuletzt erweist sich der Magische Realismus von Rohrwachers Filmen als Sache der Lichtspiele, die Louvart inszeniert und ins Bild setzt. Insbesondere für LE MERAVIGLIE gilt, dass Momente des Wunderbaren, in denen die Routinen des Alltags unterbrochen und transzendiert werden, stets Momente des Lichtspiels sind: etwa wenn Gelsomina einen Lichtfleck auf dem Boden der Scheune beobachtet; wenn sie ihrer kleinen Schwester befiehlt, einen durch das Gebälks fallenden Lichtstrahl zu „trinken“; oder wenn ein Lagerfeuer Schatten über die Wand einer Höhle tanzen lässt. Das Licht zählt zu den sinnlichen-übersinnlichen Wundern, von denen LE MERAVIGLIE erzählt, und auch in LAZZARO FELICE sind es Lichtereignisse – ein rotes Leuchten am Horizont, ein Jump Cut mit Mond –, die dem Wunder der Befreiung, der Auferstehung vorangehen. Louvarts Lichtspiele sind auffällig und ausdrucksstark, gleichzeitig aber ganz in der Realität und Diegese der Filme verankert und aus ihr heraus motiviert: Autoscheinwerfer, Taschenlampen, Glühbirnen oder eben der Mond haben ihren Auftritt in Szenen, in denen Licht nicht nur indirekt eine Rolle spielt, als Beleuchtung, die Dinge sichtbar machen soll, sondern in denen es selbst sichtbar und gegenständlich wird. Hier spielt Licht eine Hauptrolle und wird zum Ereignis.
Die magisch-realistischen Filme von Rohrwacher und Louvart begreifen Kino damit im wortwörtlichen Sinne als Licht-Spiel und Licht-Kunst, und sie machen das in geradezu programmatischer Weise bereits in ihren Anfangssequenzen anschaulich. Sowohl LE MERAVIGLIE als LAZZARO FELICE beginnen mit Dunkelheit, fast vollständigem Schwarz, in dem minutenlang nichts zu erkennen ist – bis langsam, ganz allmählich ein Autoscheinwerfer, eine Glühbirne die Szenerie illuminieren. Dramatisiert wird der Prozess, in dem die Welt des Films in allmählicher Annäherung aus dem Dunkel herausgeschält wird. Es werde Licht, das Drama beginnt; jeder Film ist eine Schöpfung und Hélène Louvart eine Meisterin des Lichts.
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