Ansprache, Affekte und die Konstitution von feministischen Kollektiven in LONG STORY SHORT und YOURS IN SISTERHOOD
Die Neuverhandlung von Feminismen ist seit einigen Jahren ein sehr aktuelles Anliegen, die auch im Medium des (Post-)Kinematografischen ausgetragen wird. Die Fragen nach der Inklusion des feministischen Projekts stellen sich international dringender durch seine Bedrohung und/oder Aneignung durch rechte Bewegungen – und greifen aktuell auch auf Formfragen über.
So haben wir in den letzten Jahren zahlreiche Ausspielungen von Feminismus gegen Antirassismus erlebt, die Sabine Hark und Paula Villa für den deutschsprachigen Raum insbesondere im Anschluss an die Kölner Silvesternacht 2016/17 als „toxischen Feminismus“ beschrieben haben (Hark/Villa 2017). In verschiedenen europäischen Ländern mobilisieren rechte Gruppen und Parteien gegen Geflüchtete und Muslime unter Bezugnahme auf die angeblich westlichen fortschrittlichen Errungenschaften des Feminismus, die man bedroht sieht. Bereits im Kolonialismus wurde der Schutz „eigener“ und „fremder“ Frauen* als Errungenschaften des Westens gefeiert und gezielt eingesetzt, um Zugriff auf lokale Bevölkerungen zu haben. Die Kritik am Feminismus als dominant weiß und bürgerlich wird dabei bereits seit einigen Dekaden diskutiert. In den letzten Jahren jedoch eignen sich neokonservative, rechte und xenophobe Organisationen einen Feminismus an, der gleichzeitig Gender Studies verachtet und sich als Strategie der völkischen Aufwertung von Frauen* einer positiven Bezugnahme auf Weiblichkeit bedient. Wir erleben eine in sich heterogene Zeit, in der es zugleich #metoo, aber auch einen Backlash bezüglich eines nicht binären Geschlechterdenkens gibt. In den USA ereignet sich dabei momentan eine Repolitisierung gegen die Regierung Trump und den Abbau von Rechten von Frauen*, Migrant*innen und Trans*personen. Es scheint dabei wieder sehr aktuell zu sein, sich mit der Frage medialer Differenzen im Feminismus auseinanderzusetzen. Die von mir hier besprochenen Arbeiten aus den USA fragen danach, wie Differenzen im Medium Film erzeugt werden. Sie beteiligen sich filmisch und philosophisch, vor allem aber in der Herausarbeitung einer Genealogie der wichtigen Themen von Feminismus an einer auf positive Weise nicht stillstellbaren Debatte.
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit zwei jüngeren dokumentarischen US-amerikanischen Arbeiten, in denen Frauen* jeweils direkt in die Kamera das Publikum adressieren, dabei ihre Biografie teilen und auf diese Weise politisieren: LONG STORY SHORT(2016) von Natalie Bookchin und YOURS IN SISTERHOOD(2018) von Irene Lusztig. In beiden wird die Frage der Differenzen und jene eng damit verbundene des Kollektiven ästhetisch verhandelt. Beide Arbeiten erforschen auf kollaborative Weise Biografien, die von Wohnungslosigkeit, Gewalt und der Verweigerung von Intelligibilität geprägt sind. Bookchin und Lusztig setzen Differenzen – u.a. race, class, Begehren und Gender – miteinander in Beziehung und nutzen ihre Filme, um ein heterogenes und unabgeschlossenes Stimmkollektiv zu konstituieren.
Beide Arbeiten lassen sich in postkinematografische Diskurse einordnen, die ihre nicht nur filmische, sondern auch mögliche installative Form und ihre mediale Selbstreflexivität entscheidend prägen. Beide Arbeiten können sowohl als Film als auch als Installation gezeigt werden. Typisch für den installativen Charakter beider Arbeiten sind z.B. die sich seriell wiederholenden Elemente, die auch einzeln ohne narrativen Gesamtbogen rezipiert werden können. Sie entfalten eine Rhythmizität (die Interviews im Falle von LONG STORY SHORT) und formalisierte Abläufe (das Verlesen des Briefes in YOURS IN SISTERHOOD), die als Wiederholungen verstehbar sind, die Differenz nicht einebnen, sondern regelrecht intensivieren und „dramatisieren“ (Deleuze 2007: 271–280, 2003a).
Beide hier besprochenen Arbeiten verhandeln im Medium des Films (und des Installativen) die Frage des Persönlichen entlang der Politisierung von Erfahrungen von Lebenswelten. Ausgehend von Erfahrungen werden mediale Gefüge konstituiert, die in das Feld feministischer Kollektive intervenieren und ästhetisch die Frage exponieren, wie sich Differenzen versammeln lassen, ohne dass sie eingeebnet werden. In Bookchins Arbeit geht es um die Politisierung von Armut und Mittellosigkeit, die im neoliberalen Diskurs als Selbstverschulden gilt; dass dabei in medialer Form über die Beziehung von Individuum und Kollektiv nachgedacht wird, ist kein Zufall, ist doch das neoliberale Subjekt Agentur einer Entsolidarisierung der Vielen gerade auf wirtschaftlicher Ebene. In Lusztigs Arbeit wird ein wiederholter formaler Aufbau zu einer dialogischen Form, in der Feminismus als politisches Projekt auf eine nichtlineare Zeitlichkeit nicht nur der Gegenwart, sondern der Zukunft geöffnet wird. Beide Künstlerinnen beschäftigen sich mit der Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv, eingespannt oder eingeprägt in eine filmische Arbeit, die auf spezifische Weise Öffentlichkeit herstellt. Die so konstituierten sprechenden Kollektive lassen sich theoretisch als filmische Trans/Individuationen (Simondon 1989/2007, Combes 2013) weiterdenken, die eine feministische Methodik entwickeln.
In Natalie Bookchins Film und Installation LONG STORY SHORT (2016) informieren Betroffene über ihre von Obdachlosigkeit geprägten Leben in der kalifornischen Bay Area. Bookchin hat 2011 und 2012, inmitten der Rezession, über 100 Interviews in Obdachlosenunterkünften und Bildungseinrichtungen geführt, die – als Video Testimonials montiert – wirken, als ob man mit den betroffenen Personen skypen würde. Dabei werden alternierend nacheinander und nebeneinander in Reihe oder übereinander halbnahe Gesichter von Interviewten montiert. Ihre Aussagen werden teilweise akustisch überlagernd gezeigt, dazu werden dann auch mehrere Gesichter eingeblendet.
Die frontal in die Kamera sprechenden Akteur*innen werden in der Arbeit als Expert*innen ihrer Lebensumstände gefragt. Bookchin versetzt sie in die Lage von Forscher*innen, die Ursachen, aber auch Lösungen zu beschreiben vermögen – anstatt Objekte der Forschung zu sein, z.B. in dem sie fragt: „What does the general public need to know about poverty?“.
Die Antworten von einzelnen Teilnehmenden der Film-Studie auf die Fragen werden akustisch und durch die synchrone Montage des Splittscreens hervorgehoben, die eben das Singuläre der Biografie in einem allgemeineren sozialen Kontext lesbar werden lässt: Herkunft, Bildungschancen, Gentrifizierung etc. sind strukturelle Momente, die nicht im Eigenverschulden des Individuums liegen und die die verbreitete Lesart des für Mittellosigkeit selbst verantwortlichen Individuums als Kerngedanken neoliberaler Gouvernementalität enttarnen. Die retardierende Erzählung von Armut als individuellem Versagen trägt nicht nur zur Exklusion bei, sondern unterfüttert den Diskurs, man könne der Obdachlosigkeit entkommen, würde man sich nur anstrengen – dem typischen victim blaming. Bookchins Arbeit verbildlicht hingegen, wie das Phänomen der Wohnungslosigkeit weite Schichten der Bevölkerung erfasst hat und wie gering die Chancen sind, dieser Situation wieder zu entkommen. Die soziale Apartheit durch räumliche und Bildungssegregation erscheint als Gegenerzählung auf jene eines selbstverantwortlichen Subjekts im Sinne eines Self-Made-Man, wie sie im Selbstverständnis der USA (und natürlich auch anderswo in der westlich-kapitalistischen Welt) zu finden ist.
Die Synchronisierung der Stimmen über thematische und wortgleiche Elemente, die die Arbeit so dominant charakterisiert, ist kein Mittel der Gleichschaltung, sondern erzeugt Muster, die sowohl den Erfahrungsschatz als auch die Hintergründe der Mittellosigkeit betreffen. Dies sind etwa Aussagen, dass Obdachlosigkeit derart aufwendig ist, dass man sie mit einem Fulltime-Job vergleichen könne. Der weitere biografische Hintergrund wird durch zahlreiche Variationen der Themen Drogen, Gangs, Nachbarschaften, in denen kein Aufstieg möglich, keine Förderung erfahren wird, vorgestellt. Aber auch eine mangelnde Mietpreispolitik, die dazu führt, dass Menschen den Großteil ihres Einkommens für Miete aufwenden müssen und bei Jobverlust schnell Wohnungslosigkeit droht, gehört zu den wiederholt angeführten Gründen.
Die Synchronisierung betrifft übereinstimmende Begriffe – no money to buy necessities, drugs, minimum wage, harassment by the police –, oder Synonyme, die versetzt montiert werden und ineinander wiederhallen. Sie bilden Koronen oder Echos voneinander, variieren Begriffe oder Wendungen und ordnen Erzählungen wie thematisch geclustert an: verhinderte Partizipation, sich nicht wie eine Bürger*in fühlen können, die Alltagsbewältigung in der Obdachlosigkeit, im Auto schlafen, die Bildungsabschlüsse, die einem nichts genutzt haben, Herkunftsmilieu.1
Parallel zur akustischen Betonung durch Sätze oder Begriffe, die überlagert und akustisch in den Vordergrund gesetzt werden, sind es die Einzelbilder der Splitscreens, die hervorgehoben werden. Die Vergrößerung einzelner Sprecher*innen ist dem optischen Design eines Skype-Gruppenanrufs nachempfunden, bei dem die Sprechenden auch in den Vordergrund rücken oder einzelne aus dem Bild fallen, wenn zu viele Teilnehmerinnen dazu geschaltet werden.2 Durch die alternierende Betonung werden Sätze durch mehrere Personen anteilig gesprochen, wenn diese einzelne Worte oder Satzteile daraus für ihr Statement verwendet haben. Es werden jedoch keine Sätze konstruiert, die nicht auch im Interview gesagt wurden. Einzelne Begriffe werden vielmehr chorisch verstärkt, um den Wiederholungsaspekt zu unterstreichen. Ein Satz kann so von mehreren Personen zugleich anteilig, überlappend oder komplett synchron gesprochen werden.
Bookchin geht es aber nicht darum, die Personen zu entindividualisieren, indem sie sie im Chor aufsagen lässt, was bekannt ist. Im Gegenteil: Ihr Montageverfahren lässt Stimmen nicht im Chor aufgehen, vielmehr artikulieren diese den individuellen Werdegang der Protagonist*innen. Laut Bookchin bewegen sie sich zwischen „individual and collective narrations, between instances of sameness and difference“ und artikulieren dadurch eine „complex relationship between individual and collective identities“ (Bookchin/Arden 2016, o.S.).
In dieser „singulär-pluralen“ Ansprache des Chors, wie man es mit einem Ausdruck Jean-Luc Nancys (2004) nennen könnte, verschwimmt die Einzelne nicht. Ihr Akt der Artikulation wird vielmehr sichtbar/hörbar als immer schon – auch inhaltlich – durch soziale Faktoren determiniert. Es ist ein Anliegen der Arbeit (und generell ihrer Arbeiten), gerade nicht die Trennung in Individuum und Gesellschaft aufrecht zu erhalten.Vielmehr soll in ihren Arbeiten generell die gegenseitige Durchdringung beider Sphären sichtbar gemacht werden: „Although their experiences are shown to be collective – even the language they choose to describe their situation is similar – they aren’t reduced to an abstraction […]“ (Bookchin/Stimson 2011: o.S.).
Dieses soziologische Thema – Objektivierung und Subjektivierung – wird hier nicht ästhetisiert, es wurde vielmehr als genuin künstlerisches Problem erkannt und in einem künstlerischen Denken bearbeitet, welches Formen des Ausdrucks politisiert. Bookchin transformiert die Frage von individueller und kollektiver Artikulation zu einem Moment des Rhythmischen und Stimmlichen in der Bewegung zwischen persönlichem und kollektivem „Aussagegefüge“ (Guattari 2013: 17).
Das Medium Film bzw. Installation zeigt sich als Forschungsapparat, der aus der Sozialität des Seins eine Evidenz erzeugt, die immer wieder in der Markierung von Schlagworten und Ursachen exponiert wird. Der Blick wird durch die visuelle und akustische Hervorhebung über die Splitscreens bewegt, sodass die Interviews – an sich ja eine soziologische Untersuchungsform – als Bewegung zwischen dem Individuum und Kollektiv erscheinen, ohne eine der beiden Formen zu privilegieren.
Bookchins Arbeit ist inhaltlich keine rein feministische Arbeit. Sie macht zwar deutlich, dass Wohnungslosigkeit ein gegendertes Problem ist – und eines des strukturellen Rassismus in den USA –, es ist aber die formale Gestaltung, die Schaffung einer Öffentlichkeit durch die im Splitscreen angeordneten Talking Heads, die ein mit dem Feminismus koextensives Problem behandelt: die Politisierung des Persönlichen als Verhandlung von Differenzen und damit die Frage der Handlungsmacht des aus ihm emergierenden und es konstituierenden Kollektivs.
Bookchin geht es um die Perspektiven derjenigen, die Ursachen und Lösungen der Armut kennen, die diese zwar als Subjekte erleiden, jedoch nicht zu Wort kommen – noch weniger als Menschen mit einer Geschichte und einem Gesicht. Die Entpersönlichung von Armut wird von Statistiken – die wichtig für die Markierung der Reichweite des Problems sind – tendenziell eher wiederholt als aufgehoben. Bookchin arbeitet also einerseits gegen die Individualisierung, andererseits gegen die Entpersönlichung an, und drittens gegen ein skandalisiertes Interesse an persönlichen Armutsgeschichten – „poverty porn“ (Bookchin/Arden 2016: o.S.).
Zentral für LONG STORY SHORT ist ebenfalls, dass Dialoge und Responsivität zwischen Stimmen und Artikulationen einerseits on screen, zwischen den Stimmen, und andererseits zwischen Screen und Zuschauer*in erzeugt werden. Diese Responsivität durch die Form der videografierten Ansprache ist augenscheinlich durch Montage erzeugt. Diese gibt sich als solche zu erkennen und konstruiert so ganz bewusst einen medialen Chor. Dies ist keine reine Fiktionalisierung, im Ausstellen dieser Geste liegt das Bewusstsein, dass es z.B. den Film als eine Forschungsapparatur braucht, nicht nur, um Öffentlichkeit zu konstituieren, sondern auch als technische Existenzweise, um eine darin eingefasste Gleichzeitigkeit des individuellen und des kollektiven Werdens zu konstruieren. Die Medialität ist also keine Subtraktion der Wirklichkeit, vielmehr beschreibt sie sich als Existenzweise: Das mediale Kollektiv und das Filmische verbinden sich hier zu einem Gefüge aus „Fürsprecher*innen“ (Deleuze 1993), die für sich wie auch für den Film sprechen, der für sie wiederum spricht: eine serielle Artikulation. Auch Blake Stimson erkennt einen medial-performativen Akt in der Arbeit, die sich nicht nur abbildend versteht, sondern eine Trans/Individuation als Bewegung aktualisiert: „Not only revelation of social facts, but also an enactment or realization of sociality itself“ (Bookchin/Stimson 2011: o.S.).
Dieses filmische Nachdenken über Differenz erscheint mir noch etwas stärker in YOURS IN SISTERHOOD behandelt und führt von der Individualisierung zur Frage der Individuation, wie sie Gilbert Simondon umtrieb.
Während Bookchin nach eigener Aussage ein „Archiv [von Interviewaussagen, J.B.] erschaffen will“ (Bookchin/Arden 2016: o.S.), ist Lusztigs Arbeit als Auseinandersetzung mit einem bereits bestehenden Archiv entstanden – einem Archiv von Leserinnenbriefen. Die ebenfalls dokumentarische Arbeit YOURS IN SISTERHOOD (2018) von Lusztig greift analog zu Bookchins Vorgehen das Konzept des direkten Blicks in die Kamera auf, um biografisch geprägte Erzählungen zu generieren: Lusztig reiste zwei Jahre durch die USA und suchte Frauen* auf, die in den 1970er Jahren Leserinnenbriefe an die US-amerikanische (bürgerlich-feministische) Zeitschrift Ms.Magazine geschrieben haben. Die überwiegende Mehrzahl der Briefe wurde nie gedruckt und wartet im Archiv auf ihre Leser*in. Lusztig bittet Frauen*, diese Briefe über 40 Jahre später in die Kamera gewandt vorzulesen – allerdings nur in vier Fällen jene, die diese selbst geschrieben haben. Sie werden von Frauen* aus dem Ort gelesen, von wo diese abgeschickt wurden und auf Basis der Kenntnis der lokalen Verhältnisse durch ihre Leser*innen zwischen 2016 und 2018 neu interpretiert: Z.T. sind diese 13 Jahre alt, z.T. über 70.3 Alle Vorleserinnen setzen sich durch die Briefe mit ihren Schreiber*innen in Beziehung und konstituieren Dialoge über Zeit und Raum hinweg, indem sie ihre Gedanken zu den Briefen und zu Feminismus teilen.
Die tausenden im Archiv lagernden Briefe formulieren (kritische) Kommentare zu Artikeln, drücken ihre Solidarität aus, schreiben über ihre repressive Lebenssituation, ihre alltäglichen Kämpfe und ihre Begehren. Diese z.T. ernste, z.T. auch erheiternde und vor allem politische (Zeit-)Reise durch die aktuellen USA und die Archive des Feminismus der 1970er Jahre dekonstruiert hegemoniale Lesarten eines weißen, heterosexuellen Mittelstandsfeminismus wie Ms. sie repräsentierte, und porträtiert Frauen* und Transgenderpersonen, deren Lebenswelt einerseits von Misogynie, Homo- und Transphobie sowie Rassismus, andererseits vom Widerstand und einer neuen Welle der Politisierung nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten geprägt ist.
Die Methode des Reenactments im Lesen und noch viel mehr die Kommentare der Frau*en zeigen, wie aktuell feministische Themen der Zweiten Welle aus den 1970er Jahre immer noch sind, porträtiert aber auch neue Allianzen und Ausschlüsse (von) (einer) nicht linear zu erzählenden dialogischen Geschichte(n) des Feminismus. Sie lässt sich so als radikale Infragestellung der Schutzbehauptung verstehen, dass sich in westlichen Gesellschaften eine immer weitergehende Emanzipation konstatieren ließe, die alle inkludiert und gleichermaßen befreit. Sie widerspricht auch der Indienstnahme des Feminismus für das eurozentrische und koloniale Projekt einer linearen Fortschrittlichkeitserzählung, einer Chronopolitik des ‚modernen Westens‘.
Lusztigs Film ist jedoch nicht nur eine Intervention in ein Archiv, sondern auch eine logistische Rechercheaufgabe: Mithilfe von Freiwilligen, von Bekannten sowie Freundinnen von Freundinnen entstand ein landesweites Netzwerk, um Frauen* zu finden, die die Briefe zu verlesen und zu kommentieren bereit waren. Dieses Netzwerk anlässlich des Films hat einen Eigenwert: eine performative, filmische Infrastruktur zu errichten, die neue Beziehungen produziert – nicht nur in der spekulativen Bezugnahme zu anderen Frauen*, sondern auch zu sich selbst.
Die Rechercheaufgabe ist deshalb so komplex, da sie Frauen* mit ähnlichen Lebenssituationen aus dem gleichen Ort vor der Kamera versammelt. Diese Ähnlichkeit führt nicht automatisch zu einem Übereinstimmen: „It wasn't always about matching people exactly, but about creating some kind of resonance, or even some sort of conflict“ (Lusztig/Lazig 2018: o.S.). Der genannte Konflikt kann sich durchaus auch als verletzende sprachliche Anrufung gestalten: Eine Woman of color fühlt sich extrem unwohl beim Lesen eines Briefes. Der Brief handelt von einer Frau*, die sich nach dem Besuch eines Kongresses von und für Frauen* mehr Einheit und eine Konzentration auf die „Kernprobleme“ des Feminismus wünscht. Die Vorleserin empfindet dies als Missachtung ihrer Lebenssituation, in der sie als schwarze Frau* existenzieller Oppression ausgesetzt ist, die die höchstwahrscheinlich weiße Frau* in ihrem Appell sprachlich als Nebenschauplatz markiert. Eine weitere Afroamerikanerin diskutiert einen Brief, der anprangert, wie ein Artikel die Arbeitslosigkeit eines Schwarzen ausschlachtet und damit die typische Stereotypie entlang von Erwerbsarbeit reproduziert – „an insult to black family life“, wie dies die Schreiberin ausdrückt. Ihr Kommentar bezieht sich auf die psychosoziale Konstitution afroamerikanischer Männer in den 1970er Jahren, in der Post-Jim-Crow-Ära, die ein Verständnis dessen vermissen lässt, was es heißt, wenn die Familie nicht selbstständig ernährt werden kann – was sich gerade in der doppelten (wenn nicht dreifachen, wirtschaftlichen) Unterdrückung afroamerikanischer Männer artikuliert und sich in die Schreibweise des Artikels hinein verlängert, der eine weiße Sichtweise reproduziert.
Ähnlich werden immer wieder die Ausschlüsse des Feminismus verhandelt und das „Subjekt des Feminismus“ (Butler 1991) wird als homogenes infrage gestellt. Butler argumentierte bekanntlich Anfang der 1990er Jahre, dass wenn ein starkes Subjekt die Basis für feministische Kämpfe sei, dieses Subjekt erst recht Ausschlüsse produziert, gegen die der Feminismus gerichtet sei. Gender Trouble war eine Intervention in die Konstitution eines Subjekts des Feminismus, welches sich gegenüber anderen Differenzen abschottet und auf die Basis der Weiblichkeit beruft. Es ist kein Zufall, dass die Kritik und Selbstkritik, die den weißen Mittelschichtsfeminismus begleitet hat, in Lusztigs Arbeit so stark exponiert wird. Hier wird die „Kategorie“ Frau*, die der Feminismus als Bezugspunkt konstituiert, hinterfragt. Teresa de Lauretis (1985) hatte dies mit der Kategorie women statt Woman beschrieben und damit eine grundlegende Aufgabe des feministischen Films herausgearbeitet: die Lebensrealität von Frauen* nur im Plural zu inszenieren, weil das zentrale Charakteristikum des narrativen illusorischen Films die Konstitution von Frau* als homogenes Bild sei.
Im Verlesen und sich in Beziehung setzen, eröffnet Lusztig nicht nur einen Dialog, sondern auch eine Dramatisierung unauflösbarer Heterogenität von Frau* sein und Feminismen*, bis hin zur Paradoxie, die sich nicht zu einem Gesamtpuzzle vervollständigen lässt. Sie wirft damit die Frage auf, wie man in Zeiten des neu aufbrandenden Antifeminismus, des akademisch werdenden und sich im Alltag verbreitenden Antigenderismus Räumefür diese dringend benötigten Dialoge zwischen Generationen, Gruppen, Orten, Frauen*, Feminismen* schafft – ja, sie versteht den Dissens als konstitutives Moment des Dialogs (Rancière 2002/2011), der einer Öffentlichkeit entbehrt, die sozial-homogene Räume aufbrechen könnte. Ganz offensichtlich begreift Lusztig dabei das Medium Film als klassische Mobilisierung dieser Öffentlichkeit. In der Verwendung der sich different wiederholenden Exponierung vor der Kamera werden Erfahrungen von Macht und Gewalt in einem formalistischen Setting hörbar gemacht. Es wird deutlich, um den Preis welcher Ausschlüsse sich der Mainstream des Feminismus konstituieren konnte, der auch heute wieder für Projekte des Ausschlusses (#notmyfeminism) mobilisiert werden kann. Konservative Feminismen etwa, wie sie in dem Film Anklang finden, lösen womöglich Unbehagen aus – Probleme wie das Tragen von Waffen aus feministischen Gründen sind europäischen Rezipient*innen etwa fremd. Eine First Nation Frau* klagt diese Stigmatisierung der Waffe wiederum an, da für sie im Jagen eine kulturelle Praxis ausgeübt wird, die für ihre Lebensweise zentral ist und die sie gegen die weiße Zerstörung ihrer Lebensweise verteidigt. Hier soll keinem Relativismus das Wort geredet werden, eher doch ist es erstaunlich, wie viele Lesarten von Emanzipation existieren. Christliche Lesarten etwa, die der These widersprechen wollen, dass sich der Glaube an das (patriarchalische) Prinzip der Kirchen nicht mit der Selbstbestimmung über den eigenen Körper verbinden ließe.
Eine Frau* namens Yvonne, die sich selbst als Mountainwoman bezeichnet, liest vor ihrer selbstgebauten Hütte ihren eigenen, 40 Jahre alten Brief. Die Hütte baute sie mit 19, als sie den Brief an die Redaktion schickte. Diese antwortete und es entstand ein Briefwechsel, der der Frau* emotional half, ihr einsames Projekt in Montana durchzuführen und ihre Berghütte zu bauen, in der sie seither lebt. Eine andere Frau* im Staat New York liest ebenfalls ihren Brief nach über 40 Jahren zum ersten Mal wieder, den sie mit 16 über ihr Coming-out geschrieben hat und berichtet über ihr Leben, ihre Familie und ihre zwei Kinder. Auch sie bezieht sich auf ein früheres Ich, welches, mit Rimbaud gesprochen, (nun) eine andere ist.
Eine 13-jährige Jugendliche kommt ins Grübeln, wenn sie den Brief einer Leserin verliest, die die visuelle Mise en Scène von Zeitschriften und Modeindustrie der 1970er Jahre als Zumutung für ein aufgeklärtes und selbstbestimmtes Bild von sich und ihrem Körper versteht – die 13-Jährige empfindet es heute in ihrem Freundinnenkreis als nicht viel anders, wenn es um das den medialen Normen entsprechende Körperbild geht und das Bearbeiten und Disziplinieren des eigenen Körpers, um einem Idealbild zu entsprechen: „Is there anything you could relate to in the letter?“ fragt Lusztig. Sie antwortet: „It opens you the eyes to read something like that. Because you realize it hasn’t completely disappeared at all. They want to be a sister of freedom but they can’t. Because they have this self-image, torn to pieces.“
Es gibt in YOURS IN SISTERHOOD auch Ausschlüsse, die unthematisiert bleiben. Und diese spielten im islamophob geprägten Klima weiter Teile der USA auch schon vor der Wahl Trumps eine wichtige Rolle in feministischen Diskussionen und in der Mobilisierung von Koalitionen, gerade auch, was den Queerfeminismus angeht. So werden unter den Vorleser*innen keine Frauen* im Hijab gezeigt. Wahrscheinlich hat Lusztig dies nicht bewusst bei der Auswahl der Briefe ausgespart. Da sie aber auch von einer männlich identifizierten Transgenderperson den Brief von einer Frau* vorlesen lässt, die über gegen sie gerichtete Homophobie schreibt, streut sie bewusst Differenzen in der Erfahrungswelt ein, die sich vermutlich in den 1970er Jahren so nicht aus den Briefen herausfinden ließen. Diese Methode findet aber keine Anwendung in Bezug auf muslimisch geprägte Feminismen. So zentral das Anliegen erscheint, zu zeigen, dass sich bestimmte Themen im Feminismus wiederholen und nicht in eine Fortschrittserzählung einbinden lassen, so werden doch auch neue Konfliktpunkte offenbar, die momentan gerade auch in Europa zu Spaltungen großer feministischer NGOs geführt haben. Diese Positionen werden aktuell von rechts vereinnahmt.4
Und natürlich ist sich Lusztig dessen bewusst, dass auch sie eine Auswahl getroffen hat, nicht nur, was die Briefe aus dem Archiv angeht, sondern auch in Bezug auf die Sprecher*innen (Lusztig/Leger 2018: o.S.). Es geht aber, das sei hinzugefügt, bei dem Projekt nicht um eine Bestandsaufnahme im Sinne einer ethnografischen Erkundung, die den ganzen Feminismus mit allen möglichen kombinatorischen Möglichkeiten gleichsam soziologisch ausstellen will. Vielmehr wird eine Form gefunden, Friktionen Ausdruck zu verleihen und dieser Ausdruck an sich ist in seiner medial-menschlichen Gefüge-Natur politisch: eine filmische Trans/Individuation.
Die Verhandlung von Differenz ist nicht nur das, was wir sehen und hören, d.h. der aktuelle Ausdruck von Differenz on screen. Die Affirmation der Differenzierung findet im Zwischen von Zeiten und Räumen statt, dort, wo die Differenz sich als zeiträumliches Milieu der noch nicht geformten Differenzen artikuliert: Es ist dies ein Ausdruck der Individuation, eine Weise des Werdens, die Gilbert Simondon Ontogenese nennt. Indem Vergangenheit und Gegenwart als Problemfeld („problematisches System“) konstituiert werden, lässt sich diese auf eine mögliche Zukunft öffnen.
In Simondons Theorie der Individuation ist das Individuum immer mit einem Potenzial aufgeladen, welches in einem Verhältnis des Exzesses zu seiner aktuellen Konstitution steht. Es ist „always more than one“ (Manning 2013) – immer in Differenz zu sich, nicht nur zu anderen. Es ist weniger Identität, Übereinstimmung mit sich, als vielmehr eine Phase im Phasieren, im Prozess der Individuation. Als solche bildet das Individuum immer ein Sprungbrett weiterer Prozesse seiner internen Differenzierung. Jenseits von Stabilität und Instabilität siedelt Simondon diese Phase der Metastabilität an, die als solche nur stabil ist, als sie weitere Prozesse basierend auf ihrer internen Problematik ermöglicht (Simondon 2007: 33). In L’individuation psychique et collective (1989/2007) fordert Simondon, dass man in der Betrachtung der Prozesse der Individuation nicht mit dem Individuum beginnen oder enden solle. Als Ursprung oder Ziel bildet das Individuum ein Modell, um den Prozess der Individuation zu denken (Simondon 2007: 30f.). Dabei klammert man den Prozess selbst aus, denkt ihn als Werden des Individuums, also als bereits auf ein Ziel gerichtet, und nicht als Individuation. Seine Technikkritik ist in diesem Sinne formuliert: Die Evolution dieser ist keine Abbildung des menschlichen Geistes, sondern eine komplexe Dynamik der Anpassung, eines maschinischen Denkens, welches keinesfalls einfach instrumentell zu verstehen ist (Simondon 2012: 50–56). Obwohl Simondon dem Denken der Maschine eine Fremdheit und damit eine Unabhängigkeit vom Menschen konstatiert, soll hier in der Logik des Gefüges das durchaus disparate und heterogene Zusammenwirken beider Sphären, der menschlichen und der maschinischen Co-Individuation, als filmische Trans/Individuation zusammengedacht werden.
Elizabeth Grosz sieht für den Feminismus großes Potenzial in Simondons Theorie der Individuation:5 Indem sie vorschlägt Individuation als Prozess statt Identität zu denken, lässt sich auch eine Kritik der Repräsentation als Grundlage politischen Handelns formulieren (Grosz 2012: 53). Ohne Repräsentationskritik als Methodologie infrage zu stellen, lässt sich YOURS IN SISTERHOOD noch etwas abweichend von diesem Paradigma verstehen: nicht als Repräsentationskritik allein, wie es offensichtlich erscheint, indem marginalisierte Stimmen eine Öffentlichkeit bekommen, sondern als ein performativer Ausdruck der Individuation, die als Prozess der Aufführung ihrer selbst fungiert.
Diese Aufführung dramatisiert die Differenziale, die zwischen den Frauen* damals und heute, hier und dort noch nicht ausgedrückt sind. Das (kritische) In-Beziehung-Setzen – und sei es mit dem eigenen Ich vor 40 Jahren – bringt die mediale Individuation des Films hervor. Es ist die Relation und der Prozess selbst, das was in der zeiträumlichen Spannung zwischen damals und heute im Verlesen und Kommentieren des Briefes erscheint, was sich als Filmproduktion als Individuation in der Zeit beschreiben lässt. Diese Individuation ist eine genuin mediale: ein (Aussage-)Gefüge aus Körpern, Milieus, Sprechakten und Kamera. Selbst wenn die Frauen* ihre Biografien vergleichen und viele Ähnlichkeiten auffinden, sei es durch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Erfahrungen sexueller Gewalt, Rassismus, die Erfahrung, mit dem Fahrrad auf der Straße unterwegs zu sein und ständig angerufen zu werden oder ökonomische Selbstständigkeit zu erkämpfen, ist es niemals exakt dieselbe Erfahrung, die sie machen. Es mag eine ähnliche oder gleiche sein – die Interpretation variiert jedoch zuweilen radikal.
Die Differenz wird hier als zeitliche verstanden, als Dissens wie als Aneignung, als Konflikt wie als affirmative Differenz – immer jedoch wird auch so Differenz an und für sich im Film produziert. Diese „Differenz an sich selbst“ (Deleuze 2007: 49–98) ist es, die Deleuze in der Wiederholung hervorgetrieben wissen will und diese Wiederholung dramatisiert YOURS IN SISTERHOOD, indem die serielle Anordnung eine „Differenzierung der Differenzierung“ (Deleuze 2007: 275) zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzeugt und damit ein zeitliches Problemfeld für weitere Individuationen schafft. Der Prozess der Individuation löst die Probleme, die das Milieu bereitstellt. Das Problem ist eine Diskrepanz in der Differentiation des Milieus (ebd.: 278), die Prozesse nach sich zieht, um diese zu lösen. Das Problem ist somit ein Potenzial, welches eine Lösung sucht, indem Spannungen ausgeglichen werden (Simondon 2007: 31, Deleuze 2003b: 129). Dabei wird keine Harmonie angestrebt, sondern eine Stabilität jenseits von Instabilität und Stabilität. Und dies ist für die De-essentialisierung von Differenz zentral und von Deleuze sehr eng in Dialog mit einer Individuation gedacht, die nicht vom Individuum Ausgang nimmt: Nicht in Bezug auf etwas wird differenziert, Differenz und damit Differenzierung beschreiben die Prozesse des Werdens in Bezug auf ein Problemfeld und nicht in Bezug auf eine Identität. Für die mediale Auseinandersetzung mit Feminismus scheint zentral, dass im Ausdruck ein performativer, aktualisierender und expressiver Akt liegt, der nicht das ausdrückt, was bereits besteht (eine Identität und dann eine zweite, zum Vergleich), sondern die Medialität dieses Unterfangens ernst nimmt: eine filmische Trans/Individuation, die im Ausloten der Potenziale des Films liegt, Öffentlichkeiten herzustellen und damit entlang dieser Teilung organisierte Geschlechterverhältnisse zu befragen. Lusztig exponiert hier also nicht die Vielfalt der individuellen Differenzen im Sinne einer Bestandsaufnahme, sie inszeniert und dramatisiert die Frage unserer Zeit als Individuationen 6: Die Frage der Differenz (Deleuze 2003a) als Befragung der Grenzen des Subjekts des Feminismus und damit die Dekonstruktion der Handlungsmacht des selbst/identischen Subjekts, wie es allerorten angerufen wird.7
In YOURS IN SISTERHOOD konstituiert sich ein filmisches Kollektiv, welches nicht aus einer Ansammlung von Individuen, sondern aus Prozessen der kollektiven Individuation als Exponierung von Differenzen in der Montage zwischen Zeiten und Orten besteht.8
Ein weiteres Problemfeld betrifft so auch die Räume, die Differenzen zwischen Frauen* in einer Zeit, der aktuellen. In YOURS IN SISTERHOOD fällt auf, dass die shooting locations häufig durch Außenräume charakterisierbar sind: Drive-Ins, Tankstellen, Plätze, Gärten, die halb privat und halb öffentlich sind. Es sind überwiegend öffentliche Orte, an denen jedoch zunächst keine dialogische Räumlichkeit stattfindet: „we are bad at public spaces“ (Lusztig/Lazig 2018: o.S.), so Lusztig über ihre Drehorte.
Die Trennung öffentlich/privat ist für das Geschlechterverhältnis konstitutiv: Institutionelle Politik, Arbeit, Produktion und Reproduktion lassen sich historisch und aktuell als vergeschlechtlicht und vergeschlechtlichend verstehen. Lusztig eignet sich hier mit dem entstehenden Frauen*kollektiv eine andere Form der Öffentlichkeit an. Sie führt nicht nur die Briefe und deren Belange einer Öffentlichkeit zu, sondern porträtiert auch die Orte, von denen aus diese gesprochen werden und geschrieben wurden.
Das Milieu bedeutet nicht nur ein soziales Milieu, welches die Sprecher*innen in der sozialen Welt verortet. Die meisten Leser*innen stammen aus dem mittleren Westen, aus dem ‚fly over country‘ – aus der sogenannten Peripherie, in welcher Feminismus in der öffentlichen Wahrnehmung nicht stattfand. Die kleinstädtisch geprägten Lebensrealitäten machen auf Feminismen aufmerksam, die in den Briefen als Einspruch gegenüber metropolitanen Öffentlichkeiten wahrgenommen werden wollen. In der Inszenierung dieser Räume, häufig Durchgangsräume, macht sie auf das Fehlen eines Diskurses aufmerksam, den sie zugleich mit dem Verlesen der Briefe inszeniert. Dadurch macht sich das Medium als solches sichtbar, wie es die essenzielle Funktion erfüllt, nicht nur Räume und Menschen zu verbinden, gleichsam in der Logik des Vermittelns, sondern folgt der Logik des Milieus: der konstitutiven Bildung eines Kollektivs, dem die Kamera nicht äußerlich ist (Deleuze 1993). Die Akte des Lesens und Spekulierens – welchen Bezug habe ich zu diesem Brief? – lassen sich so vor dem Hintergrund einer medialen und zugleich menschlichen Trans/Individuation verstehen: Ein Film entsteht mit den Sprechakten, für den Film wird gesprochen, aber dabei finden auch neue Selbstbezüge statt, die sich ohne Film nicht ereignet hätten.9
Neben der für das Problemfeld konstitutiven Zeitlichkeit, die sich als Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart verstehen lässt, in welcher in der Wiederholung eine neue Zeitlichkeit stattfindet – jene der Zukünftigkeit neuer Trans/Individuationen – operiert auch der Raum als unabgeschlossen und prozessual. Indem Lusztig uns in einem immer wieder ähnlichen Set-up Differenzen präsentiert, werden diese als Milieu neuer Individuationen exponiert. Die Lösung dieser ist nicht die Einebnung der Differenzen, sondern die Bildung neuer Differenzen, eine Bejahung von Differenz, dem Dissens und dem Widerspruch: „I wonder what she saw in this issue“, fragt eine junge Frau*, die sich in New York gegenüber einem Brief positioniert. Da sie im Gegensatz zu dessen Autorin, die sich für die gelungene Repräsentation afroamerikanischer Frauen* bei Ms. bedankt, aus eigener Erfahrung eher kritisch gegenüber der Repräsentation von Afroamerikanerinnen in hauptsächlich weißen Medien ist, setzt sie sich mit einer fragenden Diskrepanz in Beziehung zu einer affirmativen Position, ohne jedoch die Position der Schreiberin des Briefes einfach abzulehnen.
Die Frauen* verorten sich in Bezug auf Probleme und differenzieren diese weiter. Es handelt sich hier um ein „differentiiertes“ (Deleuze) mediales Milieu, welches Lusztig in ihrem Set-up bereitstellt. Gerade darin macht das Medium auf seine konstitutive Rolle für diese Trans/Individuationen aufmerksam. Das direkte Sprechen in die Kamera ist deutlich künstlich, es durchbricht die vierte Wand, fungiert als direkte Ansprache und öffnet aktuelle Orte als virtuelle Problemfelder: zu einem inneren Außen oder äußeren Innen. Auch hier findet eine Transindividuation durch das Medium statt: Die Verhandlung von Differenz wird zu einem Milieu, welches Differenz nicht als Supplement einer Wesenheit denkt, sondern Differenzierung als Individuation begreift. In diese Prozessualität trägt sich auch das Medium Film – die Produktion des Films – nicht äußerlich ein, sondern ist ihm immanent.10
Lusztigs Arbeit versteht sich als eine geografische und soziale Bewegung, eine feministische Infrastruktur, die sich individuiert: „a big lose, geographically expansive conversation“ (Lusztig/Leger 2018: o.S.), die Frauen* miteinander über Zeiten und Räume in Bezug setzt und auch dem Publikum Probleme präsentiert, die zu neuen Trans/Individuationen führen können. Die Frage der Ansprache und der Affizierung verkompliziert die Ästhetik der Arbeit und fügt eine vierte Dimension ein – jene der Affizierung des Publikums. Diese ist als Anstoß für die Bildung neuer Differenzierungen zu verstehen und nicht einfach im Außen des Films zu verorten, sondern unmittelbar Teil des Ereignisses der Bildung des Netzwerkes Film. „Nach dem Film“ ist somit nicht sekundär zu verstehen, sondern beginnt schon als Teil des Gefüges Film. Dies hat sicher auch mit der offenen Form der beiden hier besprochenen Filme zu tun, die die Frage nach Innen und Außen des Films stellen und so zu mögliche Installationen werden, die das Kinodispositiv von innen heraus überschreiten. Sie gestalten die Filme einerseits für die Konsumption in Netzwerkmedien (LONG STORY SHORT) oder als Installation in Museen (YOURS IN SISTERHOOD).
Diese Fragen nicht nur der Differenzen zwischen den Frauen* und zu sich selbst im Film, sondern auch gegenüber dem Publikum und seinen zahlreichen Differenzen werden schon in der Form beider Arbeiten gestellt. Denn beide Arbeiten adressieren die Zuschauenden direkt, indem sie in die Kamera schauen und sprechen: Sie denken sie mit – indem sie etwa die vierte Wand durchbrechen. Stellt man sich ein Screening im Museum vor, wird hier noch einmal eine andere, temporäre und öffentlichere Form der Rezeption erzeugt als im Kinodispositiv oder im Heimkino. Beide Arbeiten sind als Filme konzipiert, nehmen jedoch durch die oben beschriebene Form der seriellen Wiederholung auch ein mögliches Museumsdispositiv in den Blick bzw. wirkt diese Rezeptionsform in die Produktionsform der Filme zurück.
Die Vielheit der Rezeption wird gleichsam schon in der Form antizipiert: Gerade das Sich-in-Beziehung-Setzen in YOURS IN SISTERHOOD bringt neue Differenzen hervor, die sich in den Zuschauer*innenraum hinein verlängern. So wie die Vorleser*innen nicht als eine mimetische Abbildung der Schreiber*innen aus den 1970er Jahren fungieren und deren Meinungen reproduzieren, tun dies auch die Zuschauer*innen nicht, indem sie sich lediglich mit den Sprecher*innen identifizieren. Auch hier ist Differenz entscheidend, eine affirmative Abweichung, die sich zugleich sympathisierend und kritisch verortet und dennoch Neues zur artikulierten Problemposition hinzudenkt. Ebenso kann dies in der Rezeption geschehen. Rezeption stellt sich schon in YOURS IN SISTERHOOD aus, indem Briefe rezipiert werden.
Es artikuliert sich in der Ansprache durch die Vorleser*innen auch eine nichtpersönliche Affizierung zwischen den Schreiber*innen, Leser*innen und dem Publikum. In dieser Ansprache werden Affekte vermittelt, die nicht deckungsgleich mit Gefühlen gegenüber den Meinungen und Positionen in den Briefen, sondern eng mit Differenzierungen verbunden ohne eine Differenz als solche zu vermitteln sind.
Diese Affizierung lässt sich als eine Verkettung von Transduktionen beschreiben (Manning 2013: 26f): Signale, die Ebenen durchqueren und diese dabei in-formieren (Simondon 2007: 40f.). Es übertragen sich Potenziale von Schreiber*in zu Vorleser*in, aber auch von Vorleser*in zu Rezipient*in und vom Brief zu Rezipient*in. Affekt wird hier im Sinne eines Potenzials verstanden, welches nicht eine soziokulturelle Emotion von Personen im Film zu den Rezipierenden überträgt, sondern autonom gegenüber dieser operiert (Massumi 2002). Die Affizierung mobilisiert zunächst ein noch nicht näher charakterisiertes Potenzial, welches sich innerhalb, unterhalb und oberhalb von Subjektivierungen verlaufenden Prozessen der Individuation entfaltet (die Probleme „löst“, in der Terminologie Simondons). Anders gesagt: Affekte übertragen sich nicht als solche, sondern lösen unvorhersehbare Prozesse der Individuation aus (Massumi 2018: 40), weil sie Milieus für Differenzierungsprozesse erzeugen.11 Die Partizipation des Individuums am Präindividuellen des Affekts zieht die Logik einer gleichzeitigen Individuation und Transindividuation nach sich. Was sich hier als Transduktion ereignet, ist auch eine Ontogenese zahlreicher „Engenderings“ (Manning 2007) nicht nur im zeiträumlichen Problemfeld inden Filmen, sondern auch im affektiven Milieu des Films. In dieser Dynamik muss wiederum Simondons Kritik des Hylomorphismus auch für die Rezeption Anwendung finden: Affekte beschreiben nicht unmittelbare Übertragungen, sondern finden in und als filmische Akte der Medialisierung statt (Bee 2018). Die Zuschauer*innen werden nicht geformt durch Impulse und Inhalte des Films, sie – ihre Körper, ihr Bewusstsein, ihre je ihnen individuell eigene Rezeptivität – verwirklichen die Potenziale im Zwischenraum der Differenzen (ihren energetischen Diskrepanzen) unvorhersehbar. Sie sind nicht einfach individuell, sondern individuierend, als in sich und auf sich selbst bezogene, intensivierende Prozesse der Emergenz neuer Affekte und Differenzen.12
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