Zu Guido Kirstens „Filmischer Realismus“, Schüren: Marburg 2013
Schaut man heute einen Film des italienischen Neorealismus, dann weiß man meist um die Innovationen, die diese Bewegung narrativ, bildästhetisch und filmproduktionell auszeichnen, etwa den häufigen Einsatz von Laiendarstellerinnen, den Tatsachenbezug, das Episodenhafte, die Sozialkritik und anderes mehr, und wie sich die Filme vom herrschenden Filmduktus ihrer Zeit abhoben. Man weiß vielleicht auch, dass der Neorealismus filmhistorischer Bezugspunkt schlechthin für filmischen Realismus wurde. Allein, heute stellt sich nur ein geringer Effekt ein, jene Filme der 1940er, 50er Jahre unter dem Terminus ‚realistisch’ wahrzunehmen. Dies mag die historische Distanz zur damaligen Lebenswirklichkeit machen, dies macht vor allem die Geschichtlichkeit der filmischen Mittel selbst. Mit Frieda Grafe kann man deshalb formulieren: „Weshalb verbrauchen Kinorealismen sich so schnell“ (Grafe 1979: S. 45)?
Die Frage nach dem Gehalt des Realismus, die eine der wichtigsten filmtheoriehistorischen Auseinandersetzungen darstellt, treibt Guido Kirstens Studie Filmischer Realismus um. Sehr kenntnisreich und detailliert befasst sich der Autor mit der Geschichte des filmischen Realismus, die – um es mit Bazin zu sagen – tatsächlich eine Geschichte der Realismen ist. Das Buch zeichnet sich vor allem durch das Bestreben aus, eine Begriffsgeschichte des filmischen Realismus aufzuarbeiten, die deren Unschärfen ausräumt. Die ersten beiden Kapitel der dreiteiligen Arbeit unterscheiden daher zunächst den „Realismus des Films“ und den „Realismus im Film“. Beide Felder müssen laut Kirsten gesondert betrachtet werden, sind jedoch gleichsam als „Wahrnehmungsrealismus“ und als ästhetischer Realismus miteinander verbunden (Kirsten 2013: S. 87).
Bezogen auf die filmontologische Ebene widmet sich Kirsten den in der Filmtheorie prominenten Konzepten von Indexikalität und Realitätseindruck. Insbesondere die eingehende Lektüre von Peirces Zeichentheorie ist eine wichtige und überzeugende Intervention, weil sie sich gegen deren zum großen Teil reduktive Aneignung durch die Filmtheorie richtet; Kirsten hingegen insistiert bei Peirce auf dessen Begriff des Interpretanten, nämlich den Aspekt der „Verwendungsweise“, mit der kein stabiles Verhältnis von Zeichen und Objekt vorherrscht, sondern es immer je anders gefasst und darin verändert wird. (Vgl. ebd.: S. 52.)
Zeichnet sich hierin schon Kirstens insgesamt rezeptionstheoretische Orientierung ab, wird dies im Umgang mit dem „Realismus im Film“ noch deutlicher. Die Arbeit leistet kritische Lektüren klassischer Realismustheorien (André Bazin; Ideologiekritik/Poststrukturalismus; Neoformalismus), die sich gegen deren werkzentrierte Perspektiven richten. Dennoch ist hier der Kritik an einer Inkohärenz des Realismus-Begriffs bei Bazin, der zu dessen mangelnder „Operationalisierbarkeit“ (ebd.: S. 109) führe, mit Vorbehalt zu begegnen. Es zeigt sich, dass die Ausrichtung von Kirstens Studie vor allem an einer Klärung des methodischen Werkzeugs der Filmwissenschaft interessiert ist, womit jedoch oszillierende Schreibweisen zu eindeutig hinsichtlich fehlender begrifflicher Schärfe klassifiziert werden. Um ein im Buch nicht vorkommendes Beispiel zu erwähnen: Siegfried Kracauer wählt zu Beginn seiner Theorie des Films ein Sammelsurium vermeintlicher Synonyme für einen „Realismus des Films“: „Physische Realität wird im folgenden auch ‚materielle Realität’ oder ‚physische Existenz’ oder ‚Wirklichkeit’ oder einfach ‚Natur’ genannt werden. Eine andere passende Bezeichnung mag ‚Kamera-Realität’ sein. Schließlich empfiehlt sich noch der Ausdruck ‚Leben’ [...].“ (Kracauer 1960: S. 55) Könnte man Kracauer hier unzulässige Gleichsetzungen vorhalten, scheint es tauglicher, die Textpassage als Geste zu lesen, die etwas nicht auf den Begriff, nicht in den Griff kriegen will, als eine Geste, die wissenschaftliche Begriffsschärfe stutzig macht, um stattdessen dem Film etwas Inkommensurables zu bewahren. Deswegen ist es auch bei Bazin sinnvoller, von „Artefakten seiner eigenen realistischen ‚Lektüre’“ (Kirsten 2013: S. 112) zu sprechen, wie es Kirsten in Bezug auf dessen vielgestaltige Rede vom Realismus schließlich doch tut. Dies heißt, Bazins Verwendungen von „Realismus“ in ihren Schattierungen, auch etwaigen Widersprüchlichkeiten anzuerkennen und diese als Ausdruck einer singulären Erkenntnisform zu lesen, die etwa mit Kracauer nicht zuletzt das prekäre historische Moment, nämlich die Nachkriegszeit, teilt.
Im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme und Durcharbeitung des Realismus-Begriffs im Sinne seiner filmwissenschaftlichen Operationalisierbarkeit findet sich der zentrale Aspekt der Arbeit mit der Aneignung der Semiopragmatik, wie sie Roger Odin entwickelt. Denn Kirsten versucht gerade nicht eine wiederholte Stilgeschichte des filmischen Realismus zu schreiben. Vielmehr handelt es sich um eine Perspektive, die werkzentrierte Zirkelschlüsse von Stilmerkmalen vermeidet, sondern nach dem ‚Wie’ eines „realistischen Lektüremodus“ von Filmen (den Kirsten Odins allgemeinerem Modus der Fiktionalisierung subsumiert), d. h. nach der Wechselbewegung von Film und Zuschauerinnen fragt. Wo es Filmen möglich ist, eine realistische Lesart zu stimulieren oder umgekehrt zu blockieren (vgl. Kirsten 2013: S. 140), es aber nicht um einen klar umrissenen Korpus an Filmen geht, die dem Realismus zugerechnet werden können, ist es – so betont Kirsten – immer auch möglich (bzw. es passiert unablässig) bei ein- und demselben Film in andere Rezeptionsmodi zu wechseln, etwa einen dokumentarisierenden oder ästhetisierenden.
Grundlegende Merkmale einen realistischen Lektüremodus hervorkitzelnder Filme sind eine Diegese, die eine „strukturelle Homologie zwischen den Vorstellungen von der wirklichen und der fiktionalen Welt“ (ebd: S. 164) stiftet und eine Narration, die zu „’offenere[n]’ Plotstrukturen“ (ebd.: S. 167) funktionslosen Details und „’Leerhandlungen’“ (ebd.: S. 172) tendiert, also – mit dem Verweis auf Roland Barthes – „Wirklichkeitseffekte“ produziert. Für solche filmtextinterne Markierungen des Realismus, die ihrerseits historisch variabel sind, gilt, dass sie „ostentativ“ sind, zur Schau gestellt werden: „Ein realistischer Film zeigt nicht nur ein Geschehen, sondern stellt in diesem Akt simultan auch die realistische Weise des Zeigens [...] aus.“ (Ebd.: S. 181)
Jenen internen Faktoren werden filmtextexterne Faktoren zur Seite gestellt, welche die Zuschreibung eines filmischen Realismus ko-etablieren: durch Paratexte wie etwa Manifeste, Filmkritiken, Plakate, Trailer und durch Aufführungskontexte (vgl. ebd.: S. 140). Im dritten Teil der Arbeit, die mit präzisen Darstellungen und Lektüren von Filmen aufwartet, zeigt sich diese Wichtigkeit von um den Film gruppierten Artefakten zur Etablierung von „Realismus“. Werden zwar auch in den ersten beiden Teilen des Buchs Filme in die Argumentation einbezogen, widmet sich der dritte dezidiert den „historischen Regimen“ des filmischen Realismus: Neben dem italienischen Neorealismus auch dem Naturalismus in französischen Filmen der 1910er Jahre und dem zeitgenössischen rumänischen Kino. Auffallend ist, dass es im Kontext des Realismus eine Kontinuität nationalkinematografischer Strukturen zu geben scheint (wozu auch etwa die so genannte Berliner Schule zählen darf), was im Buch allerdings nicht ausgelotet wird. Was den Filmteil u. a. stark macht, ist der kluge Einbezug der filmtextexternen Faktoren, der Diskursfelder des Realismus, seiner kinokulturellen Schauplätze. Die versteht sich nicht als skeptische Relativierung filmischer Realismen, sondern als Aufarbeitung seiner historisch je spezifischen Formationen.
Kirstens Erkenntnisinteresse besteht so nicht allein im Sortieren mäandernder Realismus-Begriffe der Filmgeschichte; das Buch nimmt sich der Rede vom Realismus noch einmal an, um – mittels der Semiopragmatik – die Qualitäten eines realistischen Wahrnehmungs- und Lektüremodus’ zu unterstreichen, der sich mit der Ideologiekritik der 1970er nicht gemein macht. Stattdessen wendet sich das Buch richtigerweise gegen den Vorwurf der Naivität eines realistischen Lektüremodus (vgl. Kirsten 2013: S. 178). Dies adressiert nicht zuletzt Filmkritik und Filmwissenschaft, denen Kirsten attestiert, sie würden mitunter „eine gewisse Distanz zum diegetischen Geschehen“ einnehmen und „sich gegen die in den Filmen angelegten Empathisierungs- und Kritikpotenziale“ (ebd.: S. 281) immunisieren. Bei aller Wissenschaftlichkeit und Begriffsarbeit wird so ein auch affektpolitisiertes Schreiben über Film gefordert.
Frieda Grafe (1979) „Realismus ist immer Neo-, Sur-, Super-, Hyper-. Sehen mit fotografischen Apparaten", in: dies., Film / Geschichte, Berlin 2004, S. 45-53.
Guido Kirsten (2013) Filmischer Realismus. Marburg.
Siegfried Kracauer (1960) Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1985.